54. Kapitel

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"... zum Tode!" Rauschen. In meinem Kopf brodelt ein Meer. Wütend schlagen die Wellen aus Blut. Sie ziehen alles mit sich, was sie zu fassen bekommen, reißen es in die Tiefe und ertränken es. Gigantische Monster aus Wasser, die ihre Zähne nach all denen ausstrecken, die sich nicht wehren können. Ich fühle mich erinnert an einen Sturm, der über die Küste jagt. Das Meer schäumt und schreit, schlägt mit seinen Wellen auf den Strand. Wolken aus wirbelndem Sand steigen in den Himmel und zerbersten wieder in winzige Körnchen. Der eiskalte Regen peitscht an die so dünn wirkenden Scheiben, trommelt gegen das zerbrechliche Glas. Trommeln könnten nicht schöner spielen. Der Wind dirigiert. Mit heulenden, klagenden Lauten mischt er sich mit unter die schreienden Instrumente der Natur. Als könnte er singen. Vielleicht kann er das sogar, aber kein Mensch wäre jemals in der Lage die wehmütigen Töne zu hören, die genug Kraft haben, um uralte Bäume zu entwurzeln, die schon Generationen von Menschen haben leben und sterben sehen, ohne an ihren eigenen Tod denken zu müssen. Jetzt sterben sie. Einfach so. Generationen werden mit ihnen vergessen. Erinnerungen gehen. Der mit grauen Wolken bedeckte Himmel weint bitterlich und brüllt all seinen Zorn heraus. Er singt ein Klagelied aus längst vergangener Zeit. Aus einer Zeit, in der Menschen noch ein Teil der Natur waren und kein Feind. Eine Zeit, in der Wolken noch sprechen, Stürme noch singen und der Himmel noch vor Freude weinen konnte. Hätte er Gefühle dann könnte niemand mit Worten beschreiben, welche Qualen er jetzt erlitten haben muss, um so schrecklich bekümmert zu sein. Mit seinen Händen aus Wind und seinen wässrigen Tränen verwüstet er, was ihm zu nahe kommt und knisternde Blitze verbrennen das, was noch lebt, das, was einst ein Teil des Ganzen war, ein Teil der Welt. Der folgende Donner lässt Tassen und Teller in den Regalen erzittern. Hätten Wolken eine Armee, die Pferde würden über den Himmel jagen und mit ihren Hufen in die Luft trommeln, um derartige Geräusche zu verursachen. Auf ihren Rücken säßen Krieger, die Pfeile aus brennendem Holz auf den Boden schießen würden. Sie treffen, was ihnen am nächsten ist. Der Regen stürzt sich als Fußsoldat hinab und teilt die feindlichen Reihen, um Platz zu machen für die berittenen Kämpfer. In Scharen fallen die Feinde. Die stärkste Waffe ist das Meer. Es bricht alle Mauern der Verteidigung, reißt alle Wälle ein, die errichtet werden. Es ist unkontrollierbar, unvorhersehbar. Seiner Kraft ist nichts entgegenzusetzen. Es reißt mit sich, was es mit sich reißen will und es ertränkt, was oder wen es ertränken will. Damals bestand die einzige Gefahr in der unbezwingbaren Kraft des Wassers. Heute reicht schon ein Tropfen, um sich zu verbrennen. Man braucht nicht zu ertrinken, um zu sterben. Man kann auch verbrennen. Chemikalien machten die Wellen zu glühenden Fängen. Der Mensch zerstört und der Mensch wird zerstört. Es ist ein Kampf für Rache, ein Kampf ums Überleben, ein Kampf gegen das, was einen selbst zu vernichten droht. Mensch gegen Natur. Gewinnen kann nur das, was ohne den anderen fähig ist, zu überleben. Das, was schon vor dem anderen existiert hat und auch lange nach ihm noch existieren wird. Die Natur. Immer hat es sie gegeben und wer nicht mit ihr leben kann, der lebt nicht lange. Wir Menschen waren schon immer daran gewöhnt, das Raubtier zu sein. Erst wenn wir verstehen, dass auch wir zu Gejagten werden können, werden wir fähig sein zu leben. Solange wird das Meer brennen, der Wind heulen und Blitze wüten. Wenn Wolken sich am Himmel türmen, sollten wir uns demütig verstecken und darüber nachdenken etwas besser zu machen. Die Gewalt der Natur war schon immer faszinierend. Für mich auch. Figuren wurden auf die beschlagenen Scheiben gemalt. Gesichter, Tiere, Namen. Damals hatte ich noch Locken. Im Regen wollte ich tanzen. Den Sand wollte ich unter meinen Füßen spüren, wie er knirscht und ächzt. Kalt und nass war er, aber immer weich. Es war ein Gefühl der Freiheit, wenn der Regen meinen Rücken hinunter gelaufen ist und meine Haare aneinander geklebt hat. Meine Kleidung haftete an mir, wie Klebestreifen auf einem Blatt Papier und man kam sich dreimal schwerer vor als sonst. Das Rauschen des Meeres hörte sich an wie eine Melodie eines Kinderliedes, so bekannt war es in meinen Ohren. Nachts hat es mich in den Schlaf geführt. Ein stetiges Geräusch, das beruhigend daran erinnert, dass das, was man durch den Schlaf hinter sich lassen wird, auch am Morgen noch da sein wird. Ein Versprechen so kraftvoll und bedrohlich das Wasser sein mochte. Ein Versprechen des Bleibens. Geborgen hatte ich mich gefühlt, beschützt durch eine Macht jenseits aller Vorstellungskraft. In die Tiefen des blauen Meeres habe ich mich geträumt. Mit den Fischen bin ich um die Wette geschwommen und zusammen haben wir unbekannte Orte erkundet und Schätze entdeckt. Alte versunkene Schiffe dienten uns als Spielplatz und jedes Mal haben wir neue unvergessliche Abenteuer erlebt. Meine Eltern lachten jeden Tag, wenn ich ihn beim Frühstücken von meinen Unterwassererlebnissen erzählte. Sie wollte genau wissen, was für Fische ich gesehen und welche Art von Schiffen ich gefunden hatte. "Bunt waren sie", habe ich immer gesagt. Das waren sie. Sie schillerten in allen erdenklichen Farben und ich habe mich immer wieder gefragt, woher sie das Licht nahmen, das ihre Schuppen leuchten ließ. Ich habe die Urlaube am Meer so geliebt, auch wenn ich seit diesem einen Tag nie wieder im Wasser gewesen war. Die Fluten waren dennoch faszinierend und geheimnisvoll gewesen. Nicht die schönen Tage mochte ich am liebsten. Die stürmischen, kalten gefielen mir. Die Zerstörung war spektakulär. Atemberaubend, aber gefährlich.
Jetzt schreit der Himmel in meinem Kopf. Alles, was der Sturm finden kann, schleudert er in das tosende Meer aus Blut. Erinnerungen, Gefühle, Gedanken. Alles ertrinkt in den undurchdringlichen Tiefen aus Rot. Manche kämpfen mehr als andere, aber alle sterben sie. Namen verschwinden aus meinem Kopf, Gesichter verblassen. Ich bin nicht mehr fähig Worte zu verstehen, die gesprochen werden. Sie vermischen sich mit dem Brüllen des Windes. Warum ist Blut rot? So dunkelrot? Man fürchtet sich davor. Es ist wie ein Monster, das einen ständig verfolgt und nicht mehr gehen lässt, wenn es einen einmal in seinen Klauen hat. Verbluten ist kein schöner Tod. Manche denken das, aber es ist schrecklich, wenn man fühlt, wie die Energie in roten Strömen aus einem herausgepumpt wird. Mit jedem weiteren Herzschlag macht man einen weiteren Schritt zum Tod. Immer Kälte wird es. Man kann spüren wie alles schwerer wird. Die Augen offen zu halten ist das Schlimmste. Sie beginnen zu flackern, aber man will solange wie nur möglich wach bleiben. Menschen, die sterben, sehen alles mit anderen Augen. Ihnen wird klar, was wirklich wichtig ist und was nicht und sie haben verstanden, was sie alles in ihrem Leben falsch gemacht haben, worauf sie nicht geachtet haben. Wie gerne würden sie die Zeit zurückdrehen und noch einmal von vorn beginnen. Warum begreift man erst in seinen letzten Sekunden, wie das Leben spielt? Man ist niemals schlauer als zum Zeitpunkt seines letzten Atemzuges. Niemals. Werde ich wissen, wann ich das allerletzte Mal Luft hole? Werde ich wissen, wann der letzte Sauerstoff in meinen Körper dringt? Werde ich wissen, wann der Schuss kommt?
Wo bin ich eigentlich? Alles dreht sich. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich stehe, liege oder sitze. Vielleicht spricht man mit mir. Wer weiß, ich könnte auch gar nicht mehr bei Bewusstsein sein. Kein Gedanke in meinem Kopf lässt sich zu einem Satz formen und nichts ergibt einen Sinn. Mein Kopf fährt Karussell und es will nicht mehr aufhören sich zu drehen. Immer schneller wird es. Bunte Farben vermischen sich zu einem Grauton und ich glaube Schatten darin zu erkennen. Gestalten, die mit mir sprechen wollen. Sie strecken ihre Krallen nach mir aus, strecken mir ihre Zähne entgegen, als wollten sie ein Stück von mir haben. Ihre Augen leuchten blutrot. Ich kann ihre Knochen zählen. Jeden einzelnen. Einige sind gebrochen. Sie ähneln Skeletten. Laufenden, lebendigen Skeletten. Eines schlägt mit seinem Arm in meine Richtung. Er ist so dünn wie ein Stock und er würde zerbrechen, wenn man ihn zu lange anschaut. Mit kreischenden Stimmen schreien sie alles auf mich ein. Ihre Zähne sind schwarz und abgebrochen. Wie gern würde ich mir die Ohren zuhalten, aber ich kämpfe einen Kampf gegen mich selbst ganz tief in mir. Aufgeben und Kämpfen. Auf welcher Seite befinde ich mich, wenn ich doch auch die andere Seite bin? Wo gehöre ich hin? Was sollte jemand in so einer Situation tun? Von welchem Teil von mir wünsche ich mir den Sieg? Ich kann nicht einmal sagen, für was die Gestalten stehen. Kämpfen oder Aufgeben. Tränen aus Blut und vergangenen Erinnerungen strömen durch meinen Kopf. Weine ich wirklich? Vielleicht wünsche ich mir auch nur weinen zu können. Oder es trauert nur noch ein winziger Teil meines Gehirns um das, was bald nicht einmal mehr Erinnerung sein kann. Ich möchte schreien. Fragen was ich tun soll, aber niemand ist da, der mir helfen kann. Niemand kann mir die Entscheidung abnehmen. Sie ist allein die meine. Welche Wahl habe ich denn? Ich sterbe so oder so. Es ist egal, ob ich aufgebe oder kämpfe. Nichts wird sich daran ändern. Alles, was jemals ein Teil von mir war, wird sterben, wenn ich sterbe. Mir wird nichts bleiben. Ich werde mich nicht einmal daran erinnern können, wie ich gestorben bin, ob ich nur darauf gewartet habe oder ihnen allen ins Gesicht gelacht habe. Es wird keine Rolle mehr für mich spielen.
Schatten bekämpfen Schatten. Ein Strudel aus Rot und Schwarz wirbelt alles auf und alles wird still. Von dem Bruchteil einer Sekunde auf den anderen ist alles verschwunden und nur Finsternis bleibt. Alles ist dunkel mit Ausnahme eines einzigen winzigen Lichtes. Ich sehe mich selbst. Vielleicht in einer Erinnerung, vielleicht auch nur in einer Vorstellung. Barfuß laufe ich über eine grüne Wiese. Das weiße Kleid schmiegt sich um meine Beine und meine Haare wehen im warmen Sommerwind. Die Sonne scheint in mein Gesicht. Selbst in dem Rauschen in meinem Kopf kann ich mein Lachen ausmachen. Es ist so klar, dass es einen aus jeder Melancholie reißen würde. In der Dunkelheit ist auch das kleinste Licht heller als ein Stern. Dann sehe ich sie. Gesichter. Menschen, die ich einst kannte. Ihre Namen sind verschwunden in den Tiefen des schäumenden Meeres, aber die Gefühle, die ich für sie hatte, sind Erinnerung genug. Für mich mag es nicht mehr wichtig sein, was mit mir geschieht und wie es geschieht, aber sie werden sich daran erinnern. Wenn ich weinend sterbe, werden sie es wissen und wenn ich lächle, dann vergessen sie es nie. Es geht nicht darum, was für mich das Beste ist. Nichts, was ich tue, wäre in der Lage mich zu retten. Es geht darum, was für sie das Beste ist. Woran sollen sie sich erinnern? An jemanden, der dem Tod mit keinerlei Gefühlen ins Auge sieht oder an jemanden, der den Kopf bis zum Schluss erhebt und noch immer lächelt, wenn der Schuss von den Gassenwänden widerhallt? Aufgeben war schon immer der falsche Weg. Einfacher, aber falsch. Wer aufgibt, verliert. Spiele Schach ohne daran zu glauben, dass du gewinnen kannst und du wirst verlieren. Jede Chance, die sich dir bietet, wirst du übersehen. Glaube an einen Sieg und irgendwann wirst du selbst den schlagen, der stets dein Meister gewesen ist. Wenn ich jetzt sage, dass alles, was ich tue vergebens ist, vergeudete Zeit, dann würde ich das letzte bisschen Glück, was ich vielleicht noch sehen soll, nicht mehr erkennen. Meine letzten Minuten sollen nicht grau sein vor Selbstmitleid. Ich will all die Farben, die das Leben noch zu bieten hat, sehen und genießen. Was morgen sein wird, kann ich nicht wissen und ich werde es auch niemals erfahren, aber was im Hier und Jetzt geschieht, das kann ich genauso erleben, wie es ist. Das muss ich genauso erleben wie es ist. Mehr bleibt mir nicht und eigentlich ist mir das doch gestern schon klar gewesen. Manchmal bedarf es eben nur einer kleinen Erinnerung an das, was man sich selbst verspricht. Das Meer hat mir damals versprochen, immer an dem Ort zu verweilen, an dem es jetzt ist und ich habe mir versprochen, bis zu meinem Tod, die Frau zu sein, die ich schon immer gewesen bin. Eine lächelnde, freundliche Frau.
Ich schlage meine Augen auf.

Hope.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt