26. Kapitel

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"Sie darf sich auf keinen Fall aufregen. Haben Sie das verstanden? Das ist wichtig!" Ich nicke der Ärztin zu, die sich wie ein Baum vor Amalies Tür aufgebaut hat und mich mit eindringlichen Blicken durchbohrt. Sie erinnert mich an einen riesigen Wachhund. Gelbe Zähne so groß, wie die eins Pferdes, Falten um die Augen, den Mund und die Nase und man wartet regelrecht darauf, dass ihr der Speichel am Kinn heruntertropft. Außerdem ist sie so groß, dass ich mich auf Zehenspitzen stellen müsste um ihr an die Schulter tippen zu können. Ich hoffe innerlich, dass sie keine Kinder hat, die dieses atemberaubende Aussehen von ihr erben könnten. Atemberaubend in soweit, dass man vor Schreck die Luft anhält, wenn sie sich vor einem postiert. Noch schlimmer ist ihre Stimme. Jeder kennt das Geräusch einer Kettensäge und eines alten Fernsehers, der nur Rauschen von sich gibt. Mischt man das beides zusammen und baut ein paar Wörter ein, dann hat man den besten Vergleich, um sich vorzustellen, welche Art von Tönen aus ihrem Mund kommen. Vom Geruch fange ich nicht an.
"Das heißt auch, dass sie sich nicht bewegen darf", blubbert die Dame mir ins Gesicht und pustet mir ihren Atem entgegen. "Das habe ich schon verstanden. Ich hatte schon öfter mit Kranken zu tun", antworte ich allmählich genervt. Ihr Blick ist sichtlich abgeneigt, aber sie setzt sich ganz  langsam in Bewegung. Die Lücke zwischen ihr und der Tür ist trotzdem so klein, dass ich mich wohl oder übel an ihr vorbeiquetschen muss. Nur mit großer Selbstbeherrschung unterdrücke ich mir ein Schaudern.

In dem Raum gibt es, wie überall im Versteck keine Fenster und dennoch empfängt mich ein so gleißend helles Licht, dass ich meine Augen im ersten Moment schließen muss. Auch die Kälte, die meine Beine hinaufkriecht überrascht mich. So habe ich Krankenstationen nicht in Erinnerung und ich war des öfteren mit meiner Mutter dort, bevor sie starb. Außerdem scheint die Dame vor der Tür nicht nur Amalie zu "bewachen". Um mich herum ist nur gefliester Boden und an der Wand mir gegenüber stehen nebeneinander aufgereiht ungefähr einhundert Betten. Mich überkommt das ungute Gefühl, dass die niemals ausreichen werden, sollte es tatsächlich zum Aufstand kommen. Schon jetzt ist fast die Hälfte belegt. Was geschieht dann erst, wenn Verwundete hinzukommen, deren Wunden versorgt werden müssen? Der Gedanke macht mir Angst und setzt sich in mir fest, wie eine Klette an meiner Kleidung und in meinen Haaren, wenn ich mich auf der großen Wiese vor unserem Haus aus Versehen in eine dieser Pflanzen gerollt hatte. Meine Mutter hat immer und immer wieder mit einem Kamm durch meinen Zopf gebürstet, um den Knoten herauszubekommen. Manchmal, als ich etwas kleiner war, habe ich geweint, weil es so weh getan hat. Irgendwie haben wir sie aber niemals gelöst, ohne ein oder zwei Strähnen abschneiden zu müssen. "Ich hoffe du bist nicht hier, weil du mich umstimmen willst", faucht mir eine Stimme aus der linken Ecke der Station entgegen. Ich beiße mir auf die Lippen und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass sie mich eiskalt erwischt hat. "Das dürfte ich doch gar nicht", bringe ich heraus; meine Qual hinter einem falschen Lächeln versteckt, "Du bist die Anführerin der Jäger. Widersprüche sind verboten." "Da hast du Recht Kind. Man muss mir gehorchen oder man stirbt." Erschrocken ziehe ich die Luft ein, die meine Zähne schmerzen lässt, so kalt, wie sie ist. "Hast du etwa etwas anderes erwartet", blafft Amalie mit vor Wut geröteten Wangen, "Das Schiff erreicht sein Ziel nicht ohne Kapitän und Meuterei wurde schon immer mit dem Tode bestraft." Ihre Augen funkeln mir entgegen und in ihnen ist ein Ausdruck, den ich vorher noch nie gesehen habe, der mir aber mehr Angst macht als alles andere, was ich vor kurzer Zeit noch als gefährlich betrachtet habe. Es ist Wahnsinn und Blutlust. Dann ist er auf einmal verschwunden und etwas anderes leuchtet in ihnen auf. Schmerz, tiefe Trauer und unendlich schwerer Verlust. "Er war mein Sohn. Mein Kind. Sein Leben sollte noch nicht zu Ende sein. Es fing gerade erst an. Warum? Warum? Warum? Warum?", bei jedem Wort wird ihre Stimme immer lauter, bis sie schlussendlich schreit. Sie will sich aufsetzen, reißt an den Schläuchen, die sie mit den Messgeräten verbinden, umschlingt ihre Arme und fährt mit ihren Fingernägeln über die nackte Haut, bis es blutet. Ohne zu wissen, was ich wirklich tue, greife ich nach ihren Handgelenken, drücke ihre Hände an ihren Oberkörper und schlinge meine Arme um sie, um zu verhindern, dass sie sich noch mehr antut. "Fass mich nicht an!", brüllt sie so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten würde, aber ich werde sie nicht loslassen. Immer und immer  wieder befiehlt sie, dass ich sie lassen soll; dass sie sich beruhigt hat, doch ihre Stimme zittert und ist verräterisch hoch. Ihre Worte werden zu einem anhaltenden, spitzen Schrei, der jedem, der in der Nähe sein sollte, durch Mark und Bein fährt. Sie strampelt mit ihren Beinen und windet sich in meinem Griff; dann beißt sie mir in die Hand. Ich spüre, wie das Blut meinen Handrücken hinunter läuft und auf ihr Hemd tropft. Der Schmerz ist schrecklich. Es fühlt sich an, als würde sie immer wieder zubeißen und ein Stück Haut von mir abreißen. Dann spuckt sie es aus; schreit und gräbt ihre Zähne erneut in meine Hand. Ich sehe nicht hin. Immer fester halte ich sie und immer stärker wird ihre Gegenwehr, bis sie plötzlich erschlafft. Noch ein kurzes Zittern, dann sackt sie in meinen Armen zusammen, als wäre die Batterie jetzt leer. Vielleicht ist es nur ein Trick und sie stürzt sich auf mich, wenn ich meine Arme von ihr löse. "Du kannst sie loslassen Mädchen", murmelt eine mir nur allzu bekannte Stimme. Der Baum von vor der Tür beugt sich über mich und zeigt mir eine Spritze, die mit einer blauschimmernden Flüssigkeit gefüllt ist. Benommen entlasse ich Amalies ruhigen Körper aus meinem Griff und sinke zitternd zu Boden. Ich kann nicht verarbeiten, was ich gerade gesehen habe. "Ich habe sie nicht mit Absicht... Ich wollte nicht, dass... Woher sollte ich wissen..." Mit einem einfachen Nicken unterbricht mich die Frau: "Ich weiß. Niemand kann etwas dafür. Sie ist außer Kontrolle." Ich fühle mich nicht in der Lage zu antworten, also bewege ich nur schwach meinen Kopf und hoffe, dass sie es als einen Nicken erkennt. "Zeig mir deine Hand", fordert sie mich mit einer Sanftheit auf, die ich von ihr niemals erwartet hätte. Erst jetzt merke ich, dass ich sie versteckt habe, um sie mir nicht ansehen zu müssen. Widerwillig ziehe ich sie hinter meinem Rücken hervor. Überall ist Blut und an manchen Stellen glaube ich das Weiß von Knochen durch das tiefe Rot hindurchschimmern zu sehen. Urplötzlich ist auch der Schmerz wieder da, den ich zuvor aus meinem Bewusstsein verdrängen konnte. Gequält beiße ich mir so heftig auf die Lippe, dass ich den metallenen Geschmack meines Blutes zwischen meinen Zähnen spüren kann. "Das sieht ziemlich übel aus", stellt sie trocken fest und holt eine kleine Dose aus ihrem Kittel, der mir vorher noch nicht aufgefallen ist. Schmerz und Sorge lässt alles vor dem Auge verschwimmen und schwächt die Konzentration. Auf dem Etikett lese ich das Wort 'Eis'. Die Ärztin sprüht es auf meinen Handrücken. Zuerst verändert sich gar nichts, doch dann verändert sich der Schmerz. Er wird ziehend und gleichzeitig pochend. Nach einer Minute ist er dann komplett verschwunden. Ein wohliges Kribbeln ersetzt ihn. "Ich werde die Wunde reinigen, desinfizieren..." Mein Gehirn schaltet einfach ab und verbannt das Gerede der Frau einfach in den Hintergrund. Die Umgebung scheint von mir durch eine dicke, milchige Glaswand getrennt zu sein und alle Geräusche und Bewegungen dringen nur gedämpft zu mir hindurch. Nichts scheint mehr wichtig oder real. Alles schwimmt nur so an mir vorbei, ohne eine Bedeutung zu haben, die ich verstehe. Nur ein Gesicht sehe ich vor mir. Hannah. Sie ist nicht hier, aber ich muss mit ihr sprechen, auch wenn ich nicht weiß warum. Es fühlt sich richtig an.

"Und dann kommst du zu mir, sagst,  du müsstest mich etwas fragen, hast aber gar keine Frage, die es zu stellen gilt, weil du nicht weißt, warum du eigentlich mit mir sprechen solltest, obwohl du weißt, dass du es tun musst. Habe ich das so korrekt zusammengefasst?" Ich nicke. Hannahs Worte treffen den Nagel auf dem Kopf. Sie erstaunt mich wieder aufs Neue mit ihrer Reife, trotz ihres jungen Alters. Als ich so alt war wie sie, habe ich vermutlich noch nicht einmal derartige Sätze in meinem Kopf gebildet. "Was hat Amalie gesagt?", reißt mich ihre Stimme aus meinen Gedanken, die mal wieder irgendwo anders waren. "Entschuldige bitte, was willst du wissen?" Sie verdreht die Augen, wiederholt die Frage aber. "Sie hat irgendetwas gesagt über ihren Sohn, und dass er zu früh gestorben ist", antworte ich müde. "Das weiß ich. Was hat sie noch gesagt. Davor oder während sie so ausgerastet ist?" In meinem Kopf herrscht ein riesiges Durcheinander: "Könntest du mir das mit ihrem Sohn erklären?" Hannah starrt mich kurz an, dann scheint ihr etwas klar zu werden und sie nickt: "Entschuldige, das kannst du gar nicht wissen. Einer der Männer, die heute gestorben sind, war ihr erster und einziger Sohn Ludwig. Das erklärt vermutlich, warum sie so komisch ist im Moment." Irgendetwas in ihrer Stimme lässt mich aufhorchen. Ein Unterton, der ihre Worte begleitet. "Hatte sie so einen Zusammenbruch schon einmal?", frage ich vorsichtig. Die Antwort folgt, wie aus der Pistole geschossen: "Nein!" Zu schnell. "Du lügst", stelle ich fest. "Was hat sie gesagt", fragt Hannah erneut, um vom Thema abzulenken. "Beantworte meine Frage!" "Bitte sag mir, was sie gesagt hat", bittet sie. Ihre Stimme zittert und ihre Lippe bebt. Gleich würde sie anfangen zu weinen. "Bitte", flüstert sie noch einmal. Verwirrt erzähle ich ihr von Amalies Drohung, dass jeder sterben würde, der sich wiedersetzt. Außerdem beschreibe ich ihr den Ausdruck in ihren Augen. Ich lasse weg, dass sie mir fast die halbe Hand zerfleischt hat, aber in Hannahs Blick sehe ich, dass sie das schon längst weiß. "Sie hat nichts über ihre Tochter gesagt?", fragt sie nach einem Moment der Stille auf einmal. Die Tränen lassen ihre Augen glänzen. Langsam schüttele ich den Kopf. Ein Schluchzer rüttelt ihren Körper und sie beginnt zu weinen. Sofort nehme ich sie in den Arm, obwohl ich erwarte, dass sie mich von sich stößt. Nichts passiert. Sie lehnt ihren kleinen Kopf an mich und lässt ihren salzigen Tränen einfach freien Lauf. Zum ersten Mal seit ich sie kenne, wirkt sie auf mich so zerbrechlich, wie ein kleines Kind. Ich sage nichts, sondern warte einfach ab, bis sie sich wieder beruhigt. "Danke", murmelt sie, durch den Stoff meines Kleides gedämpft. "Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, okay?" Sie nickt. Ihr ist anzusehen, dass sie innerlich einen Kampf austrägt. Darüber, ob sie sich mir anvertraut oder nicht. "Hast du eine Mutter?" Ihre Worte sind so leise in meine Richtung gehaucht, dass ich sie kaum verstehe. "Sie starb im Krieg." Ihre Augen sehen mich wissend an: "Dann weißt du, wie es sich anfühlt jemanden zu haben, der einen liebt, auch wenn sie nicht mehr da ist." Ich nicke. Der Gedanke an meine Eltern macht mir auch die Jahre später noch zu schaffen. Es ist schwer, ohne sie zurechtzukommen. "Kannst du dir vorstellen, wie es ist, von der eigenen Mutter verstoßen zu werden?", in Hannahs Stimme liegt so viel Schmerz, Hass und eiskalter Traurigkeit, dass ich zusammenzucke als sie die Worte ausspricht, "Weißt du wie schrecklich es ist, sie jeden Tag zu sehen; jeden Tag zu hoffen, dass sie dir doch zeigt, dass sie dich liebt und dann einfach von ihr ignoriert zu werden, als wärst du Luft? Kann man durch so etwas wahnsinnig werden? Bin ich wahnsinnig Hope? Bitte sag mir, dass ich ganz normal bin und dass es an mir nichts gibt, dass ein Grund für dieses Verhalten sein könnte. Bitte." Die letzten Worte werden immer leiser; verunsichert schaut sie zu mir auf, bettelt mich mit ihrem Blick an, etwas zu sagen, aber mir sind alle Worte auf der Zunge gefroren. Was sagt man zu einem gebrochenen, verletzten Kind, das so viel durchgemacht hat; so viel Angst, Hoffnungslosigkeit und Wut. Welche Wörter könnten denn schon wieder gut machen, was die ersten fünf Jahre ihres Lebens zerstört haben? Es gibt nichts zu sagen, das meine Gefühle beschreiben könnte und niemand wird jemals in Worte fassen können, was für ein toller Mensch sie wirklich ist. Stumm greife ich nach ihrer Hand; drücke sie ganz fest und hoffe, dass sie versteht, wie ich mich fühle. "Wer ist es?", frage ich nach einer Weile, weil es das einzige ist, das meinen Mund verlässt. Ich fürchte mich vor der Antwort, denn ich glaube sie schon längst zu kennen. "Amalie Heller", kommt die Antwort und obwohl es eigentlich schrecklich sein muss, scheint sich alle Spannung und jeder Frust von dem kleinen Mädchen zu lösen. Sie ist keine halbe Erwachsene mehr. Neben mir sitzt nur noch ein fünfjähriges Kind, das seinen Platz in der Welt noch nicht kennt und nicht weiß, wie es weitermachen soll. Der nächste Satz, den ich ihr in Ohr flüstere, kommt mir schneller über die Lippen als ich den Gedanken beenden konnte, doch ich weiß, dass es der einzige ist, der wirklich wahr ist: "Du bist niemals wirklich allein, wenn du Freunde hast, die für dich da sind." 

Hope.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt