31. Kapitel

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Die Dunkelheit um uns herum ist so dicht, wie der Nebel über einer Wasserfläche im Winter, wenn das Wasser selbst noch nicht gefroren ist.  Am Himmel scheint heute Nacht kein Mond, obwohl keine Wolke die runde Scheibe verbergen könnte. Wenn ich nicht wüsste, dass vor mir jemand läuft, dann würde ich selbst das Geräusch seiner Schritte nur für das leise Rauschen des Windes halten, der sanft an meinen Haaren zieht. Mit der schwarzen Kleidung ist keiner von uns im Schwarz der Nacht zu erkennen. Dunkle Gestalten, die durch die Straßen gleiten, wie ein dunkler Fluss in einer Schlucht seinen Weg findet; ohne eine Orientierung. Der Weg ist einfach da. Nur die Augen haben wir in unseren Masken frei gelassen, damit wir noch etwas sehen können. Hier in der engen Gasse hätte es jedoch keinen Unterschied gemacht. Die Nach wirbelt um den einzelnen herum und lässt alles so verschwommen erscheinen, wie die Welt unter der Meeresoberfläche. Alles ist so weit weg von der Realität. Das Gewicht der Pistole in meiner Hand ist der einzige Ankerpunkt, der mich zuverlässig daran erinnert, dass ich nicht in einem Traum versunken bin aus dem ich einfach aufwachen kann, wenn irgendetwas passiert. Neben mir ragt die Mauer des Stadtwachenhauptquartiers auf, wie ein riesiges Ungeheuer, das bereit ist, sich jederzeit auf uns zu stürzen. Die Kälte, die die Steine abgeben aus denen sie einst errichtet wurde, dringt mir durch Mark und Bein. Je näher wir unserem Ziel kommen, desto dicker scheint die Luft zu werden und desto langsamer nehmen meine Lungen den erwarteten Sauerstoff auf. Mit jedem Atemzug verschwimmen meine Gedanken mehr und mehr zu einer Masse aus weichem Schaumstoff, der alle Eindrücke von draußen abfedert und nur langsam zu mir hindurchsickern lässt. Meine Füße scheinen sich in Zeitlupe zu bewegen und gleichzeitig nicht einmal meine eigenen Füße zu sein. Ich fühle mich, wie eine ferne Beobachterin, die alles weiß und doch nichts beeinflussen kann. Gehauchte Worte, die an mich gerichtet sind, höre ich kaum und doch kann ich sie beantworten. Mein Gehirn arbeitet nicht mehr mit meinem Körper zusammen. Ich denke über die ganze Abstraktheit der Situation nach, während meine Beine in die erwartete Richtung laufen und meinen Lippen Befehle entweichen, die ich meinem kleinen Trupp zukommen lasse. Wir haben uns geteilt, um das Feuer so schnell wie möglich auf das gesamte Gebäude verteilen zu können. Es gibt einen Zeitplan, den es zu beachten gilt und von dem ich hoffe, dass mein Körper sich auch ohne meinen Verstand daran erinnern kann. Das Lüftungsgitter gewährt uns den Einlass ins Innere des Gebäudes, das von außen aussieht, wie ein gigantischer Palast. Wie hoch müssen die Schlossmauern sein, wenn schon die Stadtwache so riesige Wände hat, dass sich ein Ende von unten nicht erkennen lässt. Was würde oben auf einen warten, wenn man es schaffen würde, die Mauer zu erklimmen, ohne vorher in den Tod zu stürzen? Soweit ich weiß, ist der eigentliche Eingang auf Höhe der "zweiten Ebene" und nicht hier im Untergrund. Vielleicht sind wir im Keller? Ich bin mir nicht sicher. Der Lüftungsschacht, durch den wir nun langsam kriechen müssen, ist so eng, dass ich froh bin, nicht sonderlich groß zu sein. Mein Bauch ist noch nicht hinderlich beim Kriechen und ich bin die Einzige, die sich nicht hinlegen und vorwärts robben muss, wie ein gestrandeter Aal im Sand, der sich wieder ins Wasser zu winden versucht. Mein Vater hat mir mal erklärt, dass man sie töten muss, sobald man sie geangelt hat, weil sie sich sonst wieder zurück schlängeln können. Ich habe dabei zugesehen, wie sich der Fisch schlangenartig von mir entfernt hat. Es sah unbeholfen, aber auf irgendeine Art auch faszinierend aus. So als wäre er auch für das Land geboren worden. Menschen sehen keineswegs elegant oder anmutig aus, wenn sie kriechen müssen. Unsere Beine ermöglichen uns einen aufrechten Gang und wenn wir uns dann doch einmal klein machen müssen, dann sind wir so unbeholfen, wie Käfer, die auf dem Rücken liegen und mit ihren kleinen nutzlosen Beinen strampeln, die ihnen auch nicht helfen sich umzudrehen. Trotzdem beschwert sich niemand der Männer und Frauen hinter mir über die unbequeme Situation. Es mag ihnen nicht gefallen, aber sie haben ein Ziel, das sie erreichen wollen und wenn es nur diesen einen Weg gibt, dann nehmen sie ihn. Ein plötzlicher Luftzug auf meiner Wange lässt mich und alle anderen stoppen. Wir sind da. Unter uns befindet sich jetzt der Raum, in dem das Holz zum Heizen aufbewahrt wird. Er ist so zentral im Gebäude gelegen, dass er einen perfekten Brandherd abgeben wird. Auf dem gleichen Gang sollen sich auch die Räume mit den Waffen und Munitionen befinden, die ebenfalls vernichtet werden, wenn wir unsere Arbeit gut machen. Mit geschickten Fingern öffnet jemand die Schrauben des Lüftungsgitters, das in den Raum führt und ein weiterer entzündet einen langen Zweig, den wir bei uns haben. Wir reichen ihm Stroh, das er mit dem Stock entflammt und auf das Holz unter uns fallen lässt. Wir sind genau in der Zeit. Als der erste Scheit Feuer fängt, dann der zweite und der dritte und schließlich eine komplette Palette, schließen wir das Gitter wieder und machen uns so schnell es geht auf den Rückweg, um nicht an dem giftigen Rauch zu ersticken, der bald die Flure und Lüftungen des gesamten Gebäudes ausfüllen wird. Das Knistern des Feuers in unserem Rücken, suchen wir unseren Weg in dem Labyrinth aus Gängen und Abzweigungen. Über uns hören wir polternde Schritte und ich bete, dass es der zweite Trupp ist, der sich auf den Rückweg macht. Obwohl sich der Rauch noch nicht in den Schächten verbreitet hat, ist die kühle Nachtluft draußen eine willkommene Erleichterung für die strapazierten Lungen als wir endlich wieder hinaus klettern können. Im Gebäude war alles muffig und stickig gewesen. Ich brauche eine Zeit um meinen Atem wieder zu beruhigen, der vorher nur stoßweise funktioniert hatte. Auf leisen Sohlen entfernen wir uns gesammelt und vorsichtig von dem entflammten Giganten und flüchten hinter eine Ecke der nächsten Gasse, an der wir uns mit den anderen Trupps treffen sollen. Der erste ist bereits da und wir warten nur noch auf den dritten. Sie haben den längsten Weg, es ist also nicht ungewöhnlich, dass sie noch nicht hier sind. Keiner macht sich Sorgen, doch dann hören wir sie. Ein mir in letzter Zeit schrecklich vertraut gewordenes Geräusch. Schüsse. Sie zerschneiden die Luft, so dass es sich anhört wie berstendes Glas einer Scheibe, die durch einen Stein zerschmettert wird und ihren Regen aus Scherben über uns ergießt. Ich sehe mich selbst, wie ich mich ducke und verzweifelt versuche, den Standpunkt der Schützen auszumachen. Um mich herum staubt es, wenn eine Kugel in die Mauer hinter mir oder in den Sandboden neben mir einschlägt. Es ist ein Chaos aus unsichtbaren Geschossen, panischen Männern und Frauen und Lärm, der einen taub macht, für alles um sich herum. Man hört keine Schreie, keine Hinweise, keine Schritte; nur immer wieder einen lauten Knall, wenn ein Schuss dich knapp verfehlt hat. "Wenn du den Knall hörst, dann lebst du noch", hallt die Stimme meines Vaters in meinem Kopf, "Kugeln, die man wahrnimmt, treffen einen nicht im Kopf, denn sie sind schon an dir vorbei oder in deinem Arm." Durch die Verwirrung und die Panik ist es nicht möglich zu sagen, ob die andere Gruppe mittlerweile eingetroffen ist oder nicht. Alle rennen durcheinander, wie gehetztes Vieh und niemand wäre dumm genug zu versuchen, sie zu zählen. Ein tosender Strudel erfasst meinen schwebenden Geist und plötzlich bin ich wieder mitten drin im Geschehen. Ich sehe mir nicht mehr dabei zu, wie ich beschossen werde, jetzt bin ich wieder ich. Denken ist in der Situation kaum möglich und ich renne einfach so schnell es mein Bein zulässt davon. Die Schüsse scheinen nicht zu verschwinden oder wenigstens weiter entfernt zu sein. Es ist als würden die Wände auf mich schießen und nicht Menschen, die irgendwo hinter mir oder über mir sein müssen. Der Tod kommt von überall. Er streckt seine Krallen nach mir aus, um mich zu sich zu holen. Trotz meines Handicaps kann ich schneller laufen, als manche anderen. Ich bin von mir selbst überrascht als ich die anderen einhole, die schon vor mir die Idee hatten zu rennen. Die Jäger sind die Gejagten geworden in einem Sturm aus Geschossen, die auf uns herabregnen, wie Hagelkörner im Winter. Nichts schützt uns davor. Das flackernde Licht des brennenden Gebäudes hinter uns, wirft unsere Schatten zitternd auf den Weg vor unseren Füßen und macht das Fliehen in nur eine Richtung fast unmöglich. Es verwirrt unseren Verstand und zerstört jegliche Orientierung. Erschrocken schnappe ich nach der von Angst durchtränkten Luft, als der Boden unter meinen Füßen verschwindet und ich falle. Über irgendetwas muss ich gestolpert sein, das ich im scheinbaren Flimmern der Welt nicht wahrgenommen habe. Mit wird alle Luft aus den Lungen gepresst als ich auf den Steinen aufschlage und ein Brennen entflammt in meinem Bauch, als habe mir jemand ein Messer ins Fleisch gestochen. Meine Gedanken verschwimmen und ich kann mich für schreckliche Zeit nicht bewegen. Die Luft drückt gegen mein Gesicht, aber mir gelingt es nicht sie in meine nach Sauerstoff schreienden Lungen zu pumpen. Mein Körper ist verkrampft und der Schmerz in meinem Bauch dämpft nicht eine Sekunde ab. Ich sehe fliehende Menschen, die über mich hinweg springen oder versehentlich auf meine Hände oder Füße treten. Alles flimmert, wie in einem alten Film. Gesichter sind zu eine Masse aus bunten Farben verschwommen oder sind einfach nur schwarz, wenn jemand es geschafft hat seine Maske nicht zu verlieren. Neben mir schlägt eine weitere Kugel ein, die mein Ohr zu streifen scheint. Ein weiterer Krampf in meinem Bauch lässt mich zusammenzucken und ich winde mich auf dem Boden vor Schmerz, in der Hoffnung, dass es endlich aufhört. Es ist das einzige, das in mein Bewusstsein eindringt und alles, woran ich mich erinnern kann. Ich weiß in diesem Moment nicht einmal mehr, wie ich heiße, geschweige denn, warum ich überhaupt hier bin. Das Dröhnen in meinen Ohren, das aus der Vermischung aller Geräusche entstanden ist, macht mich taub und ich spüre, wie sich mein Blickfeld langsam verdunkelt. An den Rändern meiner Sicht flackern dunkle Schatten, die sich zu einem immer kleiner werdenden Kreis zusammenziehen. Ich fühle mich, wie damals, als ich kurz davor war zu ertrinken. Ein Sog zieht einen mit sich in die Tiefe und je stärker er wird, desto schwächer wird man selbst. Er entzieht einem die Kraft bis man sich nicht mehr wehren kann und es einfach nur noch geschehen lässt. Die Kälte umfängt mich, wie ein Netz. Sie lähmt mich und ich spüre, wie sie langsam durch meinen Körper fließt. Erbarmungslos zerstört sie alle Mauern, die ich im Geiste gegen sie errichte und meine Gedanken scheinen sich immer weiter von mir zu entfernen. Ich bin mir sicher, dass ich mich innerlich anschreie, aber es kommt nur ein Flüstern bei mir an, das wie der Wind, der über Gräser streicht, meinen Willen berührt und versucht, ihn wach zu halten. Die Finsternis in meinem Kopf fließt an mir vorbei und ich spüre nichts mehr außer Kälte. Der Schmerz ist nur noch dumpf. Mein Körper scheint verpackt zu sein in Watte, die mich von der Außenwelt abschirmt und mich in einen traumlosen, dunklen Schlaf wiegt. 

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