52. Kapitel

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Mein Atem steigt in weißen Wölken in den klaren Himmel. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen und die Luft ist kalt. Der dünne Blazer schützt kaum vor dem Wind, aber die Frische, die mit ihm kommt, lässt mich lächeln. Endlich wieder Kälte auf meiner Haut. Ich hätte nie gedacht, dass ich sie einmal vermissen könnte, aber ich freue mich tatsächlich wieder zu frieren. Ich schaue an mir herunter. Solche Kleidung habe ich das letzte Mal zu der Hochzeit meiner Eltern getragen und da war ich nicht einmal halb so groß, wie ich es jetzt bin. Die Bluse ist so weiß, dass man meinen könnte, sie wäre gerade noch einmal frisch bemalt worden und sie hat nicht eine einzige winzige Falte. Alles ist perfekt. Sogar meine Haare sind gekämmt. Rose hat sie in einen Zopf geflochten, damit sie mir nicht andauernd ins Gesicht fallen. Heute morgen hätte ich eigentlich noch etwas essen sollen, aber ich wollte mir den Geschmack von dem Honigkuchen nicht mehr verderben lassen. Mein Magen dankt es mir jetzt, in dem er mehr als deutlich knurrt, aber es ist mir egal. Das ich hören kann, wie er die Ruhe stört, beweist mir, dass ich noch lebe, dass da noch einige Sekunden zu leben sind und Sweatheart auch noch Minuten hat, die es sich bewegen und strecken kann. Diese Welt hat und wird es nie sehen, aber es hat erlebt, wie ich in ihr gelebt habe und diese kurzen Eindrücke müssen reichen. Sie sind kurz, aber voller Freude. Natürlich habe ich auch geweint, aber daran werde ich jetzt nicht zurückdenken und das kleine Wesen in meinem Bauch wird sich auch nur an das erinnern, an das ich mich erinnern will. Es waren nicht einmal drei Wochen, in denen ich gefangen war, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Heute ist der zehnte Juli. Lange wusste ich nicht, welches Datum an dem Tag ist, in dem ich gerade atme, aber heute weiß ich es. Mein Bein schmerzt nicht mehr, auch wenn ich es immer noch nicht bewegen kann. Das Gelenk meines Knies lässt sich nicht mehr vollkommen strecken oder krümmen. Es ist bewegungsunfähig, aber im Moment ist mir auch das egal. Ich spüre, wie es meine Schritte verlangsamt, aber auch das beweist mir, dass ich atme. In der Luft liegt heute morgen Spannung, Wut und Trauer. Ich stehe am Rand des kleinen Schlossgartens und sehe hinab in die noch dunkle Stadt, wo die Sonnenstrahlen noch keinen Stein berühren. In meinen Fingern halte ich die weiße Rose, die ich vorhin gepflückt habe. Sie ist wunderschön, perfekt und makellos. Ihr weiß ist so rein wie das meiner Bluse und die Form der einzelnen Blätter ist geschwungen, wie in der Zeichnung eines begabten Malers. Alles an ihr ist so, wie es sein soll und genau das macht mich traurig. Nichts natürliches ist so perfekt. Die Blume in meiner Hand ist eine einwandfreie Kopie eines Originals, das es schon lange nicht mehr gibt. Atemberaubend, aber nicht echt. All diese Schönheit gibt es nicht mehr. Diese faszinierende Natur, die einst existiert hat, wurde ausgelöscht durch die Zerstörungskraft des Menschen. Es ist nichts mehr geblieben außer Imitationen. So eine, wie ich jetzt in meiner Hand halte. Die Dornen sind nachgestellt, wie sie wirklich waren. Spitz und gefährlich. Von meinen Handflächen tropft warmes Blut aus den Stellen, an denen sie sich in meine Haut gebohrt haben. Das dunkle Rot bildet einen dramatischen Kontrast auf dem Weiß der Blütenblätter. Unschuld getränkt in Blut und Tod. Eines fehlt in dem Bild. Schnee. Ich denke nicht an die Asche, die sich grau auf den künstlich grünen Rasen legt. Richtiger Schnee. Gefrorenes Wasser, das alles mit weiß bedeckt und alles, was nicht perfekt ist, verschwinden lässt. Wie schön wäre es die kalten Flocken auf dem Gesicht zu spüren, sie die kleinen Wunden meiner Hand kühlen zu lassen und jedem einzelnen Tropfen nachschauen zu können, zu beobachten, wie er ein Loch in die eisige Schneedecke brennt. Rot auf Weiß. Ich will den beißenden Wind auf meiner Haut spüren, wenn ein Schneesturm sich nähert und ich will die grauen Wolkengebilde bestaunen, die sich am Himmel wölben und das drohende Unwetter ankündigen. Ich will in der weißen Pracht tanzen, mich fallen lassen und einfach nur liegen bleiben, immer mit der Rose in der Hand, aber sie soll echt sein. Nicht perfekt, nicht makellos, nicht symmetrisch. Mit verwelkten Blättern, angebissener Blüte und Dornen, die kleiner sind als andere. Ich würde meiner Tochter oder meinem Sohn beim Spielen zusehen, könnte mit meinem Kind einen Schneemann bauen oder eine Schneeballschlacht machen. Ich würde es lachen hören und über seine roten Wangen streicheln. Meine schwarze Stoffhose will ich eintauschen gegen ein warmes Winterkleid, hellblau und mit langen Armen; weiße Schneeflocken eingenäht in den dicken Stoff. An meinen Händen wären ebenso blaue Handschuhe und meine Ohren wären bedeckt von einer Mütze, die meinen Kopf wärmt, damit ich nicht friere. Meine Haarspitzten wären durchnässt von dem fallenden Schnee, der sich in ihnen festklammert und zu schmelzen beginnt. Ich könnte spüren, wie sich mein Gesicht erwärmt, weil das Blut hineinschießt. Rote Wangen, die glühen. Mit meinen Händen könnte ich ein kleines Exemplar des Himmels auffangen und es bestaunen. Jede Flocke ist anders, als alle, die vor oder nach ihr gefallen sind. Sie sind alle verschieden. Unikate, die niemand kopieren kann, weil sie so detailliert und mit Liebe geformt sind, dass keiner in der Lage ist, jeden Strich genauso darzustellen. Sie wirken, wie kleine Kristalle, wertvoll und edel, obwohl sie so vergänglich sind. Wenn sie am Boden landen, dann passen sie perfekt mit den anderen zusammen, als wären sie ein großes Puzzle, das sich erst nach einem abenteuerlichen Fall wieder zusammenfindet. Ich frage mich, was sie auf ihrem Weg nach unten sehen würden. Wie weit könnten sie über die Welt hinweg schauen und erkennen, was an den verschiedenen Orten hinter unserem Horizont passiert? Wenn sie auf den Frost treffen, der die Grashalme und Pflanzen in weiß erstarren lässt, was könnten sie ihm dann erzählen? Ich wünsche mir den Schnee zurück. Ich wünsche mir die Welt zurück. So wie sie war.
"Alles ist vergänglich", als hätte er gewusst, was ich denke, "Auch die Schönheit der Natur." Seine Garderobe gleicht nicht einmal annähernd dem, was er gestern noch getragen hat. Heute sieht er aus, wie ein König, wie ein Mensch, der Macht hat und weiß wie er sie benutzen muss und kann. Nur seine Augen zeigen, dass er noch immer der ist, der er gestern war. Um die Schultern trägt er einen Umhang aus dem Fell irgendeines Tieres und die Krone auf seinem Kopf sieht aus, als könnte man sie überhaupt nicht mehr von seinem Kopf trennen. Keine Strähne seiner kurzen braunen Haare liegt da, wo sie nicht hingehört und auch seine Haut ist makellos. Er schützt seine Hände mit Samthandschuhen vor der Kälte, die der Morgen mit sich bringt. Sie sehen viel kleiner und zierlicher aus, als Lijahs; dünner, irgendwie zerbrechlich. Alles an ihm scheint zu rufen, dass er der mächtigste Mann ist, den man heute sehen wird und trotzdem ist ein Rest Normalität in seinen Augen hängen geblieben. Ein winziges Bisschen, das kaum erkennbar ist, wenn man nicht daran glaubt, dass es da ist. "Alles ist zerstörbar", murmele ich in den heulenden Wind, "Nicht vergänglich." Er nickt. Sein Gesicht verrät nicht, was er fühlt oder denkt. Es ist eine Maske aus Undurchschaubarkeit, die keine Emotionen nach außen lässt. Ein über Jahre ausgefeiltes Versteck. Dann überrascht er mich. Leise und mit einer unglaublichen Sicherheit der Töne beginnt er zu summen. Es ist die Melodie eines längst vergessenen Liedes. Eine Melodie, die ich seit so vielen Jahren nicht mehr gehört habe. Sie handelt von einem jungen Mann, der aufbricht, um die Freiheit zu suchen, die er Zuhause nicht finden kann. Er spricht davon, dass er kein Held oder etwas Besonderes sein will. Sein Wunsch ist es, einzigartig zu sein, ein Teil von etwas großem. Er will er selbst bleiben und sich nicht verstellen müssen um gemocht zu werden. Die Melodie ist fröhlich, traurig, laut und leise zugleich. Sie beinhaltet alle Gefühle, die ein Mensch in seinem Leben erlebt und die diesen einen Charakter ausmachen, dem Bild dieser einen Person seine Farbe geben, die es braucht um vollendet zu sein. Das Lied ist gefüllt mit Gedanken, Wünschen und Träumen, aber auch mit Wehmut und Erinnerungen. Mit einer erstaunlich tiefen Stimme summt er dieses Lied. Seine Augen sind geschlossen, als wäre er versunken in der Geschichte, die er gerade erzählt; verloren in dem, was einst gewesen ist. Ich schaue hinab auf die Rose, die in meine Finger sticht und streiche behutsam über ihre Blätter. Man tut ihr Unrecht, wenn man sagt, sie sei nicht schön. Sie ist es. Rosen vergangener Zeit haben anders ausgesehen, aber wir leben in einer neuen Welt, ein Ort, an dem alles perfekt ist und doch verschieden. Die eine kleine Pflanze in meiner Hand sieht trotz der fehlenden Makel anders aus, als die, die noch in dem Beet am Wegrand wächst. Alles ist anders, aber es ist neu. Die Natur, wie sie ein gewesen ist, existiert schon lange nicht mehr. Menschen haben sie zerstört, aber das, was es jetzt hier gibt, ist auf seine eigene Art und Weise einzigartig und schön. Nie wieder wird etwas so sein, wie wir es gekannt haben, aber das ist auch nicht das, was wir wirklich wollen, denn die Zeit läuft nicht rückwärts. Sie tickt einfach weiter in eine Richtung und wir passen uns an oder träumen unser ganzes Leben lang von dem, was nicht mehr zurückkommt. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen und wir würden es auch nicht wollen. Das ist gegen den Lauf der Dinge. Jeden Tag entsteht etwas neues und etwas altes verschwindet. Das ist das Leben, so funktioniert die Welt und so hat sie es schon immer getan. An jedem einzelnen Tag ist man etwas neues und etwas besonderes, denn auch man selbst verändert sich irgendwie ein bisschen und man kann nicht mehr dorthin zurück, wo man vor ein paar Jahren oder Wochen, vielleicht auch nur Sekunden gewesen ist. Darum geht es in dem Lied. Man wandert nicht von Ort zu Ort, sondern von Minute zu Minute und man verändert sich auch von Minute zu Minute. Alles ist dazu bestimmt und auch Zerstörung gehört zum Lauf der Zeit. Zerstörung und Neubeginn. "Bist du bereit?", fragt er als der letzte Ton verklungen ist und der Wind ihn weit in die Ferne getragen hat. Ich nicke und er reicht mir seinen Arm. Mit einem letzten bedauernden Blick lege ich die weiße mit Blut verschmierte Rose auf den Boden zu meinen Füßen. Sie bleibt zurück. Dann nehme ich den mir angebotenen Arm und blende alles andere aus meinen Gedanken aus. Einen Fuß vor den anderen, wie ein maschinell betriebener Mechanismus, der einfach weitermacht egal, was um ihn herum passiert. Die Gedanken, die ich mir gemacht habe um das, was gleich im Gericht passiert und all das, was danach noch auf mich wartet, sind vergessen. Ein Atemzug, eine Sekunde, ein bisschen mehr Leben. Mehr zählt nicht. Mehr darf nicht zählen, wenn ich noch lächeln will und das möchte ich. Lächeln und so lange wie möglich so tun, als wäre heute nicht der letzte Tag in meinem Leben. Es ist egal, was jetzt geschieht. Das Ergebnis bleibt gleich und ein Kampf, um das zu verhindern, was unausweichlich ist, würde Kraft kosten, die ich nicht bereit bin aufzuwenden. Ich habe nicht genug davon, um zu kämpfen und zu lächeln und ich habe mich schon vor einer Weile für das Lächeln entschieden. Das Leben hat genug Tage für mich gehabt, in denen Lächeln nicht möglich war und heute habe ich noch ein letztes Mal die Gelegenheit dazu. "Man wird dir kaum Fragen stellen." Ich nicke. Das weiß ich. Niemand, auch ich nicht, rechnet mit einem gerechten Prozess. Das Urteil wird innerhalb weniger Stunden fallen und egal, was ich sage, es wird nichts an dem ändern, was aus der Verhandlung resultiert. Es gibt nur eine Frage, die ich beantwortet haben möchte, bevor ich das Gericht betrete: "Wie?" Seine Augen schimmern und für einen kurzen Moment bröckelt die emotionslose Maske: "Erschießen." Wieder nicke ich. Dafür bin ich dankbar. Es geht schnell und man spürt nichts, wenn der Soldat richtig trifft. "Dann bin ich bereit." Er lächelt: "Nein das bist du nicht. Niemand ist das." Er hat Recht, aber wir setzten unseren Weg fort, weiter auf die vier Meter hohen, goldverzierten Türen des Gerichtsgebäudes zu.

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