Shiye lehnte den Kopf an das fremde Bett, vor dem er auf dem beheizten Metallboden des Quartiers saß. Der Beta hatte ihm zwar erlaubt, sich hinzulegen und in die Felle zu kuscheln – dessen Worte, begleitet von einem frechen Augenzwinkern – aber er traute dem Frieden nicht so recht. Wieso behandelte der Kenmerer ihn so zuvorkommend? Und was hatte der spielerische Biss zu bedeuten, mit dem der Leopard Inola aus dem Konzept gebracht hatte?
Er fuhr sich über die empfindliche Stelle am Halsansatz, erinnerte sich an den heißen Atem des Betas. An dessen festen Griff um seinen Bauch. Der durchtrainierte Körper an seinem Rücken. Der verlockende Geruch, der ihm in die Nase gestiegen war. Ein Schnurren hallte durch den Raum, wurde von den metallenen Wänden zurückgeworfen. Shiyes Augen weiteten sich. Schwärmte er für einen Feind? Das durfte nicht passieren!
Der Basterianer ließ den Blick durch das Quartier des Betas gleiten. Auf einem einzelnen Regalbrett standen altertümlich aussehende Bücher mit braunem Ledereinband. Shiye rappelte sich vom Boden auf und betrachtete die Buchrücken. Die Buchtitel waren auf Abedju geschrieben, der weithin bekannten Kunstsprache, die von den Völkern der Galaxie zur Verständigung genutzt wurde. Ein Titel weckte seine Neugierde. Geschichte der Kenmerer. Ob er darin etwas Brauchbares fand, das ihm und Inola zur Flucht verhalf? Er zog das Büchlein vorsichtig heraus und setzte sich zurück auf seinen Platz, den Rücken gegen das angenehm riechende Bett des Betas gelehnt. Er schlug es auf und fing an, zu lesen.
Unser Stammvater Kenmet entdeckte vor langer Zeit den Ursprung für die Wandlung der als Kategorie zehn bekannten Völker. Sie vermischten sich mit den Angehörigen einer Rasse, die auf einem Planeten hauste, der noch nicht einmal einen Namen trug. Armselige Kreaturen, die von Raumfahrt und technischen Errungenschaften keine Ahnung hatten. Menschen nannte man diese Unzivilisierten, die einander in Kriegen bis aufs Blut bekämpften. Nur, weil der Gegner etwas anders aussah, oder einen anderen Glauben hatte. Anuben, Basterianer, Chonsaner, Chenemer und allen voran die Thorianer erlaubten es nicht, dass auch andere Bewohner der Galaxie von diesen Lebewesen profitierten und ihren Genpool erweiterten. Doch die Schu – ein Volk von reisenden Händlern – fanden einen für sie profitablen Weg. Sie sammelten bei Besuchen an den Planeten die Verlorenen ein. Menschen, die in der Nacht orientierungslos allein unterwegs waren, und verkauften diese auf Schmugglermärkten. Versteckt vor den wachsamen Augen der selbsternannten Wächter.
Shiye ließ das Buch sinken. Für ihn hörte sich das verdächtig nach der Rechtfertigung von Sklaverei und Menschenhandel an. Er verzog das Gesicht angesichts der Zweideutigkeit des letzteren Begriffes. Bedeutete er auf der Erde einfach nur, dass Menschen mit ihren Artgenossen handelten und diese in Knechtschaft verkauften, bekam es für ihn als Angehöriger einer anderen Spezies noch eine völlig neue Bedeutung.
Kenmet reiste zu einer Vielzahl dieser Märkte und kaufte die vielversprechendsten Weibchen für seine stärksten und geschicktesten Krieger ein, die kräftige Welpen zeugten. Wurden die Menschenweibchen für weitere Würfe zu schwach, ersetzte unser Anführer sie mit neuen.
„Ich glaub, jetzt wird mir schlecht." Shiye klappte das Buch kopfschüttelnd zu.
„Weswegen? Kenmets Zuchtprogramm, durch das wir so stattliche Leoparden geworden sind?" Der Beta posierte bei der Tür wie ein Model für Männerunterwäsche auf Gangalon. Auf einer Hand ein Tablett mit diversen Schüsseln ausbalancierend, die andere lässig in die Seite gestemmt. „Ich dachte, wir könnten zusammen eine Kleinigkeit essen." Er lief zum Tisch und stellte das Mitgebrachte ab. „Setz dich doch bitte. Ich wusste nicht, was du magst, und habe daher unterschiedliche Speisen ausgesucht."
Der Duft von frischem Fleisch stieg Shiye in die Nase. Ebenso erschnüffelte er gedünstetes Gemüse und gemischtes Obst. Sein Magen knurrte prompt. Zögernd lief er auf einen Stuhl zu, aber erst, nachdem der stattliche Beta sich gesetzt hatte.
DU LIEST GERADE
Der Kenmerer
FantasyErwartungen, Erwartungen, Erwartungen. Diese kennt Inola zur Genüge. Ihre Eltern, ihr Lehrer und alle Bewohner ihres Planeten erwarten von ihr, dass sie als erstes Alphaweibchen seit Generationen in die Fußstapfen ihres Vaters tritt. Doch fragt jema...