An diesem Abend fragte auch mein Vater nach.
Vielleicht, weil ihm Lasses und meine Heimlichtuerei langsam auf den Geist ging. Vielleicht, weil ich vollkommen gerädert zuhause ankam und mich am frühen Abend erstmal ins Bett legen musste.Zum gemeinsamen Abendessen raffte ich mich auf, und als Susanne und Lasse das Wohnzimmer danach verlassen hatten, fragte er, "Ist bei dir wirklich alles in Ordnung, Lili?".
Ich zuckte mit den Schultern, während ich die Spülmaschine einräumte.
"Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, wenn du möchtest...", fuhr er fort."Ich weiß garnicht, ob es etwas gibt, das ich erzählen könnte", antwortete ich und lehnte mich nun an der Küchenzeile an.
"Wenn es eine Überlegung wert ist, würde ich sagen, ja", entgegnete mein Vater und sah mich an.
Ich nickte.
"Weißt du, Lili, ich finde es total schön, dass du und Lasse hier seid und so viel Zeit mit mir und Susanne und miteinander verbringt. Aber ich habe auch das Gefühl, dass ihr eure Themen mit euch rum schleppt und sie niemandem so richtig anvertraut", erklärte er und legte seine Hand vorsichtig auf meinen Kopf."Und verliebt sein ist doch eigentlich etwas Schönes".
Ich musste grinsen, "Ist es so offensichtlich?".
Auch mein Vater lachte leise auf, "Also Lasse telefoniert jeden Abend mit einer mir unbekannten Frau, ich glaube sie heißt Anastasia. Und du verschwindest gelegentlich über Nacht, erzählst niemandem, wo du hingehst, und am nächsten Tag hast du dann ganz glasige Augen. Und jetzt erzähl mir nicht, du hast so viele verschiedene Tinder-Dates".Ich schüttelte den Kopf und überlegte abermals, ob ich es wirklich bringen konnte, meinem Vater davon zu erzählen.
Wir schwiegen für einen Moment und mein Vater wischte leise die Oberflächen in der Küche ab.Schließlich fasste ich mir ein Herz.
"Erinnerst du dich noch an meine Tutorin in der Oberstufe?", fragte ich vorsichtig.
"Frau Hansen?", harkte mein Vater nach, "Ja, natürlich. Die mochtest du doch immer".Ich nickte und bemerkte, wie meine Wangen sich leicht rot färbten.
"Äh", ich begann ein wenig zu stottern. Irgendwie hatte ich gehofft, mein Vater würde jetzt schon auf den Zug aufspringen.
"Also wir haben uns im Herbst in London wieder gesehen", erklärte ich und mein Vater nickte, "Und 'mögen' ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort dafür"."Oh", jetzt schien mein Vater verstanden zu haben, "Oh". Er zog die Augenbrauen nach oben.
"Ihr habt euch wiedergesehen?", er schien ein wenig entgeistert, was ich ihm nicht verübeln konnte.
"Oha". Nun schwieg er und ich wartete ab.Mein Herz klopfte.
Natürlich war ich nicht von der Zustimmung meines Vaters abhängig, schließlich war ich erwachsen und konnte tun und lassen, was ich wollte, doch irgendeine Art der positiven Reaktion hatte ich mir trotzdem von ihm erhofft."Ich weiß garnicht, was ich davon halten soll", gab er schließlich zu und atmete laut aus, "Also nicht von deiner Seite aus, aber sie war ja mal deine Lehrerin".
Wieder nickte ich.
"Gab es da nicht bei Lasses Abiball auch so eine Situation?", fragte er nun und wir wanderten langsam von der Küche in Richtung des Wohnzimmers, wo wir uns auf der Couch nieder ließen."Jup", antwortete ich knapp und im Mangel einer ausführlicheren Erklärung, "Aber da war nie irgendwas, was nicht hätte sein dürfen".
Mein Vater nickte erneut, "Das ist gut".
Ich schmunzelte, "Sorry, Papa. Das ist vermutlich nicht die Geschichte, die du hören wolltest".Nun lachte er leise auf, "Dafür brauchst du dich nicht entschuldigen, Lili".
Ich zog eine Decke näher zu mir, um es mir auf dem Sofa etwas bequemer zu machen.
"Eigentlich ist mir ja auch nur wichtig, dass du glücklich bist", meinte er nun, "Und ich hatte in den letzten Wochen eher das Gefühl, dass dich das ganze unglücklich macht".Ich überlegte für einen Moment.
"Vielleicht ein bisschen", stimmte ich ihm zu, "Aber ehrlich gesagt nur, weil es so ungeklärt ist. Genau wie bei Lasse"."Hat er mir dir darüber geredet?".
"Kurz"."Oh man", murmelte er nur, "Was habe ich mit euch falsch gemacht, dass ihr zwei euch nicht verletzlich machen wollt".
"Hey", entgegnete ich abwehrend und hob meine Hände in einer dramatischen Geste, "Wir geben hier schon unser Bestes".-
Die Weihnachtsfeiertage verbrachten Lasse und ich größtenteils im Bett. Oder im Wohnzimmer. Oder auf dem Balkon.
Wir saßen herum und rauchten zu viel und genehmigten uns das ein oder andere Glas Rotwein, während mein Vater an unserer Verfassung verzweifelte und jedes Mal, wenn er uns sah, ergeben mit dem Kopf schüttelte.Sara war mit den Kindern zu ihrer Mutter gefahren, was dazu führte, dass ich schlecht gelaunt und unmotiviert abwartete, dass die Tage vergingen.
Lasse ging es ähnlich und nachdem Susanne und mein Vater es an Tag 3 aufgegeben hatten, uns vorwurfsvoll anzusehen, fanden wir unseren Frieden mit alten Serien und viel Schlaf.
Während Lasse fast jeden Abend mit Anastasia telefonierte, kommunizierten Sara und ich hauptsächlich in Bild und Text.Sie berichtete mir von den Weihnachts-Unternehmungen mit Mila und Greta und regte sich über ihre Mutter auf, die scheinbar ein großes Talent dafür hatte, die Erziehungserfolge bei den Mädchen wieder zunichte zu machen.
Sie schickte mir Fotos von den beiden.
Von den beiden auf dem Sofa, unter dem Weihnachtsbaum, im Schnee und beim Plätzchen backen.Und sie schickte mir Fotos von sich. Meistens Selfies, in deren Hintergrund die Mädchen zu erkennen waren. Mein Blick lag derweil auf ihren blonden Haaren, die wie immer gelockt auf ihre Schultern fielen, ihr strahlendes Lächeln und das Glänzen ihrer Augen, das mich sogar durch den Bildschirm hindurch zum Grinsen brachte.
Und sie schrieb mir, dass sie mich vermisste und dass sie die Zeit lieber mit mir verbringen würde, was mich vollkommen durcheinander brachte.
Eine dieser Nachrichten zeigte ich Lasse.
"Alter", murmelte er nur und setzte sich ein wenig auf, "Sie ist ja genau so verloren wie du".
Ich kicherte."Hast du mit ihr gesprochen?", fragte mein Bruder nun und nahm sein Weinglas vom Couchtisch.
"Nein", antwortete ich schnell und tippte eine Nachricht zurück.
"Ich würde dich glaube ich für immer hassen, wenn du dir diese Frau entgehen lässt", sagte Lasse und trank einen Schluck."Und ich glaube du bist betrunken", entgegnete ich, "Ich kann sie mir garnicht mehr entgehen lassen. Ich bin ja schon in den Genuss gekommen".
"Pf", machte Lasse, "Werd' hier bloß nicht arrogant".
-
Am 28. Dezember stiegen Lasse und ich vollgepackt in den Zug nach Berlin. Unser Vater brachte uns zum Bahnsteig und drückte uns ziemlich fest, bevor wir uns auch von Susanne, die zumindest ich mittlerweile sehr in mein Herz geschlossen hatte, verabschieden konnten.
"Ich bin dann Mitte nächster Woche wieder hier und fliege von hier aus zurück nach London", erklärte ich noch kurz, "Okay?".
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Nichts für immer
RomanceNach dem Tod ihrer Mutter und dem plötzlichen Ende einer langjährigen Beziehung flüchtet Lili aus ihrem Alltag und ihrer Heimat. Sie findet sich in London wieder, wo sie versucht, all das Erlebte zu verarbeiten - oder zu vergessen. Was anfangs gut...