Inola raste als Katze aus dem Regierungsgebäude ihres Vaters. Draußen angekommen wandelte sie sich, um als Panther ihren Weg fortzusetzen. Sie rannte durch die Straßen Keetoowahs. Die Bewohner der Stadt grüßten sie höflich oder schauten ihr verwundert hinterher. Sie ignorierte alle, die ihr begegneten, und eilte beharrlich ihrem Ziel entgegen. Bald schon verließ sie die asphaltierte Strecke und kürzte ab, indem sie über die mit unterschiedlichen Wildgräsern und duftenden Blumen bewachsenen Wiesen rannte. Ihre Pfoten trommelten auf dem weichen Boden, Insekten stiegen auf. Sie stürmte an ihrem Elternhaus vorbei zu dem verlockenden Pfad, der sie in den Dschungel führte. Erst unter dem kühlenden Blätterdach, das den Weg in ein angenehmes Halbdunkel tauchte, verlangsamte sie ihren Lauf. Zum Friedhof, den Verstorbenen ihr Leid klagen, oder zu ihrem geliebten Aussichtspunkt? Unschlüssig blieb sie bei der Weggabelung stehen. Wo konnte sie besser über die verzwickte Lage nachdenken? Seitdem ihr Großvater sie von dem Markt mitgenommen und dadurch von Ohitika getrennt hatte, spielte ihre Raubkatze verrückt. Das Pantherweibchen sehnte sich nach dem Leoparden, nach seinen Berührungen und seinem Schnurren.
Jemand näherte sich ihr. Das Trommeln von vier Pfoten verlangsamte nicht, doch sie sah sich nicht nach ihrem Häscher um. Ein schneeweißer Blitz schoss an ihr vorbei, streifte sie im Vorbeirennen. Sie nahm die Verfolgung auf, rannte ihrer Mutter hinterher, die hinauf zum Aussichtspunkt stürmte. Die Luna sprang mit einem gewaltigen Satz auf die von den Sonnenstrahlen erwärmte Steinplatte und streckte sich aus. Inola landete neben ihr, lehnte sich an den weißen Körper.
Ich spüre deine innere Unruhe. Was bedrückt dich, Kleines? Die Pantherdame wandte sich ihr zu, leckte ihr liebevoll über das Gesicht.
Waschen kann ich mich alleine, murrte die Tochter und versuchte, der rauen Zunge zu entgehen. Ich weiß einfach nicht, warum ich die ganze Zeit das Gefühl habe, dass mir etwas fehlt.
Etwas oder jemand?, hakte ihre Mutter nach.
Ich weiß es nicht. Inola setzte sich auf und wandelte sich zurück in ihre humanoide Form. „Es schien alles so perfekt zu laufen. Opa hat Shiye und mich befreit. Wir konnten Osteka mitnehmen, damit er auf Kenmara nicht länger in Lebensgefahr schwebt." Sie seufzte leise.
Nizhoni wandelte sich ebenfalls. „Osteka ist ein kluger, mitfühlender Junge. Er hat sofort gemerkt, dass dir der Bericht zu schwerfallen würde und hat es deshalb für dich übernommen."
„Er ist ein Beta. Er weiß, was seine Aufgaben sind." Inola legte den Kopf in den Nacken. „Meinst du, Papa erlaubt mir, Osteka zu meinem Beta zu machen? Dann wäre Shiye auch aus der Verantwortung raus, mich beschützen zu müssen."
„Hm, soweit ich weiß, gab es auf Gangalon noch nie einen Alpha, an dessen Seite ein Beta stand. Allerdings gab es vor mir auch sehr lange keine Luna mehr. Von einem weiblichen Anführer brauche ich wohl gar nicht erst anzufangen." Nizhoni starrte in die Ferne. „Ich glaube, du solltest die Entscheidung nicht von dem Willen deines Vaters abhängig machen. Für ihn ist es wichtiger, dass du dir selbst darüber klar wirst, was du möchtest. Dass du auf deinen Instinkt vertraust."
„Mein fehlender Instinkt hat uns erst in die Schwierigkeiten gebracht", knurrte Inola. „Nur meinetwegen hat Shiye in Gefahr geschwebt."
„Und nur deswegen hat er seinen Gefährten gefunden", ergänzte die Luna. „Es ist nicht alles schwarz oder weiß. Das Leben ist voller unterschiedlicher Farben. Ich glaubte einst, dass ich eine kleine graue Maus wäre, die keine Aufmerksamkeit verdiente. Die sich davor fürchtete, im Rampenlicht zu stehen. Und wie oft habe ich an der Seite deines Vaters zu unserem Volk gesprochen? Unzählige Male. Man wächst an seinen Aufgaben."
„Bei dir hört es sich so leicht an." Inola seufzte und ließ die Schultern rotieren. „Ich weiß im Moment einfach nicht, was richtig ist und was falsch. Treffe ich für mein Volk die besten Entscheidungen? Für meine Familie? Stelle ich mich gegen meine innere Raubkatze?"
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Der Kenmerer
FantasyErwartungen, Erwartungen, Erwartungen. Diese kennt Inola zur Genüge. Ihre Eltern, ihr Lehrer und alle Bewohner ihres Planeten erwarten von ihr, dass sie als erstes Alphaweibchen seit Generationen in die Fußstapfen ihres Vaters tritt. Doch fragt jema...