Kapitel 2 Rückblick

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Ich legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Das Tagebuch lag auf meinem Bauch. Ich musste mir definitiv noch eine Lampe besorgen, merkte ich, als ich die kahle Glühbirne dort hängen sah.
Ich war ganze 13 Jahre im Heim und habe nichts von meiner Familie mitbekommen. Ich war meinem Vater völlig egal, aber ich fand es traurig, dass ich meine Brüder so lange nicht mehr gesehen hatte. Meine Brüder wollten mich immer beschützen, sie versuchten es zumindest, aber es brachte bei meinem aggressiven Vater rein gar nichts. Ich würde gerne wissen, was aus ihnen geworden ist.

Ich vermisste sie sehr, vorallem meinen Zwillingsbruder Ibrahim. Wir teilten uns den Bauch unserer Mutter. Ich war ihm von unseren Geschwistern am nächsten und er mir ebenfalls. Ibrahim tröstete mich immer, wenn es mir nicht gut ging und anders rum natürlich auch. Er wischte mir die Tränen weg und umarmte mich immer nach dem unser Vater mir wehgetan hatte. Wir waren immer zusammen und machten auch alles zusammen! Meine zweite Hälfte fehlte mir einfach so unfassbar sehr. Wir waren zwar gleich alt, aber dennoch verhielt er sich wie der ältere und man muss bedenken wir waren noch sehr, sehr jung.

Ich hatte nie dieses Gefühl von Geborgenheit bei meinem Vater, ganz im Gegenteil. Ich verspürte Kälte und Hass in seiner Gegenwart. Erst im Heim bekam ich Aufmerksamkeit, Zuneigung, Liebe und Verständnis. Es war dort natürlich besser für mich, aber dennoch würde es die eigene Familie nicht ersetzten können! Ich hielt mein Tagebuch vors Gesicht und fing an, die beschriebenen Seiten zu lesen. Die Schrift war katastrophal, aber was erwartete ich von einer Sechsjährigen?

Es tat mir weh, zu lesen was mein Vater mit mir gemacht hatte. Jedes Ereignis an das ich mich erinnern konnte, hatte ich aufgeschrieben.

"Heute hat Papa mich gegen die Heizung geschubst, dass meine Nase geblutet hat."

Ich fragte mich immer und immer wieder, wie man soetwas mit seinem eigenen Fleisch und Blut anstellen konnte. Die Müdigkeit überrannte mich und trotz jeden Widerstands, konnte ich nicht länger wach bleiben. Meine Augenlider wurden ganz schwer und ich fiel ins Land der Träume oder besser gesagt der Albträume.

Ich rannte. Irgendwer war hinter mir her. Ich versuchte meinen Orientierungssinn zu meinem Vorteil einzusetzen, doch das versuchten die auch. Es war mal wieder so ein Tag, an dem niemand sich auf die Straße traute, was hieß, dass ich mit ihnen alleine war. Ich rannte in einen kleine Ecke, die eigentlich niemand kannte oder niemand kennen sollte. Ich hörte auch keine Schritte mehr hinter mir. Als ich mich sicher fühlte, verlangsamte ich mein Tempo und spürte erst dann wie sehr mein Herz gegen die Brust hämmerte. Es fühlte sich so an, als würde es jeden Moment meine Rippen brechen, weil es so stark und schnell schlug. Es war ein Fehler, langsamer geworden zu sein. Jemand packte mich an der Hand und drehte mich mit einem Mal herum. Ich fing an zu schreien und öffnete schlagartig meine Augen. Mein Herz schlug fünfmal schneller als normalerweise und mit meinem Atem war es genau so. Ich spürte auch einzelne Schweißtropfen meine Stirn entlang laufen und musste mir erstmal bewusst werden, dass es alles nur ein Traum war.

Ich fing sofort an den Quran zu rezitieren und fühlte mich etwas sicherer. Mit jedem Vers den ich rezitierte, normalisierte sich auch mein mein Herzschlag wieder. Mein
Leben lang plagten mich diese Albträume. Ich musste wegrennen. Vor Wem oder Was wusste ich nicht, aber ich musste einfach wegrennen. Die Träume spielten sich immer in der Gegend vom Heim ab, was mir damals als Kind unheimlich war.
Ich hatte dort viele Sitzungen mit einer Kinderpsychologin, aber wirklich geholfen hat sie mir nie.

Ich guckte kurz auf die Uhr und motivierte mich aufzustehen. Es war zwar noch dunkel draußen, aber es war Zeit für das Fajr-Gebet. Ich ging ins Badezimmer und vollzog die Gebetswaschung, um beten zu können. Ich betete vor Fajr immer zwei Raka und dann noch zwei für das Fajrgebet.

Das Gebet hat mir damals mein ältester Bruder Umar beigebracht. Immer wenn unser Vater arbeiten war, brachte er mir das Gebet bei. Er war ein toller großer Bruder. Mein anderer Bruder Ayub hat mir damals das arabische Alphabet beigebracht und auch arabisch lesen. Ich würde mein letztes Hemd geben, um die drei ein letztes Mal sehen zu können, ihre Stimmen zu hören und sie in meine Arme zu schließen. Ich hatte sogar vergessen, wie sie aussahen, Subhan'Allah. Ich hatte nichtmal ein Bild von ihnen. In shaa Allah sehen ich sie im Laufe meines Lebens nochmal, dafür bat ich in jedem meiner Bittgebete.

Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch garnicht, dass unser nächstes Treffen garnicht so lange auf sich warten ließ.

Liebe auf Umwegen♡ أحبكWo Geschichten leben. Entdecke jetzt