5. Juni 3086

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Sie ist ein kleiner wunderschöner Engel. Meine Tochter. Einen Monat ist sie alt. Ihre Augen leuchten jedesmal, wenn ich sie ansehe. Kleine Hände hat sie. Winzig und so zerbrechlich. Die ganze Zeit über könnte ich sie knuddeln. So herzallerliebst. Sogar ihre Lache klingt unschuldig. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass sie niemals eine Mutter haben wird. Ich kann, ich darf mich nicht mehr um sie kümmern. Es wäre viel zu gefährlich. Ich habe ihren Vater gefragt, ob er sie aufnimmt. Ich weiß er würde es tun, aber er müsste wählen. Zwischen mir und seiner Tochter. Wie gerne würde ich sagen, dass er sich für sie entscheiden soll, aber ich brauche ihn. Wenn ich den Widerstand aufbauen will, dann sind sein Rat und seine Stärke unersetzlich. Ich kann ohne ihn nicht weitermachen, so leid es mir tut. Ich kann nur hoffen, dass mein kleines. Mädchen irgendwann versteht,  warum sie niemals bei mir sein kann. Dem Waisenhaus habe ich gesagt, dass sie ihr irgendwann sagen sollen, wer ihre Eltern sind. Sie soll es wissen. Vielleicht erst wenn ich schon tot bin. Das ist feige, ich weiß. Ich fühle mich nicht in der Lage, ihr jemals erklären zu können, warum ich es tun muss. Ich will den Schmerz nicht in ihren Augen sehen. Verrat ist und bleibt Verrat, egal aus welchen Gründen er geschieht und ich verrate meine eigene Tochter. Einen Vater hat sie auch nie. Wie gerne würde ich ihr eine Kindheit schenken, wie ich sie hatte. Jeden Tag ein neues Abenteuer und Liebe um sich herum. Sie hätte es verdient.
Ich kann die Jäger nicht mit einem Kind an meiner Seite führen. Meine volle Aufmerksamkeit und meine gesamte Zeit wird benötigt werden, um ein Netzwerk aufzubauen, das uns tatsächlich eine Chance lässt, zu gewinnen. Nebenher kann ich mich nicht um ein Kind kümmern. Wir hätten vorsichtiger sein sollen. Wenn ich sie niemals bekommen hätte, würde ich mich jetzt nicht so schlecht fühlen.
Eigentlich ist das gelogen. Ich wollte ein Kind. Es ist das schönste Gefühl der Welt, wenn es lacht. Erst jetzt werden mir die Konsequenzen bewusst und ich schäme mich dafür, so naiv gewesen zu sein. Ich hatte tatsächlich geglaubt, es würde schon irgendwie gehen, aber ein Kind spielt nicht nur Zeit. Es macht einen auch verletzlich. Wenn sein Kind in Gefahr ist, macht man alles, um es in Sicherheit zu bringen und handelt oft unüberlegt. Das würde die Jäger angreifbar machen. Eine schwache Anführerin kann sie nicht in den Sieg führen. Jeder weiß das.

5. Mai 3089

Sie steht vor meiner Tür. Eigentlich sitzt sie. Ich lehne auf der anderen Seite an dem kalten Holz. Was tut sie hier? Wie ist sie überhaupt hierher gekommen? Einfach nur angesehen hat sie mich und nur eine einzige Frage gestellt: "Bist du meine Mutter?" Ja. Ja das bin ich, aber wie hast du es herausgefunden. Niemand hat es dir gesagt, das weiß ich. Woher weißt du es dann? Du bist drei. Wie lange hast du nach mir gesucht? Warum bist du hier? Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Erleichterung? Freude? Oder Bestürzung? Ich wollte niemals, dass das passiert. Ich will mich nicht entscheiden. Niemals. Aber was soll ich tun? Ich kann nicht einfach so tun, als wärst du schon immer da gewesen und eine Mutter sein. Einen Monat nach deiner Geburt habe ich mich schon entschieden, dass ich mich nicht um dich kümmern kann. Was soll ich jetzt sagen? Ich kann dir doch nicht einfach sagen, dass du verschwinden sollst und vergessen sollst, wer ich bin. Das kann ich dir nicht antun! Dein Vater! Er könnte doch... Nein das kann er nicht. Die Situation von damals hat sich nicht verändert. Seine Hilfe ist zu wichtig. Er ist mein engster Berater. Ich kann ihn nicht mit seinem Kind konfrontieren und ihm sagen, dass er jetzt zwei Aufgaben hat. Am besten ist, er erfährt nie, dass du überhaupt hier warst.
Du sprichst. Mithelfen willst du? Zu den Jägern gehören. Ich würde gar nicht merken, dass du da bist. Du kannst bestimmt helfen. Es müsste auch niemand wissen, dass du meine Tochter bist. Niemandem würdest du es sagen.
Du machst es mir immer schwerer meine Kleine. Wie kann man in deinem Alter schon so erwachsen sein? Drei Jahre bist du alt und du sprichst, als wärst du gerade achtzehn geworden. Was würde passieren, wenn ich sage, dass du bleiben kannst, aber mit mir nur sprechen darfst, als wäre ich eine ganz gewöhnliche Frau? Wer von uns beiden würde mehr leiden? Ich darf keine Beziehung zu dir aufbauen. Könntest du so leben und wirklich niemandem erzählen, wer ich bin? Weißt du, wer dein Vater ist? Würdest du ihn auch so behandeln?
Ich kann dich nicht fortschicken. So sehr es mich schmerzt, dass ich dich jeden Tag sehen, aber niemals Tochter nennen darf, aber wieder wegschicken werde ich dich nicht. Es wird ein langes Gespräch zwischen uns beiden werden und ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst, auch wenn ich dir das Herz brechen muss. Du sollst nur wissen, dass es mir nicht besser geht. Schon jetzt fühle ich mich krank.
Du hast einen Bruder. Warum habe ich ihn behalten? Er ist geboren, da hatte der Krieg noch nicht begonnen und er war viel älter als du, als die Kämpfe starteten. Trotzdem habe ich auch ihn von mir gestoßen. Er ist hier, aber genauso wie für dich, bin ich in seinen Augen eine Fremde geworden. Ich liebe euch aber beide. Wenn einer von euch sterben würde, dann...
Ich werde jetzt die Tür öffnen. Mit ihr ein neues Kapitel und ich hoffe so sehr, dass ich irgendwann ein Happyend in meinem Leben haben kann. Irgendwann. Einen Tag oder eine Minute, in der ich einfach nur sein kann, wer ich bin, in der ich dich an mich drücken kann und dabei Ludwigs Hand halten. Ihr seid meine Kinder. Jo soll auch da sein. Dann wäre alles perfekt. Wenigstens ein einziges Mal. Ich hätte es niemals verdient, aber wünschen werde ich es mir trotzdem. Wünsche machen Hoffnung, Hoffnung macht Mut und Mut können wir alle gebrauchen.

Amalie

Hope.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt