35. Kapitel

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"Du weißt, dass du aufwachen musst oder?" Meine Mutter sitzt neben mir im Gras und hält mitfühlend meine Hand. Die Sonne scheint wärmend auf uns herab und ich bewundere mal wieder ihr Haar, wie es glänzend über ihre Schultern fällt. Sie trägt es immer nur offen, wenn sie glücklich ist und nicht zur Arbeit muss, denn sonst bindet sie sie zusammen, damit sie ihr nicht im Gesicht hängen und sie stören. Heute scheint sie sehr glücklich zu sein, denn sie hat schon die ganze Zeit gelächelt, in der wir hier draußen sitzen. Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, wie ich hierhergekommen bin, aber solange ich mit meiner Mutter zusammen sein kann, interessiert mich nichts anderes. "Hast du mir zugehört, Liebling", fragt sie mich scheinbar amüsiert darüber, dass ich mal wieder nur vor mich hin träume, wenn ich eigentlich eine ernste Unterhaltung führen soll, "Du bist so erwachsen geworden." Es ist komisch einen Satz, den jede Mutter einmal zu ihrem Kind sagt, aus ihrem Mund zu hören. Für mich war sie nie eine Mutter, wie jede andere gewesen und trotzdem sagt auch sie so etwas normales. "Denkst du immer noch so viel über das 'Warum' einer Sache nach?" Sie kennt mich einfach zu gut. Ist es immer so, dass man als Mutter sein Kind versteht, ohne dass es ein einziges Wort gesagt hat? Ich brauche nicht einmal zu lächeln, um ihr zu zeigen, dass ich fröhlich bin und ich brauche auch nicht zu weinen, damit sie weiß, dass ich traurig oder verzweifelt bin. Sie scheint es einfach immer zu wissen. Als könnte sie meine Gedanken lesen, die nach ihrer Hilfe schreien oder ihr entgegen lachen. Ich merke, wie sehr ich sie vermisst habe und wie sehr ich sie wieder vermissen werde, denn sie hat Recht, so schmerzlich der Gedanke auch ist, dass ich mich wieder von ihr verabschieden muss, meine Zeit zu sterben und wieder bei ihr zu sein, ist noch nicht gekommen. "Du hast es verstanden. Ich wusste schon immer, dass du schlau bist." Gerührt schenke ich ihr das wärmste Lächeln, das ich jemals jemandem geschenkt habe. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind wird immer die stärkste sein, die man im Leben findet, denn sie bröckelt nie. Liebe ist stark und ich liebe Lijah mit meinem ganzen Herzen, aber nichts gleicht jemals der Liebe zu meiner Mutter. "Ich freue mich schon darauf meinen Enkel zu sehen. Oder meine Enkelin. Ach, und meinen zukünftigen Schwiegersohn möchte ich natürlich auch kennen lernen." Wir lachen zusammen und das Grübchen in ihrer Wange, das ich immer so gemocht hatte, lässt ihre Züge so weich erscheinen. Sie sieht so aus, wie mit zwanzig Jahren. Wunderschön, jung und ohne irgendwelche Sorgen. "Du musst jetzt gehen." Ich nicke. Es wird Zeit für mich, mein Leben zu leben, mit allem, was noch auf mich zukommen mag und dann, wenn meine Zeit zu gehen gekommen ist, dann werde ich sie wiedersehen und sie wird so lange auf mich warten. Ihr warmes Lächeln verblasst langsam vor meinen Augen, als mich ein sanfter Sog von ihr fort zieht; zurück in Richtung Realität. 

Das erste, was ich spüre, noch bevor ich die Augen öffnen kann ist Kälte. Ich bin nicht draußen, das weiß ich, denn es gibt weder Wind noch Geräusche, die es in jeder Gasse zu hören gibt, wie zum Beispiel das leise Flüstern zweier Menschen. Trotzdem ist es so kalt, dass mein ganzer Körper taub zu sein scheint. Außerdem liege ich nicht wie erwartet in einem Bett oder auf dem Boden. Ich stehe. Etwas hartes, kaltes schnürt an meinen Handgelenken und hält mich so fest, dass ich nicht nach hinten oder vorne kippe. Mein Verstand arbeitet noch nicht wieder richtig, so dass ich keine Ahnung habe, was das ist. Es dauert lange, bis ich es endlich schaffe meine Augen zu öffnen und mich auf einen Punkt zu konzentrieren, der durch mein Gehirn scharf gestellt wird. Mir gegenüber ist eine Wand. Sie ist ungewöhnlich akkurat gebaut. Die Steine scheinen abgemessen worden zu sein, denn sie passen exakt aufeinander. Keine Kante steht über und der Schlick dazwischen, der als Kleber benutzt wurde, ist nur eine dünne Linie, die sorgfältig geformt wurde, damit sie perfekt aussieht. Rechts von mir ist ebenfalls so eine Wand und Links von mir auch. Ich bin noch zu schwach, um meinen Kopf weit genug zu drehen um hinter mich schauen zu können, aber ich vermute, da ist auch eine Wand und in dieser müsste die Tür eingelassen sein. Der Boden zu meinen Füßen besteht aus Holzdielen, aber es ist kein vermodertes nasses Holz, das im ganzen Haus den Geruch von Fäulnis verbreitet. Die Maserung ist ebenmäßig und zeigt in eine Richtung und die Bretter sind gerade und ohne Lücken zwischen den einzelnen Planken. Jedes Stück muss einzeln ausgesucht worden sein, damit es genau zu den anderen passt. Wie lange es gedauert haben muss, allein diesen Raum hier zu bauen. Irgendwie würde ich gern in Erfahrung bringen, wie der Rest des Hauses aussieht und vor allem, wie groß es ist. Wenn sich jemand so viel Mühe mit einem einzelnen Raum gibt, dann nur, weil alles andere noch akkurater sein muss. Ich passe ziemlich schlecht in das Gesamtbild, das dieses Zimmer normalerweise abgeben sollte. Meine Kleidung ist zerrissen und blutverschmiert. Ich weiß nicht einmal, von wem das Blut ist. Es könnte von mir sein, aber wenn alles zu mir gehören würde, dann wäre ich jetzt vermutlich nicht mehr am Leben. Ein Teil wird jedoch ganz sicher meins sein, denn ich fühle mich, als hätte mich eine ganze Horde Tiere überrannt. Vermutlich habe ich überall blaue Flecken, Prellungen und Abschürfungen. Wenn ich also so schrecklich aussehe, warum bin ich dann hier? Meine Arme zittern, als ich mich hochziehe, um nach oben zu sehen. Die Luft ist noch kälter an den Zähnen als ich erwartet habe, als sie mit einem leisen Zischen in meinem Mund und schließlich in meinen Lungen ankommt. Meine Handgelenke sind umschlossen von Stahlringen, die durch eine Kette mit der Decke verbunden sind. Sie sind gerade so lang, dass ich noch sicher stehen kann. Mehrere Schritte hinter mir kommt dann erst die nächste Wand, das heißt ich hänge mitten im Raum, völlig schutzlos demjenigen gegenüber, der ihn betritt. Jetzt, wo mein Gehirn realisiert hat, dass ich schon eine ziemliche lange Zeit so stehen musst, beginnen meine Hände und Füße unangenehm zu kribbeln, doch was noch viel schlimmer ist, ist die Tatsache, dass die Erinnerung langsam wieder in mein Gedächtnis zurückfindet. Es ist als würde ich die Schrecken der Nacht noch einmal durchleben und all den Schmerz noch einmal verspüren. Mein ganzer Körper zittert vor Angst um das kleine Wesen in meinem Bauch. Ich habe keine Ahnung, ob es ihm gut geht. Die Tränen in meinen Augen brennen schrecklich und ich stehe tatsächlich zum ersten Mal an der Grenze eines Nervenzusammenbruchs. Die gesamte Situation macht mich verrückt. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, wie lange ich nicht bei Bewusstsein war und warum ich hier bin; außerdem gibt es keine Fenster, so dass es mir noch nicht einmal möglich ist, die Tageszeit zu bestimmen, geschweige denn, welcher Tag heute überhaupt ist. Panik fühlt sich an wie Eissplitter, die durch deinen Körper rasen und alles gefrieren lassen, das sie berühren. Irgendwie fühlt man sich leer, als wäre nichts mehr übrig außer der Angst und der Ungewissheit, die an einem nagt, wie die Sonne an den Eiszapfen, die von den Häusern herabhängen. Ich habe das Gefühl gar nichts mehr zu wissen und ich vermisse Lijah, Hannah und Lui. In mir verspüre ich den unbändigen Drang, irgendetwas zu tun, aber was, wenn ich mich nicht einmal richtig bewegen kann? Mittlerweile habe ich festgestellt, dass auch meine Füße ebenfalls mit eisernen Ringen am Boden befestigt sind. Der Frust, der sich in mir ansammelt, lässt sich mit nichts vergleichen, was ich momentan in Worte fassen könnte. Es ist so, als wäre ich sogar unfähig alleine zu atmen. Ich fühle mich einfach nur nutzlos und verlassen. Vielleicht würde ich schreien, wenn ich nicht wüsste, dass ich hier sicherlich nicht allein bin und bestimmt beobachtet werde. Das Klappern von Metall auf Metall, als sich ein Schlüssel im Türschloss herumdreht, bestätigt mich augenblicklich in dieser Annahme. Gespannt verrenke ich meinen Körper, um die Tür hinter mir sehen zu können. Zuerst passiert gar nichts, doch dann schiebt sich ein riesiger Berg Fleisch in Menschenform durch die schmale Öffnung in der Wand. Der Mann ist so groß, dass er sich in dem Raum sogar ducken muss, obwohl dieser keiner sonderlich niedrige Decke hat. Mit fleischigen, fetten Fingern schließt er hinter sich ab und kommt auf mich zu. Angst erfüllt meinen Körper und ich versuche instinktiv zurückzuweichen, wovon mich die Ketten bedauernswerterweise abhalten. Jeder weiß, wie tote Fische riechen, die man einfach irgendwo hingeschüttet und vergessen hat. Der Gestank aus seinem Mund erinnert mich sehr stark an Fische. Er hat kaum noch Zähne und die, die er noch hat sind widerlich gelb oder sogar schwarz. Mein Gesicht verkrampft sich angewidert und ich versuche vergebens nicht einzuatmen. Anscheinend habe ich den Schrank erzürnt, denn er baut sich mit Zornesfalten auf der Stirn und hoch rotem Kopf vor mir auf. Dann holt er mit seiner riesigen Hand aus und schlägt mir mitten ins Gesicht. Der Schrei aus meinem Mund ist spitzer und lauter, als ich gewollt hatte, aber richtig beabsichtigt war er sowieso nicht gewesen. Meine Wange brennt, als hätte mir jemand heißes Wachs darüber geschüttet. Ein fieses Grinsen breitet sich auf den breiten Wangen des Ungetüms aus und er präsentiert mir seine gigantische Mundhöhle. Ich verspüre den Drang ihn anzuspucken und ich fürchte, ich habe es tatsächlich aus einem Reflex heraus getan, denn er wischt sich knurrend, über die Augen. Mein Körper ist angespannt und bereit für den nächsten Schlag ins Gesicht, doch er kommt nicht. Stattdessen gräbt er mir seine Faust so fest in den Bauch, dass alle Luft aus mir herausgepresst wird und ich verzweifelt versuche an neue zu kommen. Durch meinen Kopf schießt nur ein Gedanke, der so intensiv ist, dass sich meine Stirn so anfühlt, als würde sie unter dem Druck gleich in viele Scherben zerspringen: Mein Baby. Mir laufen die Tränen über die Wangen. Was, wenn er es jetzt getötet hat? Das darf nicht sein! Verzweifelt hoffe ich auf irgendein Zeichen von dem kleinen Menschen, das mir zeigt, dass es ihm gut geht, doch es passiert nichts. Es ist einfach nur ruhig in meinem Bauch. Vorher war es auch immer still, aber jetzt habe ich schreckliche, lähmende Angst. Der Schmerz ist eigentlich schon wieder verschwunden, aber die Panik bleibt. Eine raue, trockene Stimme röchelt irgendetwas, für mich unverständliches, da das Rauschen, das mein Blut in meinen Ohren verursacht, alles andere übertönt, doch der Schrank scheint es durchaus verstanden zu haben, denn er geht zur Tür und lässt einen anderen, weitaus kleineren Mann herein. Er betrachtet mich verwundert und starrte eine Zeit lang auf mein Gesicht, dann steigt ihm die Zornesröte in die Wangen, wie schon dem Riesen zuvor und ich fürchte schon er könnte mich auch schlagen, doch er dreht sich zu dem anderen und schreit aus voller Kehle. Die Worte verschwimmen noch immer zu einer unverständlichen Masse, aber ich vermute, es geht um mich. Ich spüre mein Sichtfeld schon wieder kleiner werden, aber ich halte mich irgendwie bei Bewusstsein. Eine Ohnmacht zum jetzigen Zeitpunkt, will ich auf keinen Fall riskieren. Nicht solange die beiden im Raum sind. Endlich verschwindet auch das Rauschen aus meinen Ohren und ich kann wieder verstehen, was gesprochen wird. "Du solltest nur kontrollieren, ob sie wach ist und sie nicht K.O. hauen!", schreit der kleinere Mann, der mich irgendwie an einen wütenden, auf und ab hüpfenden Gartenzwerg erinnert, nur dass ich noch nie einen springenden Gartenzwerg gesehen habe. Sollten sie aber mal hüpfen können, würde das genau so aussehen. Der große Schrank verzieht sein Gesicht, als wäre er ernsthaft gekränkt. Er sieht aus, wie ein kleines Kind, das genau weiß, dass es etwas falsch gemacht hat, es aber in keinster Weise bereut. Zusammen kommen mir die beiden vor, wie die Typen aus dem Film Dick & Doof. Nur, dass man es umändern müsste in Groß & Doof. Irgendwann in ihrer Unterhaltung muss ich dann aber doch das Bewusstsein verloren haben, denn als ich das nächste Mal die Augen öffne, sind beide verschwunden und jemand anderes sitzt auf einem Stuhl in der Ecke des Raumes und starrt mich mit eisigen blauen Augen an.

Hope.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt