2. - Lang vermisst

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„Hanna!",
war alles, was ich sagen konnte, bevor ich in zwei sehr vertraute und lang vermisste Arme geschlossen wurde. Meine dunkelhaarige Freundin hatte sich mir geradezu entgegengeworfen und kicherte nun an meiner Schulter.

Obwohl sie etwas kleiner war als ich, verfügte sie über erstaunliche Kräfte, die mir nun mit dem Ächzen meines Brustkorbs wieder schmerzlich bewusst wurden.
Hinter ihr rauschten Autos und Taxen vorbei, während sie sich langsam von mir löste.

„Lili", entgegnete sie mir mit einem breiten Grinsen im Gesicht und schob sich an mir vorbei in den Hausflur des Londoner Wohnblocks, in dem ich meine Zeit verbrachte.

Perplex stand ich noch immer an der Tür und wartete, vergeblich, auf irgendeine Art von Erklärung.

Hanna gab mir zu verstehen, die Tür hinter mir zu schließen, bevor ich ihr die Treppe hinauf in den ersten Stock folgte, wo die Tür zu der kleinen Wohnung noch offen stand.

„Hanna?", fragte ich sie noch einmal, ein wenig entgeistert, als sie ohne zu zögern in eben diese Wohnung marschierte und den Rucksack, den sie scheinbar von mir unbemerkt die ganze Zeit auf ihrem Rücken getragen hatte, neben dem Küchentisch abstellte.

Ich schloss die Tür hinter mir und ließ meine Schlappen im winzigen Flur stehen,
„Was zum Teufel machst du hier?".

Immer noch kichernd und mich scheinbar auf die Folter spannen wollend ließ meine Freundin sich in aller Seelen Ruhe am Küchentisch nieder - zum Glück war Nina gerade nicht da, sie wäre von einer fremden Person, die unangekündigt in ihrem kleinen Heim auftaucht, sicher nicht allzu begeistert gewesen.

„Ich war auf der Durchreise", setzte Hanna schließlich gut gelaunt an, nachdem ich ihr einen Kaffee oder einen Tee angeboten hatte, „Und da dachte ich: Warum nicht ein paar Tage in London bleiben!".

Noch immer war ich sprachlos, denn obwohl ich mich natürlich über das Auftauchen meiner langjährigen Freundin freute, hatte ich doch mit allem anderen gerechnet, als das Hanna, die gerade ihr Bachelor Studium in Wien abgeschlossen hatte, auf der Durchreise einem Halt bei mir in London machte, der scheinbar länger als einige Stunden dauern sollte.

„Oh. Wow", brachte ich daher hervor und begab mich auf den Weg in Richtung Kaffeemaschine, damit ich wenigstens irgendetwas zu tun hatte.

„Freust du dich denn gar nicht über mich?'", fragte Hanna nun und setzte einen gespielt beleidigten Gesichtsausdruck auf, „Du sagst doch dauernd, wie sehr du mich vermisst".

Sie fummelte nun am Reißverschluss ihrer Jacke herum und legte diese schließlich um die Lehne des Stuhls, auf dem sie saß.
Obwohl ihr Auftreten so selbstbewusst und gut gelaunt wie eh und je war, meinte ich einen leisen Anflug von ernsthafter Sorge in ihrer Stimme zu hören, der entweder meiner Erscheinung oder der Tatsache, dass ich sie nicht strahlend und hüpfend begrüßt hatte, zuzuschreiben war.

„Klar freue ich mich über dich", antwortete ich ihr deshalb und schüttete etwas Zucker in meinen schwarzen Kaffee, „Ich bin nur... ein wenig überrumpelt".
Nun musste ich auch schmunzeln, denn die junge Frau an meinem Küchentisch, die ich schon seit meiner Schulzeit zu meinen engsten Freundinnen zählte, blickte selbstgefällig
drein.

„Genau das war mein Ziel", stellte sie zufrieden fest und lehnte sich gähnend zurück, „Schieß los mit deinen Fragen. Ich sehe sie dir an der Nasenspitze an".

Damit hatte sie mich kalt erwischt, denn tatsächlich hatten sich gerade unzählige Fragen zu Hannas Auftauchen, ihrem weiteren Plan und ihren letzten Wochen, in denen wir keinen Kontakt zueinander gehabt hatten, in meinem Kopf formiert.
Als wir vor wenigen Wochen zuletzt miteinander telefoniert hatten, hatte Hanna gerade ihre Wohnung in der Wiener Innenstadt gekündigt und den vagen Plan geäußert, für einige Wochen in das Gästezimmer ihrer Mutter einzuziehen, wo sie sich auf eine längere Reise hatte vorbereiten wollen.

„Was machst du hier? Was soll das heißen: auf der Durchreise? Wie lange magst du bleiben? Wie geht es dir? Was hast du in den letzten Wochen bitte getrieben? Und warum hast du nicht Bescheid gesagt?!", prasselten die Fragen nun aus meinem Mund heraus, Hanna ließ sie über sich ergehen und gönnte sich eine kleine Atempause, bevor sie mir antwortete.

Ich schlürfte währenddessen ein wenig gestresst an meinem Kaffee.

„Wo sollen wir anfangen... mir geht es gut, sehr gut sogar...", fröhlich berichtete sie mir nun aus den letzten Wochen ihres sprunghaften Lebens, von ihrer sehr kurzen Zeit in unserer Heimatstadt, ihrem Besuch bei Lena in Paris und ihrem Vorhaben, in den nächsten Monaten ganz Europa zu bereisen.

Ich akklimatisierte mich langsam, begann, mich tatsächlich über ihre Anwesenheit und ihre Freundschaft zu freuen, während ich ihren Geschichten lauschte.

Irgendwann zog es uns - okay, eher mich - hinauf auf den Balkon zum Rauchen, wobei wir uns über das Leben in der Stadt, welches ich seit nunmehr 1 1/2 Jahren führte, austauschten.
Hanna verglich meine Situation dauernd mit der unserer gemeinsamen Freundin Lena, die ich vor einigen Jahren tatsächlich ebenfalls in Paris besucht hatte.

Uns beide hatte es irgendwann weg gezogen, weg von zuhause, von unserer Familie, aus der Kleinstadt und von allen Menschen, die uns so vertraut waren.
Mit dem großen Unterschied, dass Lena in der Stadt ihre ganz große Liebe gefunden hatte. Nicht in einer Person, sondern in Paris.

Sie liebte das Leben dort, die Sprache, die Menschen, wollte am liebsten niemals wieder irgendwo anders sein, während das Studium in London für mich einer Flucht geglichen hatte.

Hanna und ich verloren uns in meiner Küche in unseren gegenseitigen Erzählungen, Kaffee und der ein oder anderen Zigarette.
Meine Brünette Freundin berichtete mir gestenreich, geradezu euphorisch von ihren Erlebnissen und zeigte mir zudem ungefähr 1000 Bilder, während ich mich eher kurz fasste.

Als es schon fast dunkel war, bezogen wir die Couch im Wohnzimmer, dass ich mir für gewöhnlich ebenfalls mit Nina teilte - nun sollte es sie allerdings nicht stören, wenn Hanna dort schlief, schließlich war sie nicht da.

Den Abend verbrachten wir mit Chips und Cola auf dem Fußboden vor der Couch, wir schauten unsere Lieblingsserie aus Schulzeiten und stellten ein grobes Touriprogramm zusammen, welches Hanna in den nächsten Tagen durchlaufen sollte - sie hatte Glück, dass ich zu dieser Zeit keine Vorlesungen besuchen musste.

Schließlich fiel ich müde, aber regelrecht beflügelt, ins Bett.
Hanna hatte es mit ihrer aufgedrehten und offenen Art geschafft, mich ein wenig aus meinem alltäglichen Trott in der regnerischen Großstadt zu reißen und ich freute mich auf die Tage mit ihr.

Nichts für immerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt