Zuhause
Als Bettina leise die Haustür öffnet, hört sie das Klappern von Geschirr. Tante Judith, Onkel Andres, ihre beiden Kinder Stefan und Angelika und ihr eigener Vater sitzen am Tisch. Bettina schleicht leise an ihren Platz, sie weiß genau dass ein Donnerwetter auf sie zukommt. Das lässt nicht lange auf sich warten. Tante Judith blitzt sie mit zornigen Augen an und will gerade loslegen, als der Vater ihr zuvorkommt.
«Tina, wo hast du dich herumgetrieben? Du weißt, dass wir pünktlich um sechs Uhr essen. Du musst nicht denken, bloß weil wir nicht mehr in der Stadt sind, gelten keine Regeln. Geh auf dein Zimmer. Heute gibt's kein Abendessen.»
Bettina schaut ihren Vater empört an. In den letzten Monaten war er es immer, der sie abends stundenlang mit dem Nachtessen warten ließ. Und nur weil sie jetzt hier bei seiner Schwester leben, braucht er sie nicht anzuschreien wegen einer Viertelstunde Verspätung. Sie will genau so scharf erwidern, als Tante Judith ihrerseits mit einer Tirade über das kalt gewordene Nachtessen und die fehlende Hilfe beim Jäten anfängt. Onkel Andres schaut verlegen auf seinen Teller. Ihm scheint es genau so unwohl zu sein wie Angie, die mit der Gabel aus dem Eintopf in ihrem Teller Häufchen baut. Stefan dagegen grinst sie frech an. Er genießt es, dass diesmal jemand anderes den Zorn der Mutter abbekommt.
Bettina steht ohne ein Wort auf und steigt die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Der Appetit ist ihr vergangen. Zum Glück hat wenigstens niemand ihre zerrissene Hose bemerkt oder nach ihrem ersten Schultag gefragt. Vermutlich hätte das gleich zum nächsten Streit geführt. Sie setzt die Kopfhörer auf und stellt die Lautstärke hoch. Während sie vorsichtig den Verband an ihrem Knie überprüft, wandern ihre Gedanken zu A'shei. Der war viel netter als Stefan, nicht so arrogant wie ihr Cousin. Vielleicht weiß Stefan etwas über den seltsamen Jungen? A'shei mag gleich alt oder ein Jahr älter sein als Bettina, also ein oder zwei Jahre älter als Stefan. Aber diesen wird sie nicht fragen. Angelika würde ihr wenigstens antworten. Die Cousine ist drei Jahre jünger und eigentlich ganz in Ordnung. Leider interessiert sie sich nur für Pferde und trägt zuviel rosa Kleider. Aber das ist bestimmt eine Phase, die vorübergeht. Seltsam wie sich die beiden Geschwister unterscheiden. Angie ist mit ihrem blonden Lockenkopf, den graublauen Augen und dem breiten Lachen dem freundlichen Onkel ähnlich. Der drahtige, braunhaarige Stefan kommt dagegen nach der Tante.
Dass der Vater mit Tante Judith verwandt ist, ist offensichtlich. Allerdings war er früher gut und freundlich, nicht so verbittert wie seine Schwester. Aber als er im letzten Jahr seine Arbeit verlor, begann er sich zu verändern. Aus einem Bier mit Kollegen am Feierabend wurde oft mehr. Und nach einem langen Tag auf Jobsuche konnte es sein, dass er erst nach Mitternacht nach Hause kam. Bettina wartete dann auf ihn. Er mochte das nicht, deshalb lag sie bei geöffneter Türe still im Bett und horchte auf seine Schritte. Er versuchte immer, leise zu sein um sie nicht zu wecken. Erst wenn er selber im Bett lag, konnte Bettina einschlafen. Nach einigen Monaten wurde das Geld knapp, dann mussten sie aus der Wohnung ausziehen. Die Tante bot ihrem älteren Bruder an, mitsamt der Tochter zurück in das Dorf zu ziehen, wo er aufgewachsen war. Die Großeltern waren einige Jahre zuvor gestorben und im Haus waren zwei Zimmer frei. Dem Vater blieb nicht viel anderes übrig, als das Angebot der Schwester anzunehmen. Bettinas Wünsche in dieser Angelegenheit spielten keine Rolle.
Nun war also dies seit einer Woche ihr Zuhause. Sie weinte sich jeden Abend in den Schlaf. Der Vater war jetzt immer daheim, aber er unterhielt sich lieber mit Stefan als mit Bettina. Manchmal dachte sie, er hätte lieber einen Sohn als eine Tochter. Aber vielleicht war ihm auch alles nur peinlich und er wollte sich vor Judith keine Blöße geben. Sie hatte ihm und Bettina gleich bei ihrer Ankunft die Spielregeln bekannt gegeben. Dinge, die Bettina größtenteils unsinnig vorkamen und die sie sofort wieder vergaß. Für den Vater ist besonders hart, dass im Haus kein Alkohol erlaubt ist. Bettina ist das recht, aber der Vater leidet unter dieser Regel. Onkel Andres hörte dem Monolog der Tante zu und schüttelte unmerklich den Kopf, Bettina beobachtete ihn heimlich. Aber er sagte nichts. Im Haus ist Judith die Herrin.
In den ersten Tagen versuchte Bettina, es ihr recht zu machen. Aber das gelang ihr nicht. Als der Onkel sie am zweiten Abend weinend im Garten fand, starrte er sie betreten an.
«Mach dir nichts draus, Betty. Gib ihr etwas Zeit, sie wird sich an dich gewöhnen.»
Bettina überhörte geflissentlich die verhasste Kurzform ihres Namens. Dennoch konnte sie ein Schluchzen nicht unterdrücken.
«Warum ist sie so gemein, ich habe ihr doch nichts getan?»
«Nein, das hast du nicht. Aber du erinnerst sie an deine Mutter.»
«Was hat meine Mutter damit zu tun? Ich habe sie nicht einmal gekannt.»
«Judith glaubt, deine Mutter hätte ihr etwas weggenommen. Gib ihr Zeit, sie wird darüber hinwegkommen. Hilfst du mir, die Kaninchen zu füttern?»
Bettina nickte. Sie mochte den Onkel und hoffte, er würde ihr mehr von ihrer Mutter erzählen. Aber seither ergab sich keine Gelegenheit mehr zu einem Gespräch.
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Silàn
FantasiBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...