Sie blieben zwei weitere Tage in der Nähe des Wracks. Für den Fall, dass der Notruf zu der Garde durchgedrungen war. Doch weder die Chonsaner noch jemand, den Inola für den Absturz ihres Shuttles verantwortlich halten konnte, tauchten auf. Wenn es einen Störsender auf dem Planeten gab, wären die Schuldigen längst davon im Bilde, dass zwei Basterianer hier festsaßen. Dementsprechend wären sie an der Absturzstelle aufgetaucht, um nach dem Rechten zu sehen.
Je mehr Zeit verging, ohne dass sie einen Fremden erschnupperte oder hörte, desto überzeugter war sie davon, mit dem Shuttle in einen magnetischen Sturm geraten zu sein. Auch jetzt, als sie die Nase in die Luft hob und ihre Ohren spitzte, nahm sie nichts als das Rauschen des Windes und die Laute der Tiere und Vögel wahr. Sie zuckte mit den Achseln und packte die letzten Gebrauchsgegenstände in die Taschen.
Shiye testete unterdessen in kurzen Sprints, wie weit seine Verletzungen abgeheilt waren. „Meinetwegen können wir aufbrechen", rief er ihr vergnügt zu. Seine Laune hatte sich deutlich gebessert, nachdem er festgestellt hatte, dass ihnen hier keine Gefahr drohte und sie völlig allein waren.
Inola atmete tief durch. Immerhin nahm ihr Bruder es ihr nicht übel, dass er sich ihretwegen verletzt hatte. Shiye war nie nachtragend, wenn sie es recht betrachtete. Vielleicht mal traurig, von anderen enttäuscht. Meist zog er sich dann eine Weile zurück, bis er mit dem Thema abgeschlossen hatte. So anders als sie selbst. Wenn ihr jemand übel mitgespielt hatte, brauchte die Person sich nie wieder bei ihr blicken zu lassen. Feuer und Wasser, Tag und Nacht. Und doch immer füreinander da. Sie warf ihrem Bruder einen liebevollen Blick zu. „Ich trage vorläufig unsere Sachen. Dann kannst du dich noch ein wenig schonen. Ist wirklich alles restlos verheilt?"
„Oh, die große starke Alpha sorgt sich um ihre schwachen Untergebenen." Er verbeugte sich vor ihr und zwinkerte ihr verschmitzt zu. „Du willst nur, dass ich uns einen Pfad durch den Dschungel bahne und mir die Spinnen in die Haare krabbeln."
„Statt zu kreischen wie ein Mädchen, könntest du die Arachniden auch fressen, wenn dir eine zu nahe kommt." Sie streckte ihm die Zunge raus. Die letzten Schuldgefühle fielen von ihr ab. Mit ihrem Bruder herumzualbern hatte schon immer zu ihren bevorzugten Beschäftigungen gehört. Vor allem, wenn ihnen ihr Vater mal wieder Hausarrest verpasst hatte. Grundsätzlich nach einer ihrer glorreichen Ideen, bei der etwas schiefging. Wie nannte ihre Mutter sowas? Das Gesetz von Murphy. Wer auch immer das auf der Erde gewesen sein mochte.
„Ich könnte die Spinnen auch einsammeln, dazu eine Schlange suchen und für dich einen Schlangen-Spinnen-Eintopf kochen", schlug er vor.
„Bist du Furcht oder Angst?" Sie schaute ihn schmunzelnd an. „Ich bin auf jeden Fall Schrecken."
Er tat einen Augenblick so, als ob er angestrengt nachdachte. „Gute Frage. Zu schade, dass wir nicht Drillinge sind. Drei kleine Teufel."
„Wie Pech und Schwefel." Inola schüttelte den Kopf. „Ich glaube, unseren Eltern haben zwei kleine Teufel gereicht. Wenn ich bedenke, wie lange Mama mit der nächsten Schwangerschaft gewartet hat." Sie ließ ihre Gedanken zu ihren Geschwistern wandern. Ein Junge und ein Mädchen. Beide um einiges jünger als sie und Shiye. Und weniger umsorgt. Nicht, dass ihre Eltern sie nicht liebten, das Gegenteil war der Fall. Aber sie schienen weitaus geringer um deren Sicherheit besorgt zu sein. Eventuell, weil beide wahre Engel waren und nie etwas anstellten.
„Dabei sind sie so brav", sprach Shiye ihre Gedanken aus. „Da kann Mama sich auch mal zurücklehnen."
„Ich finde es nur unfair, dass sie auf die normale Schule gehen. Aber lassen wir das. Auf uns wartet ein Dschungel voller Abenteuer und Gefahren." Sie lief über das dichte Gras zum nahen Waldrand. „Kommst du?"

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Der Kenmerer
FantasyErwartungen, Erwartungen, Erwartungen. Diese kennt Inola zur Genüge. Ihre Eltern, ihr Lehrer und alle Bewohner ihres Planeten erwarten von ihr, dass sie als erstes Alphaweibchen seit Generationen in die Fußstapfen ihres Vaters tritt. Doch fragt jema...