Shiye schaute unschlüssig zu Osteka. Hatte der Beta ihn in den vergangenen Tagen ein wenig in der Stadt herumgeführt – zu Zeiten, wo dort kaum Kenmerer unterwegs waren – oder hatte ihn in die Palastbibliothek gebracht, wenn er selbst etwas zu erledigen hatte, packte er jetzt einen Beutel mit Snacks. Shiye wusste nicht so recht, was er von der ungewohnten Situation halten sollte.
„Fürchtest du, dass ich dich entführe?", fragte Osteka mit einem frechen Grinsen auf den Lippen. „Keine Angst, ich möchte dir nur etwas zeigen."
„Hoffentlich weit weg von den anderen Kenmerern", brummte Shiye kaum hörbar. Die Blicke waren ihm unangenehm. Einige missbilligend, andere dagegen voller Hass. Und sie trafen nicht nur ihn, wie er überrascht festgestellt hatte.
Der Beta lachte leise. „Ich habe vor, Zeit mit dir zu verbringen, nicht mit meinen Artgenossen."
Shiyes Herz hüpfte vor Freude bei den Worten des Kenmerers, der ihn liebevoll musterte. Kaum, dass dieser ihm den Rücken zukehrte, sog er erneut prüfend die Luft ein. Nichts. Mutlos ließ er seine Schultern nach unten sacken. So gut konnte sich kein Männchen unter Kontrolle haben, wenn er mehr als Freundschaft empfände. Osteka sah ihn nur als Studienobjekt. Mit gesenktem Kopf trottete er dem Beta hinterher und sah erstaunt auf, als sie vor einem Gleiter hielten.
Der Kenmerer schmunzelte vergnügt. „Ich sagte dir doch, dass ich keine Zeit mit meinen Artgenossen verbringen möchte. Nur dafür müssen wir ein Stück fliegen." Er bemerkte Shiyes Zögern. „Komm schon, es wird dir gefallen."
Osteka steuerte den Gleiter raus aus der Stadt. Vorbei an einem Gelände, auf dem sich junge Leoparden vor einem langgestreckten mehrstöckigen Gebäude im Wandeln und im Kampf übten. „Eine Schule für Männchen", kommentierte der Kenmerer Shiyes fragenden Blick. „Ohne Ablenkung von Familie und Weibchen."
Und ohne die Geborgenheit, die Eltern und Geschwister mit sich brachten. Der Basterianer verstand nicht, weshalb man den Welpen ausgerechnet das entzog, was für ihre Entwicklung am wichtigsten war. Liebe und Zuneigung ließen die Jüngsten gedeihen und bereiteten sie darauf vor, ihren Planeten vor Bedrohungen zu verteidigen. Dass die Kenmerer dies nicht einsahen, war ihm schleierhaft. Vielleicht brauchte man ihnen nur zu zeigen, dass es auch anders ging. Schnell verwarf er wieder den Gedanken. Zu viel Hass und Missachtung für andere bestimmten ihren Alltag. Ein Volk, das seine Weibchen nicht ehrte, benötigte mehr als einen ausgezeichneten Lehrmeister. Ein wenig Überzeugungskraft reichte da nicht.
„Dort trainieren die Anwärter auf eine Anstellung als Wachposten für den Alpha." Osteka wies auf ein riesiges Trainingsareal, das von einem hohen Metallzaun umgeben war.
„Sieht eher wie ein Gefängnis aus", brummte Shiye. Verstimmt musterte er die Kenmerer, die dort gegeneinander antraten oder sich über einen Hindernisparcours kämpften. Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben, als ihm die Geschichte einfiel, wie seine Mutter Ahiga ausgetrickst hatte. Den widerwärtigen Chonsaner, der sich ihr aufgedrängt hatte. Er seufzte. Die Luna würde den hiesigen Alpha für seine Herrschaft und den Umgang mit Weibchen auseinandernehmen. Nicht einmal sein Vater würde sie davon abbringen können. Der würde vermutlich eher mitmischen und sein Weibchen mit aller Kraft unterstützen.
„Das sehen Teetonka und ich genauso", knurrte Osteka. „Ohitika musste für einige Monate hier trainieren, weil wir laut seinem Vater einen schlechten Einfluss auf ihn hatten. Er wurde danach härter, sah seltener nach seiner Mutter, die von ihrem Partner weggesperrt wurde."
„Partner kann man so etwas nicht nennen. In einer Partnerschaft sollten sich beide ergänzen. Gemeinsam ist man stärker. Man steht füreinander ein, beschützt sich gegenseitig. Wenn man Welpen hat, erzieht man sie zusammen. Euer System ist einfach nur falsch." Er schlug sich die Hand vor den Mund. Warum nur hatte er nicht seine Meinung für sich behalten? Jetzt stieß er den einzigen Verbündeten vor den Kopf, den seine Schwester und er auf Kenmara besaßen.

DU LIEST GERADE
Der Kenmerer
FantasyErwartungen, Erwartungen, Erwartungen. Diese kennt Inola zur Genüge. Ihre Eltern, ihr Lehrer und alle Bewohner ihres Planeten erwarten von ihr, dass sie als erstes Alphaweibchen seit Generationen in die Fußstapfen ihres Vaters tritt. Doch fragt jema...