Kapitel 12

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Anstatt stundenlang alles zu überdecken, überlege ich mir am nächsten morgen eine Lüge. Ich habe gestern noch einen Spaziergang gemacht und wurde überfallen. Ich konnte das Gesicht des Angreifers nicht sehen. Aber die Polizei ermittelt.

Brianna, Charlie, Connor und Gabriel sind fassungslos, als ich es ihnen erzähle. Ich fühle mich schlecht, weil ich sie anlüge, aber was ist die Alternative...

Dann in der Schule angekommen ernte ich viele Blicke. Vielleicht hätte ich zuhause bleiben sollen, aber bei meinem Vater...

Ich habe eine Wunde auf der Wange und einen blau verfärbten Kiefer. Ich sehe schrecklich aus.

Im Klassenraum angekommen, schauen alle mich an. Mein Blick bleibt an Will hängen. Er sieht wütend aus.

Ich erzähle jedem Lehrer die Geschichte mit dem Überfall. Und zum Glück glauben sie mir, als ich sage, dass ich die Polizei bereits eingeschaltet habe.

So bringe ich den Schultag hinter mich. Es ist Donnerstag, was bedeutet, ich muss heute babysitten. Trotz Wills Aussage, dass sie jemand anderen finden, hat Darya mir bestätigt, dass ich weiterhin kommen soll.

Um fünf klingle ich an Wills Haustür und er öffnet mir. Er zieht mich nach drinnen und ins Wohnzimmer.

„Wer hat dir das angetan?"

Ich blinzle ihn nur an. Überrascht von der Intensität in seiner Stimme.

Er presst die Kieferknochen zusammen. „Wer?"

„Ähm...", mache ich. „Niemand. Also...doch, ich wurde überfallen. Gestern Abend."

„Was?"

Ich gebe meine Lüge so wieder wie ich es heute den ganzen Tag schon gemacht habe. Will nickt immer wieder, aber in seinen Augen braut sich ein Sturm zusammen. Es ist die meiste Emotion, die ich je in seinem Blick gesehen habe.

„Du kannst abends nicht mehr alleine rausgehen.", sagt er schließlich.

Ich schaue ihn nur an.

„Er könnte es auf dich abgesehen haben. Ab jetzt fahre ich dich heim, wenn du abends arbeitest."

Verwirrt schüttle ich den Kopf. „Warum interessiert es dich überhaupt?"

„Ich fahr dich heim. Okay?", sagt er, ohne auf meine Frage zu antworten.

In dem Moment kommt Chris ins Wohnzimmer.

Will geht zum Training und ich bin mit seinem kleinen Bruder alleine. Er spielt Arzt und beklebt mich mit Pflastern, damit es mir besser geht.

Die ganze Zeit denke ich darüber nach, warum Will sich solche Sorgen um mich macht. Er hasst mich doch. Das hat er selbst gesagt. Warum sind seine Handlungen dann so widersprüchlich? Ich werde einfach nicht schlau aus ihm.

Chris und ich bauen ein Lego Set auf und spielen dann damit. Dann mache ich wieder Abendessen wie letztes mal. Um sieben gehen wir in sein Zimmer. Ich decke ihn zu und lese ihm aus einem Piraten-Buch vor.

Als er schläft, gehe ich wieder ins Wohnzimmer und warte, dass Will heimkommt.

Ich muss eingeschlafen sein, denn ich wache auf, als mich jemand zudeckt. Verschlafen öffne ich die Augen. Will steht vor mir.

„Hey.", gebe ich von mir.

„Bereit, dass ich dich heimfahre?"

Ich nicke und stehe auf. Im Flur ziehe ich meine Schuhe an. „Warte, hast du einen Führerschein?"

„Ja, ich bin siebzehn."

Wieder nicke ich.

Wir gehen nach draußen und Will steuert auf ein silbernes Auto zu. Wir steigen ein und er fährt los. Ich beschreibe ihm, wo ich wohne. Während er durch die dunklen Straßen navigiert, betrachte ich ihn. Er hat wieder nasse Haare wie letztes mal. Und ich weiß nicht, warum mir das noch nie aufgefallen ist, aber sein Gesicht ist perfekt.

„Du willst bestimmt nicht darüber reden, aber darf ich dir eine Frage stellen?", durchbricht er die Stille.

„Ja."

„Wer war es? Hast du ihn wirklich nicht gesehen, oder beschützt du jemanden?"

Mein Herz beschleunigt sich. Scheiße. Er ahnt etwas.

„Nein. Ich habe ihn nicht gesehen.", sage ich mit fester Stimme.

Wir halten vor meinem Haus und anstatt mich kurz rauszulassen, stellt er das Auto in den Parkmodus.

„Gibt es irgendwas, das du mir verschweigst?"

Es ist eine Kurzschlussreaktion. Anders kann ich mir nicht erklären, wie ich mich abschnalle, über die Mittelkonsole klettere und auf seinem Schoß lande. Anders kann ich mir nicht erklären, wie ich Wills Gesicht umfasse und ihn küsse.

Eine lange Sekunde ist er absolut regungslos. Dann löst er sich von mir und schaut mir in die Augen. In seinem Blick liegt Überraschung und eine Verletzlichkeit.

„Was machst du da?", flüstert er.

„Ich weiß es nicht." Ich mache Anstalten, von ihm runterzuklettern, aber er hält meine Hüften fest.

„Nochmal.", sagt er gegen meine Lippen und dann versiegelt er sie mit seinen.

Seine Lippen sind weich und üben genau den richtigen Druck auf meine aus. Also soweit ich das beurteilen kann. Ich lasse mich von ihm leiten und als seine Zunge über meine Unterlippe streift, öffne ich wie automatisch meinen Mund. Er stöhnt leise.

Die Art, wie er mich küsst, fühlt sich so an, als hätte er es schon lange gewollt. Aber...nein, das ist Will und er hasst mich doch...oder?

Wills Zunge sorgt dafür, dass mein Körper in Flammen steht. Aber ich habe angefangen, nachzudenken, und jetzt kann ich nicht mehr aufhören. Wie kann er mich so küssen, wenn er mich nicht ausstehen kann? Ist es rein körperlich für ihn?

Schweren Herzens löse ich mich von ihm und fliehe aus dem Wagen. Ich bin fast bei der Haustür, da ruft er: „Angst, Rapunzel?"

Ohne zu antworten und ihm zu sagen, dass er damit den Nagel auf den Kopf getroffen hat, schließe ich die Tür auf und gehe rein.

Ich bin so erleichtert, als ich sehe, dass mein Vater nicht zuhause ist.

Broken BondsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt