Verbissen umklammerte Inola den Steuerknüppel. Das hatte sie sich eindeutig anders vorgestellt. Der Eintritt in die Atmosphäre wurde begleitet von einer Reihe von Turbulenzen, die sie so noch nie erlebt hatte. Jetzt machte sich ihre fehlende Pilotenausbildung bemerkbar. Warum nur hatten ihre Eltern ihr nicht mehr Flugstunden erlaubt? Sie presste die Kiefer aufeinander und atmete hörbar durch die Nase aus.
„Brech ab", winselte Shiye auf dem Sitz neben ihr. Die Finger tief in das Polster vergraben, starrte er auf den sich immer schneller nähernden Erdboden.
„Ich würd ja gerne, aber dafür ist es zu spät." Sie verfluchte sich innerlich für die Idee, selbst den Anflug zu übernehmen. Wieso hatte sie sich nicht von ihrem Onkel auf dem Boden absetzen lassen, wie er es ihnen angeboten hatte? Immerhin hatte er ein Raumschiff von einem explodierenden Mutterschiff der Chonsaner weggelenkt und allgemein weitaus mehr Erfahrung als sie. Aber nein, sie hatte allen beweisen wollen, wie geschickt sie war. Was gäbe sie darum, jetzt mit Oo-Wa-Tie auf dem Sofa zu sitzen und seinen Erläuterungen über die politischen Ränkespiele der Kategorie neun Planeten zuzuhören!
„Wir sind sowas von tot", wimmerte ihr Bruder. „Das überleben wir niemals."
„Du könntest ruhig ein mehr Vertrauen in meine Flugkünste zeigen", fauchte sie und riss den Steuerknüppel herum. Die Bäume, deren Wipfel erst wie grüne Punkte ausgesehen hatten, streiften den Bauch des Shuttles. Schweiß brach ihr aus, als ihr Transportgerät einen Looping in der Luft vollführte, nur um gleich darauf wieder ins Trudeln zu geraten.
„Mayday, Mayday." Shiye umklammerte mit beiden Händen das Funkgerät. „Wir brauchen Hilfe. Hört ihr mich?" Es knackte und rauschte in der Leitung. Ein unheimliches Knistern, doch keine Antwort vom Raumschiff der Garde.
Inolas Nackenhaare stellten sich auf. Erneut schrammte das Shuttle über Baumkronen hinweg. Metall riss kreischend. „Versuch den Notschalter", schrie sie ihrem Bruder über den Lärm hinweg zu, während sie um die Kontrolle kämpfte. Er schlug auf den Knopf und sie betete, dass wenigstens das Signal durchkam, sonst saßen sie auf dem Planeten fest. Denn dass ihr Transportfahrzeug die unweigerlich folgende Landung ohne großen Schaden überstand, bezweifelte sie. Zurück ins All war ebenfalls keine Option. Der Rumpf war aufgerissen. Vermutlich waren Leitungen beschädigt. Das würde zumindest erklären, warum die Steuerung zwischendurch aussetzte.
Inola atmete tief durch. Sie durfte sich nichts anmerken lassen, um ihren Bruder nicht noch mehr in Panik zu versetzen. Sie benötigten jetzt beide einen kühlen Kopf. Bis Niyol und die Jungs bemerkten, dass hier unten etwas nicht stimmte, konnten Tage vergehen. Oder die vier Wochen, die sie zur Erkundung des Dschungels gewilligt bekommen hatten. Unter größter Kraftanstrengung schaffte sie es, das Shuttle abzubremsen und in einen sanften Gleitflug übergehen zu lassen.
Rauschen drang aus dem Funkgerät. Nicht ein Hinweis, dass man ihren Notruf empfangen hatte, kam zu ihnen durch. Inola ließ den Blick über die Instrumententafel gleiten. Unterschiedliche Lämpchen flackerten auf und erloschen wieder. Wie in einer riesigen Welle leuchtete alles einmal auf und erstarb. Dafür kehrte das unheilvolle Knistern zurück. „Deckung!", schrie sie ihren Bruder an und ließ abrupt den Steuerknüppel los. Gerade noch rechtzeitig, bevor Funken über die gesamte Breite der Bedientafel sprühten. Es roch nach angekokeltem Plastik. Inola verzog das Gesicht. Ihre feinen Ohren nahmen wahr, wie sich kleine Feuer durch die Kabellage fraßen. Sie mussten schleunigst hier raus, wenn sie nicht an den giftigen Gasen ersticken wollten. Oder sie mussten irgendwie an ihre Helme kommen, die weiter hinten verstaut waren.
Das Shuttle kippte zur Seite weg und ging in einen steilen Sinkflug über. „Wir schmieren ab", rief Shiye, seine Stimme überschlug sich. Seine Farbe schien von Hellgrau zu einem schmutzigen Weiß zu wechseln, so bleich war er.
DU LIEST GERADE
Der Kenmerer
FantasyErwartungen, Erwartungen, Erwartungen. Diese kennt Inola zur Genüge. Ihre Eltern, ihr Lehrer und alle Bewohner ihres Planeten erwarten von ihr, dass sie als erstes Alphaweibchen seit Generationen in die Fußstapfen ihres Vaters tritt. Doch fragt jema...