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STELLA

Die Laken auf Darios Seite sind eine Woche später eiskalt, so als hätte er nie dort gelegen. Ich frage mich, ob er je ausschlafen kann und nicht mitten in der Nacht abhauen muss. Aber dann wird mir wieder klar, dass er etwas auf der Spur ist, oder sein muss. Trotzdem ist es einsam im Penthouse mitten in Little Italy.
Mit einer Strickjacke bekleidet, trete ich an diesem feucht sonnigen Herbstmorgen auf die Dachterrasse des hohen Hauses und lehne mich an die steinerne Brüstung. Von hier aus kann man den Central Park sehen. Nicht mehr viele der bunten Laubbäume, haben Blätter. Die meisten sind kahl und einige von Hochhäusern verdeckt. Trotzdem fühlt sich der kurze Moment voller Stille wie Balsam für meine Seele an. Viel zu Gesicht bekommen, habe ich den muskulösen Italiener seit dem Abendessen mit seinen Eltern nicht. Er ist oft den ganzen Tag unterwegs mit diesem Dante, kommt erst spät abends wieder und verschwindet bevor ich aufwache. Seitdem das Haus wieder Strom hat, durfte auch Kim zweimal vorbeikommen. Wir waren hier oben in der Wohnung, denn raus darf ich noch immer nicht allein. Sicher fühle ich mich an keinem Ort, außer hier. Meine beste Freundin sagte, es wäre besser, wenn ich mal mit einer Therapeutin rede, aber das möchte ich nicht. Zumindest nicht jetzt. Noch schaffe ich es nicht, darüber zu sprechen und das muss sie akzeptieren. Ich bin froh, dass es wenigstens ihr wieder besser geht und sie den Gips bald loswird. Meinen Verband am Arm bin ich bereits seid einigen Tagen los.

Manchmal, so wie jetzt, wünschte ich, ich könnte das Viertel verlassen und mich in den Park setzen. Wenige Sekunden später wird mir bewusst, dass ich das nicht kann. Das hier wird mein Leben und daran sollte ich mich gewöhnen. Dario hat mir versprochen, dass wir heute zu Lillian und Santino, eine Straße weiter gehen. Ich war noch nie bei ihnen zuhause aber will mir nicht entgehen lassen, ihr Baby zu sehen, dass erst wenige Tage alt ist. Ich bat Dario bereits, ihr wenigstens Blumen zu besorgen, wenn ich das schon selbst nicht darf. Auch wenn er nur selten hier ist, organisiert er alles. Sogar meine Frauenärztin war zu einem Hausbesuch mit einem Ultraschallgerät hier. Er kümmert sich wirklich sehr gut um uns.
Ein kalter Windzug lässt mich meine Strickjacke vor der Brust zusammenziehen. Ich entferne mich wieder von der Brüstung und schlüpfe durch die geöffnete Schiebetür zurück ins Haus. Inzwischen kenne ich mich in der Wohnung recht gut aus. Be Kims letztem Besuch brachte sie mir Post mit, die an mein Apartment in Harlem geschickt wurde. Ich miete es noch, aber die Miete wird von den Gambinos beglichen. Offiziell weiß ja niemand, dass ich hier lebe.
Die Briefe, die sie mir mitgebracht hat, liegen noch ungeöffnet auf dem Esstisch. Ich habe mich nicht getraut, sie zu öffnen. Einer ist von Mister Greenwich. Meine Kündigung, nehme ich an.

In der offenen Küche mache ich mir einen Kakao und starre nachdenklich aus dem Fenster über dem Waschbecken, während der Automat mir mein Getränk heiß aufgießt. Bald fällt schon der erste Schnee. Kaum zu fassen, dass bald Weihnachten ist. Ich bin schon fast ein viertel Jahr hier in dieser Wohnung. Meinem neuen zuhause.
Ich mag es. Zu wissen, dass immer jemand hier ist, falls man Hilfe braucht. Zu wissen das es Kameras, elektronische Türschlösser und Fenstersicherungen gibt. Es ist wie ein Palast über den Wolken und das mag ich so. Ich fühle mich so sicher wie an keinem anderen Ort der Stadt. Dabei bin ich mitten in ihr.

~

Stunden später kommt Dario endlich. Er wirkt abgehetzt und nachdenklich. So in sich gekehrt ist er die letzten Tage über auch schon. Aber egal wie oft ich ihn frage, er antwortet immer das gleiche. Deshalb lasse ich es. Er hat mir versprochen, dass er mir erzählt, sobald er was weiß.
»Hier ist deine Jacke.« Er reicht mir den dicken Mantel, den er von der Garderobe genommen hat, nachdem ich mir auf der Treppe sitzend die Schuhe anzog. Obwohl ich erst im zweiten Trimester bin, fällt es mir von Tag zu Tag schwerer, mich nach vorn zu beugen oder in die Knie zu gehen.
»Danke. Weißt du schon, wie das Baby heißt?« erkundige ich mich. Dario hält mir die Tür auf und schüttelt gleichzeitig den Kopf. »Santino wollte nichts verraten.«
»Hast du die Blumen?«
»Im Auto.«
»Wir laufen nicht?«
»Nein, komm jetzt. Sie warten sicher schon.«
Ich folge Dario bis in die Tiefgarage und tatsächlich nehmen wir das Auto, nur um eine Straße weiter am Straßenrand zu parken. Zugegeben ist es recht ungemütlich, aber ich hätte auch laufen können.
Zwei schaurig ausschauende Männer nehmen uns in Empfang. Dario wechselt ein paar Worte auf Italienisch mit ihnen, bevor sie uns passieren lassen und ein Hausmädchen uns im Flur die Jacken abnimmt. Sie bringt uns mit dem Aufzug nach oben in eine Wohnung. Das Reihenhaus erinnert mich an das der Gambinos, auch wenn es recht anders von innen ist. Auch Lillian und Santino leben in einer Wohnung über der seiner Familie. Santino erwartet uns bereits an der Tür. Er zieht mich zur Begrüßung unerwartet in seine Arme, was mich kurz erstaunt die Augen aufreißen lässt, bevor ich mich fange. »Schön, dass ihr da seid. Lillian wartet schon im Wohnzimmer, Stella.«
Mit einem leisen »Danke«, laufe ich in das Wohnzimmer, dass sich nicht schwer finden lässt. Die beiden Männer unterhalten sich noch im Flur.

Die dunkelhaarige Lillian steht gerade vor einem Stubenwagen, als ich das Zimmer betrete. Als sie mich erblickt, erhellt sich ihr Gesicht und sie breitet ihre Arme aus. »Glückwunsch«, begrüße ich auch sie und umarme sie. Sie strahlt pure Freude aus. »Danke Stella, sind die schön!«
»Dario hat sie ausgesucht.«
Lillian weitet ungläubig die Augen, bevor sie leise in sich hineinlacht. »Süß von ihm. Komm, ich will dir das Baby zeigen.«
Sie legt die Blumen beiseite, welche Santino sich kurz darauf schnappt, während ich an das kleine Bett trete. Inmitten einer weich gepolsterten Matratze liegt ein kleines rosa gekleidetes Baby. Es schlummert tief und fest, als könne es nichts auf der Welt aus der Ruhe bringen. »Sie ist wunderschön«, lächle ich. Im Hintergrund höre ich, wie Dario Santino fragt, ob es ein Mädchen ist.
»Möchtest du sie halten?«
»Gerne«, antworte ich, auch wenn mir dabei etwas mulmig im Bauch wird. Meine Hände beginnen zu zittern, die Kehle wird trocken. Bevor ich einen Rückzieher machen kann, hat Lillian mir das kleine, in einer Decke eingewickelte Bündel, in die Arme gedrückt. Wir beide sinken aufs Sofa und ich kann die Augen nicht mehr von diesem Baby nehmen. Es ist so winzig wie eine Puppe. Ab und zu macht es kleine Geräusche, bewegt die Ärmchen und Finger, aber sonst schläft es seelenruhig. Faszinierend.
»Wie habt ihr sie genannt?«
»Olivia. Aber Santino nennt sie nur Livia«, kichert Lillian und verdreht die Augen. Olivia Benelli also. Schmunzelnd lehne ich mich zurück und richte die verrutsche Decke, bevor das Mädchen anfängt zu weinen. »Gefällt mir«, wendet Dario ein. Er steht hinter dem Sofa und schielt auf uns hinab. Ich spüre seine Augen deutlich auf mir und nicht auf dem Baby ruhen. »Mir auch«, murmle ich gedankenversunken. Nicht mehr lang und ich halte mein Baby genauso. Kaum zu glauben, dass das, was in mir ist, balg genauso groß sein wird.
»Sie ist wirklich sehr hübsch«, lächle ich. Lillian streicht ihr über die Wange, woraufhin sich das kleine Mädchen in meinen Armen bewegt und gähnt. Ich überreiche sie sie ihrer Mutter zurück, bevor sie beginnt zu weinen. Lillian wendet sich mit ihr ab, um sie zurück in ihr Bettchen zu legen.
»Bleibt ihr noch zum Abendessen?«, möchte Santino wissen. Ich drehe ihm meinen Oberkörper zu, an Dario vorbei. Doch er kommt mir zuvor.
»Nein, wir stören euch nicht weiter. Stella und ich kochen zusammen und dann habe ich noch etwas mit Dante vor.«
»Ach ja?«, mische ich mich ein. Dario nickt. Das wusste ich gar nicht.
»Wir wollten euch nur die Blumen bringen. Ich bin sicher, Lillian möchte etwas Ruhe«, untermauert Dario seine Worte und deutet mir, aufzustehen. Seufzend komme ich seiner Geste nach. Lillian umarmt mich nochmal herzlich und versichert mir, dass wir das bald nachholen. »Vielleicht kommt ihr das nächste Mal einfach zu uns, oder Dario? Ein Abendessen bei uns«, schlage ich vor. »Super, dass klingt toll!« Lillian fällt mir erneut um den Hals und drückt mir einen überschwänglichen Kuss auf die Wange. Dario schaut nicht sehr begeistert, was er schnell verstecken kann als Lillian auch ihn umarmt. Wir verabschieden uns noch von den beiden und verlassen das Haus gemeinsam. Erst, als wir wieder in seinem Sportwagen sitzen, offenbaren seine Augen mir, was er wirklich davon hält. Ich kann meine Mundwinkel nicht davon abhalten, in die Höhe zu zucken. »Was?«

»Du willst für die beiden kochen und aufräumen?«, hakt er nach. Kopfschüttelnd spiele ich an der Sitzheizung herum. »Ich koche, du räumst auf«, antworte ich. Augen verdrehend startet er den Motor. »Habe ich mir schon fast gedacht, micina.«
»Also, fahren wir in die Stadt? Du hast getönte Scheiben und ich werde nicht aussteigen. Nur am Central Park entlang«, flehe ich. Ich will nur eine halbe Stunde meine Probleme vergessen und das Viertel verlassen. »Bitte«, bettle ich, mich über die Mittelkonsole neigend. Ich küsse seine Wange, sehe wie die furchen auf seiner Stirn sich sekündlich abflachen und weiß, ich habe gewonnen. »Scheiße, du bringst mich in Schwierigkeiten, micina. Lass uns einen kleinen Umweg nehmen. Ich will dir etwas zeigen«, beschließt er nachgebend und ich sinke zufrieden in den Sitz zurück. Scheint, als würde ich doch eine verdiente Pause von meinem goldenen Käfig zu bekommen. Wenigstens für einen Abend. Bereits morgen wird mich die Realität wieder einholen.

King of New York | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt