19. - Tausend Tode

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Am nächsten Mittag brachte Lasse mich mit dem Auto unseres Vaters zurück zum
Flughafen. Die Fahrt mit ihm war ein wahrer Höllenritt. Kurzzeitig machte ich mir ernsthafte Sorgen, ob er es alleine zurück nach Hause schaffen würde.

Er jedoch sah das Ganze gelassen und rechtfertigte seinen Fahrstil mit den Worten: „Ich fahre ja auch wirklich nie Auto, Lili. Und in der S Bahn ruckelt das auch manchmal ganz schön".

Damit brachte er mich zum Lachen, obwohl meine Stimmung allgemein eher im Keller war.
Ich hatte mich in der vergangenen Woche bei meinem Vater sehr wohl gefühlt. Es war schön
gewesen, Lasse und Susanne um mich herum zu haben und überall bekannte Gesichter zu
sehen.

Nicht zuletzt sorgte natürlich Sara dafür, dass ich mich innerlich sträubte, zurück nach London zu fliegen.

Diese Entwicklung war neu und machte mir Angst, schließlich war es in den letzten Jahren
immer eine Erleichterung für mich gewesen, dem Kleinstadtleben zu entfliehen und in der Metropole unterzutauchen. Dort kannten mich nur sehr ausgewählte Menschen näher und ich hatte keine Verpflichtungen, denen ich nachkommen musste.

Immer mehr rückte der Gedanke in meinen Kopf, dass eine Flucht vielleicht nicht für immer die richtige Lösung war. Zwar hatte ich ohnehin geplant, langfristig wieder zurück nach Deutschland zu kommen, doch bisher war mir diese Überlegung immer unendlich weit weg vorgekommen, obwohl sich mein Studium natürlich dem Ende zuneigte.

„Ich würde dann zwischen den Jahren vielleicht wirklich mit nach Berlin kommen", sagte ich zu Lasse, als wir uns voneinander verabschiedeten.

Im Grunde genommen war es unnötig, für gerade einmal zweieinhalb Wochen zurück nach London zu fliegen, wo ich doch an Weihnachten ohnehin wieder zu meinem Vater kommen würde. Doch ich musste noch eine Hausarbeit in Papierform abgeben und auch sonst einige Erledigungen machen, die Nina nicht für mich übernehmen konnte.

Lasse nickte und grinste mich an, bevor er mir ein letztes Mal zuwinkte und mich in der Schlange zum Gate stehen ließ.

Als ich endlich im Flugzeug saß, schickte ich Sara wie verabredet eine kurze Nachricht. Sie
hatte mich gebeten, mich regelmäßiger bei ihr zu melden, selbst, wenn es nur darum ging,
ihr mitzuteilen, dass ich noch lebte. Ich hatte sowieso vorgehabt, mein albernes Rar-Machen Spielchen, welches zwar nur aus vollkommener Überforderung mit der Situation resultiert war, aufzugeben und deshalb ohne Widerrede zugestimmt.

Sitze im Flieger und bin in ungefähr 3 Stunden vermutlich in meiner Wohnung. Wollen wir
dann kurz telefonieren? Viel Spaß mit den Mädchen.

Ich lächelte beim Gedanken an Saras kleine Töchter, mit denen sie heute einen Ausflug
unternahm. Mit leuchtenden Augen hatte sie mir von den Tieren im Wildtierpark erzählt und ich hatte kurz überlegt, ob sie wirklich der Kinder wegen dort hin fuhr.

Diese authentische, realistische Version von Sara endlich kennenlernen zu dürfen, brachte mein Herz fast zum Überlaufen und ich machte mir langsam tatsächlich Sorgen um meine
geistige Unversehrtheit.

Rote Wangen und ein pochendes Herz beim Gedanken an eine einzige Person waren in den letzten Jahren eher nichts für mich gewesen und ich fragte mich, wie ich dieses Problem wieder in den Griff bekommen sollte.

Fast den gesamten Flug verschlief ich und als ich es endlich in meine Wohnung geschafft
hatte, war ich totmüde und hätte am liebsten sofort die Augen geschlossen. Nina hatte mich freudig begrüßt und Matt, der scheinbar in den letzten paar Tagen durchgängig hier gewesen
war, aus unserer winzigen Abstellkammer gezerrt, wo er irgendetwas gesucht hatte.

Sara ging bereits nach dem ersten Klingeln an ihr Telefon und begrüßte mich mit ihrer
weichen, sanften Stimme. Mir wurde ganz schwer ums Herz, weil ich ihre physische
Anwesenheit schon jetzt sehr vermisste.

Zwar waren die Tage unter der Woche, an denen wir uns nicht gesehen hatten, gut auszuhalten gewesen, doch die Distanz, die nun zwischen uns lag, machte mich unglücklicher, als ich es zugeben wollte.

„Bist du gut angekommen?", fragte Sara mich mit einem leicht besorgten Unterton in der Stimme.
„Jap", antwortete ich und ließ mich auf meinem Bett nieder, „Ein bisschen platt, aber noch am Leben".

Sara lachte leise, „Gut".

Im Hintergrund hörte ich Kinderstimmen und irgendetwas rauschte.

„Wie war es im Tierpark? Und was macht ihr jetzt?", fragte ich deshalb nach und ließ meinen Blick über die Zimmerdecke wandern. Langsam wurde mir die Absurdität meiner, unserer gesamten Situation immer bewusster. Egal wie ich es drehte und wendete, ich fragte mich zunehmend, was zum Teufel ich da gerade tat.

Saras sanfte Stimme riss mich aus meinen Gedanken, „Super: Aber Mila hat sich total in
die Fischotter verliebt und möchte jetzt gerne einen für unseren Teich im Schrebergarten
haben. Und ihr ist auch total egal, dass es draußen jetzt zu kalt für einen Otter in unserem Garten wäre".

Ich hörte förmlich, wie sie am anderen Ende der Leitung die Augen verdrehte und musste
grinsen.
„Du hast einen Schrebergarten?", fragte ich nach und zog unwillkürlich die Augenbrauen
hoch.

„Ja, Lili. So alt bin ich", entgegnete Sara. Im Hintergrund hörte man Schritte und irgendetwas rascheln, bevor sie jemanden, ich nahm an eine ihrer Töchter, leise dazu ermahnte, das Mehl nicht auf dem Boden zu verteilen, „Und um deine Frage zu
beantworten; wir machen Nudeln".

Ich lachte wieder leise auf. Die Vorstellung, wie zwei kleine blonde Mädchen Saras Küche
vollkommen verwüsteten amüsierte mich und ließ mich gleichzeitig grübeln.
Die Tatsache, dass die Frau, in die ich mich mehr und mehr verliebte, kleine Kinder hatte,
verunsicherte mich mehr, als ich erwartet hatte.

Wir beendeten unser Gespräch schließlich und ich versuchte den Rest des Abends, mein
Zimmer und auch meine Gedankenwelt ein wenig unter Kontrolle zu bringen. Ich scheiterte jedoch kläglich, zumindest an dem Part mit den Gedanken, und antwortete schließlich am frühen Abend auf eine Nachricht von Hanna, die gerne über die neusten Entwicklungen in meinem Leben aufgeklärt werden wollte.

Sie begrüßte mich mit einem freudigen Quietschen und erzählte mir etwa eine halbe Stunde lang von ihrer Reise nach Frankreich und Matteo, den sie dort in einem Hostel
kennengelernt hatte, bevor wir auf mich zu sprechen kamen.

„Also", sagte Hanna etwas atemlos, „Erzähl mir von Sara". Ich druckste ein wenig herum, schließlich wollte ich eigentlich nicht, dass dieser eine Mensch so viel Raum in meinem
Leben einnahm, erzählte Hanna dann aber doch von unseren Treffen der letzten Woche.
„Oh wow. Lili, das klingt ja fast, als würde sich da etwas ernstes zwischen euch
entwickeln", äußerte Hanna und ich konnte die Begeisterung in ihrer Stimme hören.

„Ich weiß ja nicht", brachte ich meinen Zweifel zum Ausdruck. Während unseres Telefonats
hatte ich mich immer weiter unter meiner Decke vergraben, da es in unserer Wohnung doch ziemlich kalt geworden war. Wie auch im letzten Jahr, als ich noch mit Lea hier gewohnt
hatte.

„Komm schon Lili", redete Hanna beschwichtigend auf mich ein, „Ich finde, ein Treffen ohne Sex klingt schon sehr nach einem Date. Und wenn du sagst, dass ich gekuschelt habt, fehlt ja nur noch, dass sie dir ihre Töchter vorstellt".
„Ich würde tausend Tode sterben", rutschte es mir heraus, „Weißt du noch, als sie bei eurem Kulturabend die beiden dabei hatte...".
„Ja", entgegnete Hanna schlicht und brach dann doch in leises Lachen aus, „Du bist bereits damals tausend Tode gestorben".

Nichts für immerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt