Kapitel 27

35 2 0
                                    

Am Freitag mittag fahren wir alle wieder heim. Den ganzen Weg habe ich Bauchschmerzen. Ich weiß, was mich erwartet, wenn ich nach Hause komme.

Will merkt, dass es mir nicht gut geht und will mehrmals anhalten, aber ich versichere ihm, dass alles okay ist.

Dann fährt er erst Nader nach Hause, dann Henry und danach mich. Ich schnalle mich ab und lehne mich zu Will, um ihn zu küssen. Er erwidert es, aber dann schnallt er sich ab und steigt aus. Er will mir wahrscheinlich mit meinem Gepäck helfen.

Als ich um den Wagen herumlaufe, holt er gerade meinen Koffer aus dem Kofferraum.

„Danke, aber nach oben tragen kann ich ihn alleine.", sage ich und will ihm den Koffer abnehmen.

Er zieht ihn weg. „Ich komme mit hoch."

„Was?"

„Ich komme mit hoch, Ari."

Verwirrt schüttle ich den Kopf. „Aber das geht nicht. Mein Vater darf nicht wissen, dass du mein Freund bist."

„Das muss er auch nicht erfahren. Ich komme einfach mit hoch." Er geht bereits zur Haustür.

Schnell folge ich ihm. „Das geht wirklich nicht, Will."

„Warum nicht? Willst du mir was sagen?"

„Äh." Shit. „Nein."

Dann sind wir schon im Treppenhaus. Ich hoffe inständig, dass mein Vater nicht so wütend wird, wenn er Will sieht. Aber ich weiß, dass das umsonst ist.

Angst nimmt meinen ganzen Körper ein, fließt durch meine Adern, legt sich um mein Herz und vernebelt meinen Kopf. Mit zitternden Händen schließe ich die Tür auf.

„Arielle! Du dreckige...Was macht er hier?", ruft mein Vater.

Will lässt meinen Koffer los und stellt sich schützend vor mich. „Sie hören mir jetzt mal zu.", sagt er kalt. „Wie sie ihre Tochter behandeln zeigt wie erbärmlich sie sind. Wenn ich noch einmal einen blauen Fleck oder auch nur einen Kratzer auf ihrer Haut sehe, wird das Konsequenzen haben. Ich kann nichts beweisen, aber ich weiß genug. Sie sind das letzte."

„Ich würde meiner Tochter nie etwas tun! Was nimmst du dir raus, Junge?"

„Ari, pack ein paar Sachen, du kommst mit zu uns.", sagt Will.

Schnell nehme ich den Koffer und gehe in mein Zimmer. Ich packe ein paar Sachen aus und in einen Rucksack. Nehme noch frische Klamotten und Schulsachen mit.

„Bleiben sie weg von ihr.", höre ich Will bestimmt sagen, als mein Vater in mein Zimmer kommen will.

Und so verlassen Will und ich die Wohnung wieder nach wenigen Minuten unter den Schreien meines Vaters.

Als wir wieder im Auto sind, breitet sich Stille aus. Will fährt in Richtung seines Hauses.

„Es war die ganze Zeit er, oder?", sagt Will irgendwann. „Jeder blaue Fleck, der Angriff, deine Angst."

Ich sage nichts. Ich weiß nicht, warum ich meinen Vater immer noch schütze. Ich weiß es wirklich nicht. Aber er ist meine einzige Familie, zumindest was Blut angeht.

„Warum schützt du ihn?", fragt er.

Ich schaue aus dem Fenster.

Will seufzt tief. Ich merke, wie sehr ihn das frustriert. Und ich verstehe es. Wenn ich wüsste, dass jemand Will wehtut. Ich weiß nicht, was ich machen würde, zu was ich fähig wäre.

Wir kommen bei Will an und Darya und Chris sind im Garten. Chris spielt Basketball und Darya entfernt Unkraut. Sie lächelt, als sie uns sieht. Und Chris rennt zum Auto und umarmt mich, als ich aussteige.

„Was ist mit mir?", lacht Will und Chris rennt zu ihm und umarmt ihn ebenfalls. „Hey, Mom."

„Hey, ihr beiden."

„Ist es okay, wenn Ari eine Weile bei uns wohnt?", fragt er.

„Nur ein paar Tage.", werfe ich ein.

Darauf runzelt Will die Stirn.

„Natürlich.", sagt Darya. Dann blickt sie zwischen ihrem Sohn und mir hin und her. „Ich bereite das Gästezimmer vor."

„Danke.", sage ich.

Will zeigt Chris ein paar Basketball Tricks und ich folge Darya nach drinnen. Sie führt mich in einen Raum mit einem Bett, einem Schrank und einem Fernseher. Ich stelle meinen Rucksack ab.

„Ist das wirklich okay?", frage ich.

Darya umfasst meine Oberarme und drückt sanft. „Natürlich, du bist hier immer willkommen, Süße."

Dann bringt sie frische Bettwäsche und ich sage, dass ich das Bett selbst beziehen kann. Trotzdem hilft sie mir dabei. Darya erinnert mich an meine Mom, als sie noch gelebt hat.

Meine Mom war liebevoll und hilfsbereit. Sie war eine wunderbare Mutter. Als sie gestorben ist, war es so als wäre ein Teil von mir auch gestorben. Und als mein Vater mich das erste mal geschlagen hat, ist ein weiterer wenn auch kleinerer Teil von mir gestorben.

Ich weiß, dass ich irgendwie...gebrochen bin. Aber ich lebe. Ich habe überlebt. Und darauf kann ich stolz sein.

Nachdem ich mich in meinem vorübergehenden Zimmer eingerichtet habe, gehe ich wieder nach draußen zu Chris und Will.

Will wirft mir den Ball zu und deutet auf den Korb. Ich grinse. Dann setze ich zum Wurf an, auch wenn ich bestimmt fünf Meter entfernt stehe.

Aber was soll's. Ich schließe die Augen und werfe.

Ich öffne meine Augen wieder, als ich Chris jubeln höre. „Ja, Ari! Du bist viel besser als Will!"

Vor mir sehe ich Chris herumhüpfen und weiter hinten steht ein fassungsloser Will. Anscheinend habe ich getroffen.

„Hast du das gehört?", frage ich. „Ich bin besser als du."

„Viel!", ergänzt Chris.

„Was soll das, Merida? Du lässt mich schlecht dastehen.", grinst Will.

Dann fährt ein schwarzer Wagen in die Einfahrt und es steigt ein blonder Mann aus, den ich von den Bildern als Wills Dad erkenne.

„Hallo, ihr drei.", begrüßt er uns lächelnd und ich weiß, woher Chris sein verschmitztes Grinsen hat.

Im Nachhinein frage ich mich, wie ich je glauben konnte, das wären Wills leibliche Eltern. Die Haarfarben und Augenfarben passen nicht und wo Wills Gesicht kantig ist, ist das seines Dads rund.

„Ich bin Ari.", stelle ich mich vor.

„Ach, du passt auf unseren Chris auf, oder?"

Ich nicke. „Ja."

Will legt seinen Arm um mich. „Sie ist auch meine feste Freundin, Dad."

„Sieh mal einer an.", lacht dieser. „Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Tom."

„Freut mich."

„Kommt ihr zum Essen?", ruft Darya von drinnen.

Wir setzen uns alle an den Tisch und Wills Mom tischt uns ein frischgekochtes Essen auf. Alle schöpfen sich und reden dabei miteinander. In dem Moment könnte ich heulen. Es ist eine so familiäre vertraute Stimmung.

Als Will dann seiner Mom erzählt, dass wir zusammen sind, und sie einfach warm lächelt und sagt, wie schön das ist, blinzle ich meine Tränen weg.

Es kann so einfach sein. Es kann so schön sein. Warum kann ich sowas nicht haben?

Broken BondsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt