Kapitel 25

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Inola atmete tief durch, als sie die Rampe hinunterlief. Endlich wieder zu Hause. Sie ließ den Blick umherwandern. Das Gelände vor ihr lag verlassen da. Nur ihr basterianischer Großvater wartete auf sie. Nichts Ungewöhnliches, wenn ihre Eltern das Volk über die Entführung im Dunkeln gelassen hatte. Irgendwie war sie auch froh, jetzt noch nicht dem strengen Blick ihres Vaters standhalten zu müssen. Sie hatte ihn enttäuscht. Wie ein tollpatschiger Welpe war sie auf Rettung angewiesen gewesen. Seufzend lief sie auf Wa-Ya-Ga-Da zu. Mit jedem Schritt bereitete es ihr mehr Mühe, die aufwallenden Tränen zurückzuhalten.

Der ältere schwarze Basterianer breitete lächelnd die Arme aus. „Willkommen zu Hause, Kleines. Wir haben uns Sorgen um euch gemacht." Sanft drückte er sie an sich.

Seine Worte und die Berührung zerstörten ihren letzten Rest Selbstbeherrschung. Schluchzend kuschelte sie sich an, nahm nur am Rande wahr, dass Shiye und Osteka zu ihnen traten.

„Dann bringe ich euch jetzt erstmal zu Ah-senos-te, damit er euch durchcheckt." Der ehemalige Alpha führte sie zu einem wartenden Gleiter und setzte sich hinters Steuer.

Inola sprang auf den Beifahrersitz, um ihrem Bruder und dessen Freund die Rückbank zu überlassen. Letzterer blieb unschlüssig stehen. „Nun steig schon ein, Osteka. Unser Arzt soll nur sicherstellen, dass wir gesund und munter sind. Dass ich nicht ..." Sie brach ab, schaffte es nicht, den Satz auszusprechen. Dank dem Beta war nichts passiert. Hätte dieser ihr nicht das Mittel gegen Rolligkeit gegeben, sähe es anders aus. Dann säße sie mit einem Welpen im Bauch in Ohitikas Gemächern und hätte der Alpha sie niemals zu dem Schmugglermarkt mitgenommen. Auf ewig eingesperrt mit ihm, ohne einen Hauch von Freiheit. So wie seine Mutter ein paar Räume weiter. Es tat Inola leid, dass sie Magaskawee nicht hatten mitnehmen können. Ohitika hatte es sogar befürwortet, doch sein Vater hatte es verboten. Dennoch machte sie sich Vorwürfe. Ein richtiges Alphaweibchen hätte auch das erreicht. Stumm starrte sie geradeaus. Ihr Vater würde enttäuscht sein.

Ihr Großvater interpretierte ihr Schweigen in eine andere Richtung. „Ah-senos-te wird sich als Erstes um dich kümmern. Wir bekommen das schon wieder hin." Er ließ kurz das Steuer los und streichelte ihr sanft über die Wange.

„Es ist alles in Ordnung", murmelte sie. „Osteka hat mir heimlich das Mittel gegen Rolligkeit gegeben. Shiye hatte ihm gesagt, weshalb wir die Injektoren mitgenommen hatten." Sie warf einen Blick über die Schulter zu dem Pärchen, das ebenso angespannt war wie sie. Ihr Bruder sorgte sich ebenfalls wegen ihres Vaters. Würde der Alpha so anstandslos akzeptieren, dass sein Sohn kein Interesse für Weibchen zeigte und stattdessen mit einem Kenmerer zu Hause auftauchte? Und für Osteka musste es noch schlimmer sein. Während der Reise hatte sie immer mal wieder Kontakt zu ihm gesucht, doch er hatte meist vor sich hingebrütet. Es war Hok'ee, der Inola schließlich gebeten hatte, dem Beta ein wenig Zeit zu gewähren, da dieser seinen Alpha verloren und dessen Weltbild einen gehörigen Knacks bekommen hatte.

Wa-Ya-Ga-Da räusperte sich. „Es geht nicht nur darum, wie es euch körperlich geht. Die Emotionen, die solch eine Entführung hervorruft, sollte man nicht unterschätzen. Ah-senos-te kann dir ein Mittel geben, falls du Probleme mit dem Schlafen hast. Außerdem wäre es gut, wenn du mit deiner Mutter über die Erlebnisse sprichst. Sie kann dir helfen."

„Mama? Wieso das denn?" Sie wandte den Blick zu ihrem Großvater, der den Gleiter sicher durch die Straßen von Keetoowah lenkte.

Er lachte leise, als er ihr Starren bemerkte. „Du weißt doch, dass sie erst von den Chonsanern und dann von deinem Vater entführt wurde. Meinst du wirklich, das war für sie immer einfach?"

Nachdenklich kaute Inola auf ihrer Lippe. Die Worte ihres Großvaters ergaben Sinn. Das harmonische Verhalten ihrer Eltern hatte sie immer glauben lassen, dass die zwei einander von Anfang an liebten. Oder dass ihre Mutter als Luna viel stärker war als sie selbst.

Der KenmererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt