50. Kapitel

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Mein Blick schweift über die Stadt, die verlassen unter dem meterhohen Turm liegt, der sich über ihr erstreckt, wie ein Baum über einer Lichtung. Aus manchen Gassen steigt Rauch in die Luft und formt eine Decke aus grauem, undurchlässigem Dunst, der mir die Sicht jedoch nicht nehmen kann. Er ist noch höher als die gläserne Kuppel, wirkt wie ein riesiges Monster, das sein Maul über mir und der Stadt zu schließen droht, mit scharfen Zähnen, die alles zerfetzen, was zwischen sie gerät. "Es ist wunderschön nicht wahr?" Die klare, tiefe Stimme kommt von der kleinen, silbernen Tür hinter meinem Rücken. Ich habe nicht gehört, wie sie geöffnet wurde, aber ich wusste, dass er bald hier sein würde. Ich nicke und wende meinen Blick von dem atemberaubenden Anblick vor mir ab, auch wenn ich den ganzen Tag lang hätte träumen können, wie es wäre zu fliegen. Mit der Kleidung, die er gewählt hat, könnte man fast denken, er sei ein ganz normaler Bürger, der sich zu seinem sonntäglichen Besuch des Marktes aufmacht. Alles an ihm wirkt gewöhnlich. Seine Gesichtszüge sind genauso hart, wie die von Lijah und sein Bart lässt ihn zwei, drei Jahre älter wirken als er ist. Man glaubt nicht, dass er so alt ist, wie ich. Zweiundzwanzig. Keine außergewöhnliche Person, kein Tyrann oder Diktator. Ein ganz normaler Mann. Keine Krone, keine Edelsteine, kein Samt. Ein einfaches Leinenhemd und eine Hose aus grünem Stoff. Das Einzige, das nicht zu seinem Auftritt passt, sind die schwarzen Lackschuhe mit dem kleinen Plateau, um ihn etwas größer zu machen als er ist. Er ist erstaunlich klein. Größer als ich, aber viel kleiner als Lijah. "Ich bin gerne hier und sehe hinunter. Stundenlang könnte ich Menschen beobachten, die einfach nur ihr einfaches, normales Leben leben", zwei lange Schritte und er steht neben mir, gerade aufgerichtet, wie man es ihm beigebracht hat. Mit einer fragenden Geste deutet er auf den zweiten Stuhl, der genauso wie meiner verziert ist mit vielen kleinen Bildern, die Szenen aus einem Märchen darstellen. Als ich nichts unternehme um ihn aufzuhalten, nimmt er Platz. Er winkt einem Diener zu, der augenblicklich ein Tablet mit Gebäck und dampfenden Tassen hereinträgt und die Tür dann beim Verlassen wieder hinter sich schließt. Auch sie ist verziert. Allerdings nur mit einem einzigen Bild. Es ist ein Sonnenuntergang über dem Meer, dem Meer, in das man sich heute nicht mehr wagen kann, weil Chemikalien und mutierte Geschöpfe es nicht sicher machen. Es soll pechschwarz sein. Selbst, wenn man nur bis zu den Knöcheln im Wasser steht, sieht man seine Füße nicht mehr. Man würde nicht erkennen, wenn die Flut einem die Haut von den Knochen brennt. Das brennende Meer. So wird es genannt. Es ätzt, aber das ist nicht der Grund, warum es so heißt. Es brennt tatsächlich, wenn ein Blitz auf die Oberfläche schlägt oder ein Funke aus einem brennenden Wald auf das Wasser fliegt. Die Chemikalien haben es brennbar gemacht. Es soll in so vielen Farben lodern, dass man es nicht malen oder beschreiben kann, weil die Namen für solche Farben nicht erfunden sind. Wie gerne würde ich es einmal sehen. Es ist die Folge der Zerstörung durch die Menschheit, aber es klingt so wunderschön. Sich aus solchen Vorstellungen zu reißen fällt unglaublich schwer. Wir sind jetzt ganz allein. "Honigkuchen. Ich wusste nicht genau, was du am liebsten isst, also habe ich meinen Lieblingskuchen ausgewählt. Egoistisch ich weiß." Sein Blick ist ehrlich. Man glaubt nicht, dass er jemals anders sein kann, als so, wie er jetzt gerade ist. "Ich denke ich werde damit vorlieb nehmen können", antworte ich und lege mir ein kleines Stück auf den Teller. "Du weißt, dass du hier nicht zu sparen brauchst?" "Du meinst von meiner Henkersmahlzeit sollte ich auch satt werden?" Er verzieht sein Gesicht als hätte ich ihn geschlagen: "Du weißt, dass es nicht an dir liegt?" "Bis jetzt wirkte es auf mich schon so, als wäre ich die Angeklagte." "Das mag vielleicht dumm klingen, aber ich hätte niemals vorgehabt, dich töten zu lassen." Meine Verwunderung lässt sich kaum verbergen. Wenn ich mit allem gerechnet habe, dann trotzdem nicht damit. "Ich bin nicht so vernarrt in das Töten von Menschen, wie alle immer von mir behaupten, aber was rede ich. Du hasst mich. Das solltest du jedenfalls. Ich habe Amalie töten lassen und das weißt du. Meinetwegen sind auch deine Eltern tot und ich bin der Grund dafür, dass du niemals sehen wirst, wie dein Kind groß wird. Es ist verständlich, dass du mich genauso tot sehen willst, wie alle anderen auch und ich bin dir nicht böse deswegen", er spricht ohne mich anzusehen. Seine Augen flackern über die Stadt in der Hoffnung etwas zu finden, woran sie sich festklammern können. "Mein Kind wird gar nicht aufwachsen Krestor und trotzdem hasse ich dich nicht", sage ich ruhig und schaue ihn an. Das scheint ihn viel mehr zu verwirren und zu erschrecken, als alles, was ich ihm an den Kopf hätte werfen können.. Es braucht, bis er sich erlaubt zu lächeln: "Du scheinst niemandem böse sein zu können." "Nein. Ich bin wohl viel zu gutherzig für diese kleine Welt", antworte ich matt. Endlich sieht er mir in die Augen als er spricht: "Warum?" Ich verstehe, was er wissen möchte, auch wenn ich nicht genau weiß, was ich antworten soll. Es legt sich eine erdrückende Stille über uns, die schrecklich lang andauert, während ich mit mir ringe, was ich ihm sagen soll: "Sagen wir, ich hätte dir in einem anderen Fall des Zusammentreffens gern geholfen." "Mir geholfen zu überwinden, was in meinem Leben passiert ist? Was ist, wenn mir niemand helfen kann, Mädchen?" "Jedem kann geholfen werden. Auch einem Mann wie Krestor Dorn." Seine Augen glänzen vor Neugier und Überraschung. In seinem Kopf rattert es: "Woher kannst du es wissen?" "Ich habe viel Zeit damit verbracht, Menschen zu beobachten", gestehe ich schmunzelnd, "Ich erkenne, wenn jemand mit jemand anderem verwandt ist und ich hatte genug Informationen über euch beide, um zu wissen, wer ihr seid." Ich hatte mir sehr viele Gedanken gemacht. Lijah hatte mir irgendwann einmal erzählt, wie er aufgewachsen ist. Er meinte, er sei ein Waisenkind gewesen, dass man nur aufgenommen hat, weil alle Knochen in seinem Körper gebrochen waren und er dennoch lebte. Ihm gefiel es nicht, etwas besonderes zu sein, als hat er es immer heruntergespielt. Dennoch hatte man Mitleid. Niemand wusste, woher er diese Verletzungen hatte und warum er sie überleben konnte, ohne Folgen davon zu tragen. Er konnte sich nie daran erinnern, wer er davor gewesen war. Sie bezeichneten ihn als Wunderkind. Ich hatte dieser Geschichte nie mehr Gewicht zugetraut, als der Lebensgeschichte eines Menschen. Dann habe ich den König das erste Mal aus nächster Nähe gesehen und mich gefragt, warum mir sein Gesicht so bekannt vorkam. Als Rose mir dann erzählte, was ihr Vater ( der sie, wie ich erfahren habe adoptiert hatte, obwohl sie auch damals blind war) erlebt hatte, brauchte mein Gehirn nicht sonderlich lange, um zu verarbeiten, wo die Zusammenhänge liegen und eins und eins zusammenzuzählen. Es war wie ein kleines Puzzle. "Hättest du dein Kind Krestor genannt?" Die Frage kommt überraschend, aber irgendwie verwundert sie mich auch nicht mehr. Ich schüttele den Kopf: "Krestor stammt aus einer alten, erfundenen Sprache und bedeutet soviel wie Teufel, wenn ich mich da richtig erinnere. Auf keinen Fall hätte ich mein Kind so genannt." "Den Namen gab mir meine Mutter, nachdem mein Vater tot war und sie dachte, dass ich auch meinen Bruder getötet hatte. Sie hasste mich." "Wie willst du lieber gerufen werden?" "Elias. Wir sollten ähnlich heißen, weil wir aussahen, wie Zwillinge, obwohl ich ein Jahr jünger war. Wenn jemand El gerufen hatte, dann waren wir beide gemeint. Ich habe es geliebt, wenn er mich angelächelt hat. Dann habe ich mich endlich einmal stark gefühlt. Bis zu diesem einen Tag. Er sagte er würde mich fangen und wir haben miteinander gerungen und dann ist er auf einmal gefallen...", er bricht ab und ich dränge ihn nicht. Ich kann ihm ansehen, wie sehr er unter der Erinnerung leidet. Sein Blick ist gläsern und ich erwarte Tränen, doch er wischt sie weg, bevor sie sich lösen können. "Du bist ein guter Mensch Hope. Ich nicht -Nicht mehr." Worte sind manchmal nicht das, was man unbedingt braucht. Meine Mutter hatte mir das einmal gesagt, also schweige ich und nehme mir noch ein Stück von dem Kuchen. Es wirkt. Er lächelt wieder. "Denkst du wirklich, dass man mir helfen könnte? Ich meine, dass es auch wieder Menschen geben kann, die mir verzeihen können, was ich getan habe?" "Vielleicht. Ich habe schon gesagt, helfen kann man jedem, aber bei der zweiten Frage, kann ich mich nicht auf eine Antwort festlegen, ohne zu riskieren, zu lügen." Er nickt. Bevor ich geantwortet habe, hat er es gewusst. Er ist nicht dumm, das weiß ich jetzt sicher. "Lass uns über etwas anderes sprechen", flüstert er und bricht das Thema damit ab. Müde nicke ich und schaue wieder auf die Stadt herunter. "Du vermisst sie alle oder?" Ich brauche nicht zu reagieren, er kennt die Antwort. "Hättest du einen Namen für dein Kind gewusst?" Wieder nicke ich: "Ella. Wenn es ein Mädchen gewesen wäre." "Und wenn es ein Junge gewesen wäre?" "Kit." "Das sind wunderschöne Namen. Ich würde gerne sehen, wie sie oder er sich auf seinen Vater stürzt und versucht ihn zu kitzeln." Wir lachen. Bei der Vorstellung, wie Lijah mit seinem Sohn oder seiner Tochter spielt, kann ich einfach nicht traurig oder wehmütig sein. "Er wird jemanden finden, den er genauso mag, wie mich. Dann kannst du es von hier oben vielleicht erkennen", sage ich leise und schaue in Richtung des Marktplatzes, wo ich auch ohne Fernglas die Patrouillen entdecken kann. "Du weißt, dass nach dem morgigen Tag einer von uns beiden sterben wird und ich fürchte Lijah wird das nicht sein." "Du hättest genug Soldaten um dich, um ihn zu töten." "Und du glaubst, das könnte ich?"  "Nein." "Noch einmal könnte ich zu mir selbst nicht sagen, dass ich meinen Bruder getötet habe." "Dann wirst du vermutlich sterben", gebe ich traurig zu. "Dann wird das wohl so sein." Schweigen. Mir brennt noch eine Frage auf den Lippen. Eine letzte Frage: "Wissen sie, dass Luisa nicht die Mörderin ist?" "Falls nicht, dann werde ich dafür sorgen, dass sie es wissen. Das verspreche ich." Ich kann nur nicken und schaue auf meinen Bauch. Man sieht, dass dort Leben schläft. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er aufsteht. Ich warte auf das Geräusch seiner sich entfernenden Schritte, aber er geht nicht. Er bleibt einfach stehen. Stumm und ohne jede Regung. In seinen Augen leuchtet nur unendlicher Schmerz. Die Tränen, die jetzt fließen, wischt er nicht mehr weg. Sie glitzern, wie Eiskristalle, die vor dem Krieg noch vom Himmel gefallen sind. Schnee hat man es genannt. Heute ist Schnee etwas anderes. Asche, die aus rot leuchtenden Wolken fällt. Einmal im Jahr senkt sich dieses spektakuläre Schauspiel auf die Erde herab. Es könnte so schön sein, aber es tötet Menschen. Sie ersticken. Die Luft, die sie atmen, ist zu dieser Zeit verschmutzt und die Asche belegt die Lungen. Es beginnt mit einem harmlosen Husten, der irgendwann dazu führt, dass man denkt, sie würden ihre Lungen ausspucken. Das Blut sammelt sich in den Lungenflügeln und wer kein Geld hat, sich das Blut entfernen zu lassen, der erstickt. Asche glänzt nicht. Schnee hat es. So wie seine Tränen. Er bedauert wirklich, was er getan hat und was er tun wird. Knirschend schiebt sich der Stuhl über die Fliesen. Ich lege meine Hände auf seine Schultern und schaue stumm in seine grünen Augen. Dann gehe ich. Die beiden Soldaten, die mich wieder zurück in den Schlafsaal führen sollen, wissen, dass sie mich nicht zu zwingen brauchen. Ich habe nicht vor zu fliehen, denn weit würde ich nicht kommen. Ich setzte ein Lächeln auf und beschließe es nie wieder abzulegen. Jeder, der mich morgen sieht, soll keine Angst sehen, sondern mich, wie ich wirklich bin und nicht, wie Furcht mich aussehen lassen würde. Hinter mir öffnet sich die Tür des Zimmers und ich drehe mich noch einmal um. In seinen Augen funkeln noch immer die Tränen, aber es ist auch noch etwas anderes darin. Ein Glänzen, das sich nicht einschätzen lässt. Ein Glänzen, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Ein Glänzen, das ihn so sehr aussehen lässt, wie seinen Bruder

Hope.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt