Einige Tage später wurde sie von einem Grashalm geweckt, der sie an ihrer Stirn kitzelte. „Lass das, Shiye", murrte sie und schlug nach seiner Hand. Stattdessen traf sie lange stabile Schnurrhaare und ihr drang der penetrante Geruch eines fremden Alphamännchens in die Nase. Fauchend fuhr sie von ihrem Schlafplatz hoch. Ihre Kleidung riss und rutschte von ihren wachsenden Muskeln zu Boden. Kaum hatte sie sich gewandelt, fiel ihr Blick auf den Ruhestörer. Giftig gelbe Augen, die sie raubtierhaft anstarrten. Unregelmäßige schwarze Flecken auf braunem Fell, dass am Bauch und an den Innenseiten der Beine ins Gelblich-Weiße überging. Riesige Pfoten, die wie ihre mit scharfen Krallen versehen waren. Ein Kenmerer. Was hatte der hier verloren?
Inola stieß ein falsetto-artiges Fauchen aus, das der Fremde seinerseits mit einem Knurren beantwortete. Er fing an, sie zu umrunden. Sie ließ ihn keinen Moment, nicht mal für einen Wimpernschlag aus den Augen. Dabei bemerkte sie die uniformierten Kenmerer in ihrer humanoiden Form, die Plasmapistolen in der Hand hielten. Noch waren die Läufe gen Boden gerichtet, doch würde das so bleiben? Kälte fuhr ihr direkt ins Herz, lähmte kurz ihre Atmung. Wo steckte Shiye? Was hatten die Mistkerle mit ihrem Bruder angestellt? Hektisch sah sie sich nach ihm um.
Er stand einige Schritte entfernt bei einem der riesigen Bäume. Ein Feind – größer und breiter als ihr Bruder – hatte beide Arme um ihn geschlungen und hinderte ihn daran, ihr zu Hilfe zu kommen. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er sie und den hinterlistigen Leoparden. „Pass auf!"
Inola wich knurrend aus, spürte nur den Lufthauch, als das fremde Männchen sie knapp verfehlte. Was für ein Feigling, der ein Weibchen von hinten angriff! Sie fuhr herum, schlug mit ausgefahrenen Krallen nach ihm. Er brachte sich mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit. Er senkte den Kopf und entblößte die Fangzähne. Wieder umrundete er sie, doch dieses Mal ließ sie sich nicht durch die Sorge um Shiye ablenken. Wenn du eine Möglichkeit dazu siehst, hau ab und lass mich zurück. Die scheinen mehr an mir interessiert zu sein, teilte sie ihm per Gedankenübertragung mit. Sie roch seine Verzweiflung, die der Wind zu ihr hinüber trug. Keine Widerworte, Brüderchen. Du musst entkommen und irgendwie die Garde verständigen. Vermutlich leiten sie eh gerade den Landeanflug ein. Weil die Drohne, die sie in den vergangenen Tagen zwischenzeitlich zwischen den Blattern hatten aufblitzen sehen, sie mit Sicherheit schon in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Diese verflixten Kenmerer würden bald den Hintern versohlt bekommen. Allen voran der lästige Alpha, der flehmend Inolas Geruch einsog. Zu ihrer Erleichterung war sie gerade nicht rollig. Obendrein hatte sie einige Injektoren aus dem Shuttle mitgenommen, die eine Rolligkeit verhindern würden. Sie brauchte die Trottel nur dazu überreden, die Taschen mitzunehmen, die jetzt einsam im Gras lagen.
Erneut griff er sie an. Mit einer Pfote verpasste er ihr einen Klaps auf die Flanke. Sie brummte genervt. Der Alpha spielte mit ihr, setzte seine Krallen nicht ein. Blitzschnell wandte sie sich ihm zu und gab ihm eine Ohrfeige. Blut lief in drei dünnen Rinnsalen aus den Kratzern, mit denen sie sein Gesicht verziert hatte.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du sie im Schlaf hättest überwältigen sollen", kommentierte der Kenmerer, der Shiye fest im Griff hatte, ihre Aktion. „Basterianerweibchen sind selten zu Scherzen aufgelegt."
„Die verstehen bei den Basterianern sowieso keinen Spaß", mischte sich ein weiterer Feind ein. „Dafür tragen sie die Nase zu hoch, weil sie doch so erfolgreich und als Volk der Kategorie zehn so unschlagbar sind. Oder sich zumindest dafür halten."
Inola knurrte. Dem würde sie auf jeden Fall mal die Krallen quer durchs Gesicht ziehen, sowie sie die Möglichkeit dazu bekam. Ein unerträglicher und ein selbstverliebter Kerl, stellte sie fest, als er weiter gegen sie ätzte. Wie ein Welpe hatte sie sich überrumpeln lassen. Sie sollte froh sein, dass sein Alpha sie noch nicht wie ein Paket verschnürt auf sein Raumschiff schleppte und sie mit nach Kenmara nahm. Es lief ihr bei den Worten eiskalt den Rücken entlang. Der Flug zum Heimatplanet der Leoparden bedeutete noch weitaus größere Schwierigkeiten als die, in denen sie jetzt steckten. Fauchend warf sie sich auf das Alphamännchen, das ebenfalls zum Sprung ansetzte. Gleichzeitig schlugen sie mit den Pfoten aufeinander ein, bevor sie einander wieder tänzelnd umrundeten.

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Der Kenmerer
FantasíaErwartungen, Erwartungen, Erwartungen. Diese kennt Inola zur Genüge. Ihre Eltern, ihr Lehrer und alle Bewohner ihres Planeten erwarten von ihr, dass sie als erstes Alphaweibchen seit Generationen in die Fußstapfen ihres Vaters tritt. Doch fragt jema...