Tag 11

31 5 1
                                    

Ich erinnere mich immer wieder an diesen einen Tag. Es war im Sommer und die Temperaturen kletterten minütlich. In der Sonne war es einem nicht möglich auch nur eine einzige Sekunde zu sitzen, ohne gleich von Schweiß überströmt zu sein. Trotzdem habe ich nur aus dem Fenster gesehen und mich sehnlichst nach draußen gewünscht. Die Sonnenstrahlen ließen alles in einem unwirklichen, zauberhaften Licht aufleuchten und ich wollte darin tanzen wie die Elfen aus den Büchern, die mein Vater mir immer vorgelesen hatte. Sie waren winzig klein und liebevoll zu denen, die ein gutes Herz hatten. Alle anderen ärgerten sie mit kleinen Scherzen, die man als Kind noch unglaublich mutig und schlimm empfand. Ich weiß noch, wie sehr ich gelacht habe, wenn sich mal wieder jemand auf die Tomaten gesetzt hatte oder Ei aus seinen Haaren waschen musste. Für mich waren diese Büchlein immer wie ein Geheimnis gewesen, das nur mein Vater lüften konnte, weil er die geheimen Schriftzeichen zu verstehen wusste, die die Seiten füllten. Als er mir später beibrachte zu lesen, hatte ich mich gefühlt, als hätte er mir den Schlüssel zu einer vollkommen fremden und spektakulären Welt überreicht, den ich behüten musste wie mein Leben. Manchmal konnte ich Tage in meinem Zimmer verbringen und niemand hat mich auch nur kurz gesehen. Wenn ich lesen durfte, dann war ich Teil dieser geheimnisvollen Welt; ich durfte alle Abenteuer miterleben. An diesem Tag las mein Vater jede Geschichte über die Elfen, die er finden konnte, aber sie reichten nicht aus. Bei weitem nicht. Gegen Mittag schon schlug er das letzte Buch zu und betrachtete mich als wäre ich gerade selbst aus einem dieser Bücher entsprungen. Ich wollte unbedingt mehr Geschichten hören und konnte nicht begreifen, warum denn keine mehr da sein sollten. Für mich war niemals infrage gekommen, dass die Elfen irgendwann einmal kein Abenteuer mehr erlebt haben könnten und schon gar nicht, dass sie einfach mit einem Buch endeten. Ich erinnere mich sogar, geweint zu haben. Bitterliche Tränen. Damals hatte ich geglaubt, meine kleinen Freunde seien tot, weil man nicht mehr über sie geschrieben hat. Mein kleines Kinderherz verstand die Prozedur des Schreibens noch nicht und die Worte waren dennoch die Pforte zu den winzigen Wesen. Wenn keine Tür da war, dann würde ich sie nie wieder sehen. Mein Vater lächelte mich auf einmal an, als hätte er eine Idee. Dann tat er das Beste, was er je hätte tun können. Aus seiner Tasche holte er einen Bleistift und in meinem Zimmer fand er irgendwo ein Blatt Papier. Und er fing einfach an zu schreiben. Er erfand neue Geschichten. Schrieb einen Satz auf und las ihn mir dann vor, bis das ganze Blatt beschrieben war, aber er hörte nicht auf.Er suchte nach neuen Blättern und wir dachten uns gemeinsam viele Abenteuer der kleinen lächelnden Elfen aus. Manchmal mussten sie den bösen Jungen von nebenan bestrafen, weil er gemein gewesen war ode rsie retteten ihren Wald vor hinterlistigen Männern, die ihn zerstören wollten. Es flogen Tomaten, Schnürsenkel wurden zusammengebunden, Torten platziert und Eier verschüttet. Natürlich wurden auch kleine Rehkitze gerettet, Katzen gefüttert und Kindern zurück zu ihren Eltern geholfen. Egal, was uns einfiel, mein Vater schrieb es auf und ich weiß bis heute, dass mir diese Geschichten die liebsten von allen waren. Den ganzen Tag haben wir nichts anderes gemacht. Von da an wurde mir nie wieder aus einem gekauften Buch vorgelesen. Jeden Abend setzte sich mein Vater zu mir aufs Bett und fragte nur: „Was haben die kleinen Wesen aus dem Wald denn heute wieder erlebt?" Auch an diesem Abend wurde es irgendwann Zeit für mich, ins Bett zu gehen. Bevor ich in den Schlaf glitt, fragte ich ihn noch, wie er so viele Wörter in seinen Kopf bekommen konnte. Mit einem liebevollen Lächeln legte er seine Hand auf die Brust und schwor feierlich, dass nur die Elfen ihm die Geschichten ins Ohr flüsterten und er sie nur aufschreiben musste und das konnte er wohl noch. In dieser Nacht träumte ich von den Elfen, wie sie meinemVater etwas sagten, ihm davon erzählten, was sie an ihrem Tag erlebt hatten. Er erschien mir immer mehr, wie ein Zauberer, der alle Worte in magische Märchen verwandeln konnte, die von dem wundersamen Wald erzählten, in dem ich so gern leben würde. Wenn er vorlas, dann konnte ich mich hinein träumen und manchmal gab es sogar eine Elfe,die meinen Namen trug. Oder einen davon. Manchmal Kate. Manchmal Maggie. In meinen Gedanken flog ich durch das Unterholz und bewarf fiese Menschen mit Tomaten und rohen Eiern. Vielleicht bin ich manchmal sogar lachend eingeschlafen, so fröhlich wie ich von den abendlichen Ausflügen war. Als ich selbst anfing zu schreiben, gabes auch Elfen, die so waren wie mein Vater. Ich orientierte mich an dem, was er in bestimmten Situationen tun würde und es half mir Lösungen für Probleme zu finden, die ich für unmöglich zu entdecken gehalten hatte. Jetzt schreibe ich wieder. Für mich selbst und für das kleine Wesen in meinem Bauch. Ich bin mit den kurzen Erzählungen aus dem Elfenwald aufgewachsen und sie haben mich durch meine ganze Kindheit begleitet. Jetzt möchte ich, dass auch mein Kind etwas hat, woran es sich später genauso gern erinnert, wie ich es heute tue. Es soll auch lachen, wenn es darüber nachdenkt, wie vernarrt es in die Geschichten gewesen ist und vielleicht fängt es auch selbst an zu schreiben. Die Märchen der Elfen sollen etwas sein, was ich von meinem Vater an meine Kinder übergeben möchte, genau wie den Schlüssel zu all den anderen Welten. Ich hoffe, dass sie verstehen werden, wie wunderbar es ist, lesen zu können und wie faszinierend die unentdeckten Reiche sein können, die hinter den Seiten liegen. Wenn sie mir durch die Tür folgen würden, dann könnte ich mich sicher fühlen, dass ich ihnen etwas beigebracht habe und dass auch meine Eltern in meinen Kindern leben werden, auch wenn sie es vielleicht nicht wissen. Ich weiß es und das reicht. Es sind die kleinen Dinge, die in einer grausamen Welt für Licht sorgen und ich habe vor um meine Familie eine winzige Kugel aus Licht zu bauen, die alle Schatten abwehrt, die das Leben bereithalten mag. Solange, bis sie bereit sind, zu verstehen und die Wirklichkeit zu sehen.

Hope

Hope.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt