Inola kuschelte sich schnurrend an ihren Bruder. Zur Abwechslung hatte Osteka ihn mal vorbeigebracht, statt ihn in der Bibliothek wie ein Paket abzuliefern. Der Beta hatte bedrückt gewirkt. Irgendetwas beschäftigte ihn. Ist etwas zwischen dir und Osteka vorgefallen?
Shiye schüttelte den Kopf. Er kam so von Ohitika zurück. Das Gespräch lief wohl nicht so, wie er es geplant hatte.
Sie überlegte kurz. Was hatten die zwei besprochen? Der Kenmerer hatte sie überrascht, als er über eine Gedankenverbindung zu ihr sprach. Niemals hätte sie erwartet, dass so etwas möglich war. Bei einem Familienmitglied wäre es etwas völlig anderes. Aber der Beta hatte Shiye nicht zu seinem Gefährten gemacht. Was für beide ein Todesurteil wäre. Zumindest auf diesem Planeten. Ein weiterer Punkt, den es bei ihrer Flucht zu bedenken galt. Sie musste einen Weg finden, Osteka mitzunehmen. Sie konnte ihn nicht zurücklassen, nach allem, was er für ihren Bruder tat. Seufzend schob sie den Gedanken zur Seite. Das war ein Problem für später. „Komm mal mit." Sie stand auf und lief zur Tür.
„Wo willst du hin?" Shiye folgte ihr stirnrunzelnd.
„Jemanden besuchen", erwiderte sie geheimnisvoll. Inola führte ihn zu den Gemächern von Ohitikas Mutter. Magaskawee würde sich zwar wundern, aber sie hatte sich so neugierig gezeigt, als die Basterianerin ihr von Shiye erzählte, dass sie ihn kurzerhand mitnahm. „Tägliches Wandeltraining", fügte sie grinsend hinzu.
„Seit wann darfst du dich so frei bewegen?" Shiye schaute sich verwundert um.
„Ich habe es einfach für mich beschlossen und Ohitika hat nichts dagegen gesagt. Seit ich mir die Hand verletzt hatte, ist er noch zugänglicher als vor der Kopfwunde, die nun mal seine Schuld war."
„Bald ist er derjenige, der dir aus der Hand frisst, Schwesterchen." Ihr Bruder schmunzelte, wurde gleich darauf wieder ernst. „Was empfindest du für ihn?"
„Nichts", erwiderte sie kurz angebunden.
„Sicher?" Shiye packte sie am Arm. „Ich habe dich schnurren gehört."
Inola seufzte. „Mein Raubtier hält ihn für einen geeigneten Partner, um Welpen großzuziehen. Weil er ebenfalls ein Alpha ist. Sie genießt seine Nähe, vor allem die seines Leoparden."
„Und das geht dir gegen den Strich." Sanft streichelte er ihr über die Wange.
„Natürlich geht es das. Ich kann es mir nicht erlauben, etwas Anderes als Hass für den Kerl zu empfinden, der uns hier gefangen hält. Da ist es egal, dass er uns beiden jetzt mehr erlaubt." Sie krümmte sich innerlich beim Klang ihrer verbitterten Stimme. Ihre Raubkatze fauchte leise. Sie sah in Ohitika ein Männchen, das starke Gene besaß. Jemand, der für kräftige und gesunde Nachfahren sorgen konnte. Doch der Kenmerer hatte recht. Es durfte keine Hybriden geben. Nicht auf Kenmara. Und ihr Platz war auf Gangalon, bei ihrem Volk. „Lass uns ein anderes Mal darüber reden", fuhr sie leise bittend fort. Ihr Bruder nickte nur. Erleichtert betätigte sie den Türöffner zu Magaskawees Räumlichkeiten.
Die Kenmererin sah von ihrem Datapad auf, welches ihr Sohn ihr vor einigen Tagen überlassen hatte. Sie wirkte weniger zerbrechlich. Der positive Einfluss des häufigen Wandelns. Denn auch Ohitika schaute bei ihr vorbei, um jeden Abend mit ihr zusammen die Form zu wechseln. „Das ist also dein Bruder." Sie nickte Shiye freundlich zu. Auch das hatte sich geändert. Sie war nicht mehr so ängstlich wie am Anfang von Inolas Besuchen.
„Ja, das ist Shiye." Die Basterianerin zog ihn mit sich zum Sofa. „Wir können uns heute zu dritt wandeln." Sie streifte ihre Kleidung an und hockte sich hin. Ihr Bruder und Magaskawee folgten ihrem Vorbild. Gleich darauf kuschelte Inola sich in ihrer Pantherform an Shiyes Panther. Zufrieden schnurrte sie, als er sein Gesicht an ihrem rieb. Was hatte sie dies vermisst! Ausgeglichen fing sie an, sein Fell in Ordnung zu bringen. Die Zeit verflog viel zu schnell für ihren Geschmack. Schon bald mussten sie sich zurück verwandeln, damit sie nicht von einer Dienerin, die das Mittagessen brachte, als Raubkatzen erwischt wurden.

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Der Kenmerer
FantasyErwartungen, Erwartungen, Erwartungen. Diese kennt Inola zur Genüge. Ihre Eltern, ihr Lehrer und alle Bewohner ihres Planeten erwarten von ihr, dass sie als erstes Alphaweibchen seit Generationen in die Fußstapfen ihres Vaters tritt. Doch fragt jema...