Kapitel ~ 2

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Mit langsamen Schritten verließ er sein Zimmer und lief durch den großen Flur der Klinik. Es war eingerichtet wie ein großes Wohnheim. Von außen sah man dem großen Gebäude nicht an, dass innen Menschen lebten, die Probleme hatten. Manche hatten größere und manche kleinere Probleme. Justin zählte sich selbst zu denjenigen, die unter den ganzen Verrückten zu den Normalsten gehörten. Ob er wirklich normal war? Das Pflegepersonal hielt ihn für einen schwer traumatisierten jungen Mann. Vor fünf Jahren hatte er Schlimmes erlebt und die Ärzte hier haben immernoch die Hoffnung, dass sie ihm helfen konnten, dieses Trauma der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Bei den Psychologen und Ärzten galt er als freundlich, zuvorkommend, manchmal etwas still aber hoch intelligent. In einem waren sich alle einig. Hinter der unscheinbaren Fassade verbarg sich noch mehr und irgendwann würden sie es sicher schaffen, das alles an die Oberfläche zu bringen. Als er die Kantine betrat, wurde es plötzlich leise. Einige Patienten sahen ihn kurz an, blickten jedoch dann schnell wieder weg. Er ging zu dem Wagen, auf dem die Tabletts standen und nahm sich eines davon weg, um sich etwas zu essen zu holen. Gerade als er sich anstellen wollte, drehte sich der Mann vor ihm um und schaute ihn an. Wortlos ging er zur Seite und stellte sich hinter den tätowierten Justin. Und auch der Patient, der nun vor dem jungen Mann stand, ließ diesen ohne ein Wort zu sagen, vor. Das kam hier oft vor. Jeder der Patienten hier, ließ Justin den Vortritt.
Der gut gebaute Mann griff an einem Patienten neben sich vorbei, der scheinbar Schwierigkeiten damit hatte, sich für eine der angebotenen Suppen zu entscheiden. Als er den tätowierten Arm neben sich sah, zuckte er zusammen und ging sofort einen Schritt zur Seite. "Tut mir leid, Justin, ich habe dich nicht gesehen", sagte er mit zitternder Stimme, während der mysteriöse Mann sich davon nicht beirren ließ. Langsam nahm er sich etwas Suppe aus einem Topf, griff zu zwei Scheiben Brot, warf dem ängstlichen Patienten noch einen scharfen Blick zu und verließ das Buffet.
Mit langsamen Schritten näherte er sich einem Tisch. Nicht irgendeinem Tisch, sondern dem Tisch, an dem er immer saß. Diesmal allerdings, war der Tisch bereits besetzt. Und auch sein Platz war besetzt. Ein Mann, ungefähr Mitte zwanzig, genoss gerade dort sein Abendessen, während der tätowierte ihn starr anschaute.

"Tom?", kam es von einem dunkelhaarigen Mann, der auf den Namen Nick hörte. Nick Jonas, der wegen eines Burnout Syndroms in der Klinik war.  "Du solltest besser aufstehen. Der Platz ist schon reserviert gewesen". Jeder auf der Station wusste, dass dieser Platz alleine Justin gehörte und man diese Tatsache besser respektierte.

"Ich war zuerst hier. Soll der Typ sich doch einen anderen Platz suchen", antwortete er patzig.

Schnell versuchte sein Sitznachbar die Situation zu entschärfen. "Hey Justin, sei nicht so hart mit ihm. Er ist erst heute von der Station über uns hier runter gezogen. Er kennt sich hier noch nicht aus"

Immernoch starrte der junge Mann, den Neuen an. Wortlos und mit eiskalten Blick. Plötzlich wurde es ruhig. Über der ganzen Kantine herrschte plötzlich eine eisige Stille. Dem Neuling wurde die Situation unheimlich. Irgendwas hatte dieser Justin an sich. Langsam stand er auf, um den Platz, seinem rechtmäßigen Besitzer zu überlassen. "Alles gut, Bruder. Reg' dich nicht auf, okay? Ich wusste nicht, dass der Platz dir gehört". Kleinlaut verzog sich der Neue und suchte sich einen neuen Platz, während Justin sich nun endlich an den Tisch setzen konnte. Keiner traute sich ein Wort zu sagen, bis Nick die Situation zu entschärfen versuchte.

"Hey Justin, scheiß' auf den. Der weiß einfach nicht wer du bist aber ich rede nochmal mit ihm und dann kommt das nie wieder vor, okay?"

Der junge Mann nickte. Nick versuchte ihn weiterhin auf andere Gedanken zu bringen. "Das mit dem Watson ist heftig, oder? Er hat sich einfach aufgehängt"

"Ich weiß", sagte Justin leise und sofort schienen die anderen drei Personen am Tisch zu wissen, was er meinte.

Nick erschrak. "Oh... Ich verstehe... Hast ihm den Spaß scheinbar doch übler genommen, als ich dachte "

"Er kannte die Regeln und er kannte die Konsequenzen... ", kam es stumpf von dem Mann, der scheinbar die ganze Station unter seiner Kontrolle hatte. Jeder der anwesenden Patienten hatte Respekt vor ihm, denn jeder wusste, wozu er in der Lage war. Jeder, bis auf das Personal der Einrichtung. Die Patienten hatten mit der Zeit ihre eigene Hierarchie gebildet und jeder dort hatte seinen Platz gefunden. Das Übertreten der vorgegeben Grenzen, konnte fatale Folgen haben. Wie am Beispiel von Steve Watson zu sehen war. Dieser Mann hatte einmal zu oft die Nerven des Tätowierten strapaziert. Dass er sich nun das Leben genommen hatte, schien niemanden auf der Station wirklich zu überraschen.

Nach dem Essen begab sich Nick noch einmal zu dem Neuling, um ihm noch einen wichtigen Hinweis für das Überleben auf der Station zu geben. Tom, der gerade die Kantine verlassen wollte, wurde von dem dunkelhaarigen Nick festgehalten. "Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel.... Der Teufel verändert dich....". Nach diesen Worten verließ der Mann die Kantine, denn nun begann die Besuchszeit.

PsychopathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt