20. - Ein kleiner Crush

121 7 0
                                    

Die wenigen Tage, die ich in London verbrachte, vergingen schließlich wie im Flug.

Innerhalb der ersten Woche schrieb ich die beiden Hausarbeiten, die noch ausstanden, fertig und brachte sie zu meinem Betreuer an der Uni, der sich scheinbar sehr freute, mein Gesicht nach all der Zeit, die ich ihn ignoriert hatte, mal wieder zu sehen.

Nina und Matt, die inzwischen offiziell ein Paar waren, belästigten mich in unserer Wohnung mit dem Verhalten, welches frisch verliebte nunmal gerne an den Tag legen. Das führte dazu, dass ich deutlich mehr Zeit außerhalb meines Zuhauses verbrachte, als zuletzt.

Ich erkundete die Möglichkeiten der Stadt noch einmal ganz neu und saß Stunden lang in der Bibliothek, hing meinen Gedanken nach oder telefonierte mit Hanna und Katharina. Ich spazierte durch London und setzte mich mehr als ein Mal in den Zug, um die umliegenden Dörfer und Wälder zu erkunden, was ich in den letzten Jahren eindeutig vernachlässigt hatte.

Sara und ich standen ebenfalls in regelmäßigem Kontakt, wobei sie scheinbar mehr und mehr im vorweihnachtlichen Stress versank und zunehmend abgehacktere - aber weiterhin sehr zugewandte - Nachrichten und Telefonate vollbrachte.

Meine beiden Freundinnen verzweifelten derweil an meiner emotionalen Verfassung und
meiner Einstellung Sara gegenüber. Einmal schlossen sie sich sogar miteinander kurz, weil
sie es (laut eigener Aussage) „mit mir nicht mehr aushielten". Das war untypisch, denn Katharina und Hanna hatten sich noch nie allzu sehr zu sagen gehabt. 

Am Abend vor meiner Abreise nach Deutschland - wo mich meine Familie, Weihnachten und nicht zuletzt Sara erwarteten - führte ich mit Katharina ein ausführliches, bisweilen von ihrer Seite leicht frustriertes Gespräch.

„Also Lili", sagte sie langsam, so als würde sie mit einem Kleinkind reden, zu mir, „Wir halten noch einmal die Fakten fest...".
Ich seufzte auf und lehnte mich in dem Sessel, der in den letzten zwei Wochen mein Lieblingsort geworden war, zurück.

„Sara Hansen, die Frau, in die du seit Sage und Schreibe 10", sie machte eine Pause, "10
Jahren verliebt bist".

„Verliebt ist wirklich ein bisschen übertrieben", unterbrach ich sie, „Ich hatte halt immer
einen kleinen Crush auf sie, von dem du dich auch nicht wirklich freisprechen kannst"

„Das - was auch immer du da hattest - ging definitiv über einen Crush, wie du es so schön
nennst, hinaus", entgegnete meine langjährige Freundin und ich konnte förmlich hören, wie
sie die Augen verdrehte. Ich musste grinsen.

„Ich möchte dich an den Moment erinnern, als du sie zum ersten Mal beim Rauchen
gesehen hast", plapperte Katharina fröhlich vor sich hin und mir stieg, obwohl ich ganz
alleine war, die Röte ins Gesicht.
„Ja, abe-".
„Nichts aber", unterbrach Katharina mich erneut, „Du hast fast gesabbert. Genauso, wie du fast gesabbert hast, als sie uns bei unserem Abiball so auflaufen lassen hat".

„Zum Thema Abiball kann ich dir auch noch etwas erzählen", warf ich in der kurzen Pause,
die Katharina zwischen ihren Sätzen machte, ein.

Sie unterbrach sich selbst in dem Satz, den sie gerade begonnen hatte und machte ein neugieriges Geräusch - zumindest interpretierte ich ihr leises Grunzen als solches.

„Lasses Abiball war ja zwei Jahre nach unserem". Katharina murmelte zustimmend.
„Und da war ich auch". Wieder zustimmendes Murmeln.
„Und Sara auch".
„Och komm Lili, hau raus", drängte Katharina mich nun, ich konnte jedoch das Schmunzeln
an ihrer Stimme heraushören.

„Okay, also die Kurzfassung ist: Ich habe sie Aus Versehen ziemlich abgefüllt und nach Hause gefahren. Und es hat auch da schon gewisse Annäherungen gegeben...".

Katharina kicherte, „Du reitest dich echt immer mehr in die Scheiße Lili, weißt du das?".

Ich zuckte mit den Schultern, was meine Gesprächspartnerin natürlich nicht sehen konnte.

„Und warum genau gestehst du dir nicht endlich selber ein, dass Sara genau das ist, was du immer wolltest?", fragte sie, nun mit einem ernsten Unterton in der Stimme.

Ich schwieg für einen Moment, denn obwohl ich wusste, dass Katharina Recht hatte, dass
Sie wirklich genau das war, was ich immer gewollt hatte, erschien mir all das noch immer
viel zu unwirklich.

„Keine Ahnung", antwortete ich schließlich, „Vielleicht ist sie das eben doch nicht.
Vielleicht denke ich das nur".

„Das ist totaler Bullshit", entgegnete die junge Frau am Telefon energisch, „Du wirst es
auch im Übrigen nicht herausfinden, wenn du dich nicht darauf einlässt".

„Aber es gibt auch überhaupt nichts, worauf ich mich einlassen könnte", versuchte ich, die Situation zu umgehen, „Sie hat keine Andeutungen gemacht, in welche Richtung das ganze gehen soll".

Katharina reagierte mit einem erschöpften Seufzen.
„Aber es ist doch auch egal, Lili. Es ist doch egal, in „welche Richtung das ganze gehen
soll". Fakt ist, dass du Gefühle für sie hast. Und das solltest du ihr sagen".

„Und darin bist du Expertin?", entgegnete ich im verzweifelten Versuch, ihre Worte
zu entschärfen.

„Werd jetzt bloß nicht gemein, sonst lade ich dich wieder aus und du kannst an Sylvester in der Kleinstadt verrotten".
Ich lachte leise und hoffte, Katharina nicht allzu sehr verärgert zu haben, schließlich wusste ich, dass sie nur das beste für mich wollte.

„Wo bist du eigentlich, ich höre es bei dir im Hintergrund die ganze Zeit so klappern", fragte sie nun und ich drehte mich im Sessel um.

„In meinem neuen Zuhause, einem Café namens Oliver", erklärte ich, „Seit meine
Mitbewohnerin diesen Typen da hat, ist es nicht mehr auszuhalten in meinem Zimmer.
Entweder sie knutschen auf der Couch, oder sie vögeln viel zu laut, oder...".

Katharina lachte erneut, „Also ein weiterer guter Grund, zurück nach Deutschland zu
kommen".

-

Am nächsten Morgen schleppte ich mich viel zu früh bis vor die Haustür, stieg in ein Taxi
und ließ mich zum Flughafen kutschieren. Nachdem ich den Flug, mal wieder, vollständig verschlafen hatte, holte Lasse mich vom Flughafen ab.
Er begrüßte mich mit einem Frechen Grinsen und schnappte die Taschen, ich die mit mir
trug, aus meinen Händen, bevor er mich vom Boden hob.

„Da ist ja meine kleine große Schwester schon wieder!", begrüßte er mich fröhlich und drehte mich einmal im Kreis.
Danach drückte er mir einen feuchten, aber sehr niedlichen Kuss auf die Wange, den ich augenblicklich gespielt angeekelt wegwischte und ihn spielerisch gegen den Arm boxte.
„Hör auf damit, sonst denkt noch irgendjemand wir wären ein Paar", schimpfte ich ihn leise und schnappte mir eine meiner Reisetaschen zurück.

„Das ich nicht lache", entgegnete mein jüngerer Bruder, „Du siehst genau so aus wie ich. Wir könnten Zwillinge sein".
„Deshalb ja", murmelte ich vor mich hin, „Klassischer Fall von ‚Siblings or Dating'".

„Du hast doch nur Angst, dass die Frau deiner Träume dich hier mit mir sieht", kicherte Lasse, während wir uns nebeneinander durch den vorweihnachtlich vollen Flughafen in Richtung des Parkhauses schlugen.
„Wobei nein!", fiel ihm dann ein, „Die weiß ja sogar, dass wir Geschwister sind".

Ich nickte und schüttelte im nächsten Moment den Kopf. Das war doch alles einfach total verrückt.

Lasse und ich fuhren im Auto meines Vaters - Lasses Fahrstil hatte sich in den zwei Wochen, die er nun zuhause verbracht hatte, wieder normalisiert - zu einem kleinen Restaurant, in dem wir uns zunächst mit unserem Vater und Susanne treffen wollten.
Die beiden begrüßten mich herzlich, wobei mir besonders Susannes freudiges Grinsen und die Weihnachtskugeln, die von ihren Ohren baumelten, in Erinnerung blieben.

„Wie lange bleibst du denn jetzt bei uns?", fragte mein Vater, während ich mich erschöpft auf den Stuhl ihm gegenüber fallen ließ.
„Äh", ich überlegte kurz, „Auf jeden Fall bis zum 26. Dann fahre ich mit Lasse nach Berlin und bleibe über Sylvester dort und für danach habe ich ehrlich gesagt noch keinen Plan".

„Das klingt doch erstmal gut", antwortete mein Vater, „Erstaunlich, dass du uns so viel mit deiner Anwesenheit beehrst". Er grinste und warf seiner Freundin einen verschwörerischen Blick zu, der mich darauf schließen ließ, dass die beiden sich schon ihre eigenen Gedanken zu diesem Thema gemacht hatten.

Nichts für immerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt