Die letzte Frucht
A'shei hat den Miraipass weit hinter sich gelassen. Er ist froh, dass die Nächte hier im Tal noch wärmer sind als oben in den Bergen. Die Menschen im Silitatal sind freundlich. Mehrmals bekam er Obst oder Brot geschenkt und heute nahm ihn ein Bauer ein Stück auf seinem Wagen mit, bis ins Dorf unterhalb der Burg Silita. Der Mann brachte dort Getreide zur Mühle. Dafür, dass A'shei ihm beim Abladen der schweren Säcke half, schenkte er ihm einen Laib frisches Brot. Inzwischen ist der Schattenwandler schon wieder unterwegs und trotz des anhaltenden Regens ein gutes Stück den Weg zur Burg hinaufgestiegen.
Silita-Suan überragt auf seiner steilen Felsnase majestätisch das Tal. Die Menschen in den Dörfern erzählen, dass in mondlosen Nächten Drachen um die Zinnen der verlassenen Burg kreisen. Heute morgen behauptete einer der Müllergesellen, er habe vor wenigen Nächten mit eigenen Augen einen riesigen Drachenschatten beobachtet. Die anderen Jungen lachten ihn aus, aber der alte Müller und A'sheis Bauer wechselten ernste Blicke. A'shei verstand, dass die beiden alten Männer mehr von dieser Geschichte hielten, als sie zugeben wollten. Mit mulmigem Gefühl machte er sich deshalb auf den Weg zu Silàns Stammburg. Er hofft so sehr, seine Freundin hier zu treffen. Aber ob er auch bereit ist für eine Begegnung mit einem Drachenschatten?
Inzwischen ist A'shei bis auf die Haut durchnässt. Nur die Bewegung hält ihn warm. Während er höher steigt, versucht er, sich an alles zu erinnern, was er über die Geschöpfe der Nacht weiß. Wie die Kaedin, Xylin und Nsilí gehören die Hrankaedí zu den Wesen der Dunkelheit. Es gibt oder gab auch noch andere Nachtwesen. Allerdings sind sie seltener und scheuer als die vier großen Arten. A'shei weiß nicht, wieviele von den Erzählungen wahr sind und was in den Bereich der Legende gehört. Die Xylin und die Kaedin sollen nahe verwandt sein, wobei die Lichtsammler als umgänglich gelten. Sie leben meist dort, wo es auch Mondlichter gibt, in den Wäldern weit ab von menschlichen Siedlungen. Kaedin bevorzugen die Sümpfe der großen Ebenen. Die Drachenschatten dagegen leben in großen Höhen. Eine Legende sagt, dass es früher neben den dunklen Drachenschatten auch helle Feuerdrachen gab, die tagsüber ihre Bahnen am Himmel zogen. Wie die Xylin die helleren Verwandten der Kaedin sind, so waren die stolzen Feuerdrachen die helleren Cousins der Drachenschatten. Aber die stolzen Shahraní verschwanden bereits vor langer Zeit vom Himmel. Nur ihre kleineren, nachtaktiven Verwandten, die Hrankaedí blieben zurück. Auch um diese ranken sich zahllose Legenden. Sie sind so widersprüchlich, dass sich Wahrheit und Dichtung nicht mehr unterscheiden lassen. A'shei weiß von Antim, dass die Drachenschatten der letzten Königin von Silita, Haonàn, treu ergeben waren. Es wird erzählt, dass ein riesiger Hrankae sie nachts von einem Ende ihres Reichs zum anderen trug. Sonst berichten die Geschichten vor allem, wie gefährlich und unberechenbar diese Wesen sind. A'shei fragt sich nicht zum ersten Mal, wieviel Wahrheit in der Geschichte des jungen Müllers heute steckte.
Der junge Schattenwandler erreicht die steinerne Brücke und überquert die letzte Schlucht. Zum ersten Mal sieht er Silita-Suan aus der Nähe. Die grauen, regennassen Mauern wirken abweisend. Da schickt die Sonne unvermittelt ihr goldrotes Abendlicht zwischen zwei Wolkenschichten hindurch und verspricht eine Wetterbesserung. Sofort sieht die Burg freundlicher aus.
Der Regen lässt nach und A'shei erreicht das Burgtor mit Einbruch der Dämmerung. Er bleibt vor der Anlage stehen und atmet tief durch, bevor er wagt, über die altersschwache Zugbrücke die verfallende Burg der Königinnen des Hauses Silita zu betreten.Silàn verschlief den Vormittag und verbrachte wie die letzen Tage den Nachmittags damit, im Wald Holz zu sammeln und zurück auf die Burg zu schleppen. Beinahe bereut sie inzwischen, sich so hoch oben auf dem Burghügel eingerichtet zu haben. Der seit Tagen anhaltende Regen macht die Arbeit unangenehm. Natürlich gäbe es innerhalb der Burg genug brennbares Material, aber sie zögert, Bretter und Balken zu verbrennen, die bei einem Wiederaufbau noch zu verwenden sind. Außerdem findet sie Nahrung vor allem im Wald. Silàn weiß, dass sie nicht mehr lange hier ausharren kann. Jetzt gibt es noch genügend Beeren und Pilze, aber bald wird der Winter den Herbst ablösen und sie muss eine zuverlässigere Nahrungsquelle finden. Immerhin reicht ihr Holzvorrat nun für mehrere kalte Tage. Sie entzündet im Herd ein neues Feuer. Dazu verwendet sie etwas kleine Feuermagie. Es ist eine der wenigen Tätigkeiten, bei denen sie sich magische Hilfe erlaubt. Antim erklärte, dies sei die am weitesten verbreitete Art der Magie. Dafür reicht eine geringe Begabung aus und deshalb hielt der alte Schattenwandler sie für kaum verdächtig. Nach ihren letzten Erfahrungen ist Silàn davon überzeugt, dass ein einziges Schnauben von Ranoz tausendmal mehr magische Energie freisetzt, als das Anzünden eines Herdfeuers mit einem magischen Zeichen.
Sobald das Teewasser aufgesetzt ist, macht sie sich auf den Weg zurück zum unteren Hof, wo noch mehrere Holzladungen darauf warten, in der zunehmenden Dunkelheit hinauf zum Haus gebracht zu werden. Sie will gerade ein Bündel Holz aufnehmen, als ein ungewohntes Geräusch sie aufschrecken lässt. Sind das Schritte? Rasch drückt sie sich in einen Mauerwinkel und zieht vorsichtig Magie der Dunkelheit in ihren Körper. Sie weiß, dass sie nun wie ein Wesen der Nacht kaum besser wahrzunehmen ist als ein Schatten. Regungslos lauschend verharrt sie, das Messer in der linken Hand. Sie kann sich nicht erinnern, es aus der Scheide gezogen zu haben. Durch den Hof nähern sich leise Schritte. Im letzten Licht erkennt Silàn eine schlanke Gestalt, die ab und zu stehen bleibt, um zu lauschen und sich umzusehen. Unbewusst hält sie den Atem an. Da dreht der Fremde das Gesicht in ihre Richtung. Erleichtert atmet sie auf und tritt einige Schritte vor.
«A'shei! Du hast mich gefunden!»
Der erschrockene Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes macht rasch Erleichterung Platz.
«Silàn! Wo kommst du her? Ich konnte dich weder sehen noch hören. Ich bin so froh, dass du da bist.»
Ohne weitere Worte zu verlieren, fällt seine Freundin ihm um den Hals, das Messer immer noch in der Hand. A'shei hält sie fest und beide genießen den Moment, bevor sie sich zögernd aus der Umarmung lösen. A'shei fasst sich als erster wieder. Er lacht, als er das Messer sieht, das Silàn betreten zurück in die Scheide steckt, und drückt ihr den Hut auf den Kopf, den er seit ihrer Trennung für sie trug.
«Wie geht es dir? Wie bist du aus dem Gefängnis entkommen?»
«Hilf mir, dieses Holz zu meinem Haus zu tragen. Dann erzähle ich dir alles. Es ist eine lange Geschichte.»
Mit einem schüchternen Lächeln betrachtet sie ihren Freund von der Seite.
«Du siehst gut aus!»
A'shei mustert sie aufmerksam, während er eine Ladung Holz aufnimmt.
«Du siehst, ehrlich gesagt, nicht gut aus. Bist du krank?»
«Nicht mehr, aber ich habe bei der Flucht zuviel Magie gebraucht.»
«Rohe Magie? Antim hat uns doch gewarnt...»
«Nein, Magie der Dunkelheit oder der Nacht, wie auch immer du sie nennen willst. Ranoz brachte mir bei, wie das geht. Aber ich war noch nicht soweit und habe zuviel Energie auf einmal benutzt. Deshalb wurde ich krank. Ranoz trug mich aus der Stadt und pflegte mich wieder gesund.»
A'shei betrachtet sie sorgenvoll von der Seite, während sie mit ihrer Last den mittleren Hof durchqueren. Silàn wirkt verändert, sie ist selbstbewusster geworden, stärker. Natürlich will er wissen, wer dieser Ranoz ist.
«Ein Freund, den ich dir gerne vorstellen möchte. Aber komm, wir sind gleich da. Ich bin sicher, das Wasser kocht bald.»
Während A'shei und Silàn zusammen Tee trinken, frisches Apfelmus essen und das Brot des Bauern teilen, tauschen sie gegenseitig ihre Geschichten aus. Die regennassen Kleider trocknen am Feuer und es ist fast so gemütlich wie früher in Antims kleinem Haus. A'shei ist erleichtert, dass Silàn in dem alten Drachenschatten einen Freund ihres Hauses fand. Und Silàn lauscht gespannt der Geschichte von A'sheis abenteuerlicher Flucht aus Penira. Der junge Tanna trägt immer noch Fjenis' kariertes Hemd. Silàn findet, dass es ihm gut steht. Da fällt A'shei noch etwas ein. Er holt aus seiner Tasche die Schnitzerei, an welcher Silàn während der Durchquerung von Kelèn arbeitete.
«Hier, das sammelte ich in Penira auf, zusammen mit deiner Tasche. Deine Kleider waren sogar noch drin.»
«A'shei, du bist der beste. Zusätzliche Kleider kann ich wirklich brauchen, jetzt wo es kalt wird. Und dass du meine Schnitzarbeit aufgehoben hast... vielen Dank!»
«Sie hat mich an dich erinnert und mir den Mut gegeben, weiterzumachen.»
Silàn lächelt. Sie ist zum ersten Mal seit Penira wieder völlig glücklich.
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Silàn
FantasyBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...