2-14 Gefangen

2K 124 12
                                    

Gefangen

Die Dämmerung breitet sich rasch in Penira aus. Ohne die geringste Ahnung, wohin sie sich wenden sollen, schauen sich A'shei und Silàn auf dem Platz um. Die Soldaten am Tor sind mit Vorbereitungen für die Nacht beschäftigt. Ein Offizier dreht sich um und blickt gelangweilt zu den beiden verlorenen Gestalten hinüber. Bevor sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenden sie sich ab, um sich in dem Gewirr von Gassen zu verlieren. Sie sind erst wenige Schritte weit gekommen, als Silàn eine dunkle, magische Präsenz wahrnimmt. Sie schaut sich unauffällig um und versucht die Richtung der Bedrohung zu orten. In ihrer Nähe sind nur einige Kinder mit dem Einsammeln von Mist beschäftigt. Etwas weiter weg durchsuchen zwei zerlumpte Bettler den tagsüber liegengebliebenen Abfall. Die Schatten der Gebäude werden dunkler. Die Menschen zogen sich bei Einbruch der Dämmerung in ihre Häuser zurück, nur noch einzelne Gestalten sind hastig dort unterwegs, wo vor kurzem noch ein buntes Treiben herrschte.
Wolken verdecken den Mond, der beinahe wieder voll ist. Aber selbst ihr alter Freund spendet Silàn heute keinen Trost. Aus der Mündung einer Gasse kommt eine Gruppe von königlichen Wachen auf sie zu, vermutlich die Ablösung der Torwachen. Die beiden Reisenden gehen ihnen in der zunehmenden Dunkelheit aus dem Weg und nähern sich der Gasse, die zurück in das Viertel führt, das sie am Nachmittag durchquerten. Auch hier sind inzwischen alle Läden geschlossen, die Straße unheimlich menschenleer. Sie eilen tiefer ins Quartier hinein, auf der Suche nach einem sicheren Ort, um die Nacht zu verbringen. Etwas entfernt in einer Quergasse entdecken sie ein helles Licht. Sie blicken sich an und biegen in diese Richtung ab, vielleicht gibt es da ein Gasthaus. Kaum haben sie die Ecke umrundet packt eine Hand die junge Frau grob an der Schulter. Eine große, dunkle Gestalt versucht, sie in einen Hauseingang zu ziehen. Silàn reißt sich mit einer raschen Drehung los und schreit A'shei zu.
«Lauf!»
Der Junge zögert nicht und sie folgt ihm dicht auf den Fersen, an dem Licht vorbei in eine weitere dunkle Seitengasse. Schwere Schritte hallen hinter ihnen auf dem Pflaster. Sie werden von mehreren Personen verfolgt. Keuchend laufen sie, so schnell sie können, die Gasse entlang und biegen bei der nächsten Gelegenheit in eine Querstraße ein. Ab und zu blickt A'shei über die Schulter zurück, um sicher zu sein, dass Silàn ihm noch folgt. Er schwenkt einmal rechts ab, dann wieder links, im Versuch, die Verfolger abzuschütteln. Aber deren Schritte bleiben immer hörbar, einmal etwas zurückfallend und dann wieder näher kommend. A'shei biegt atemlos um eine weitere Ecke und gleich darauf in eine schmale Gasse, immer auf die Schritte der Verfolger lauschend, welche endlich ein Stück zurückbleiben. Als er merkt, dass er Silàns leichtere Schritte und ihr atemloses Keuchen nicht mehr hört, dreht er sich erschrocken um. Die Gasse hinter ihm ist leer, er hat seine Begleiterin verloren.

~ ~ ~

Silàn gibt sich Mühe, mit A'shei Schritt zu halten. Aber sie ist müde, sie fanden tagsüber keinen geeigneten Ruheplatz und sie kam seit fast zwei Tagen nicht mehr zum Schlafen. Langsam fällt sie trotz aller Anstrengung zurück. A'shei ist ein guter Läufer. Immerhin ist sie schneller als die hartnäckigen Verfolger, deren Schritte nun langsam etwas zurückbleiben. Sie wagt schon fast, aufzuatmen, als aus einem dunklen Durchgang heraus eine lautlose Gestalt das Mädchen anspringt. Silàn liegt auf dem Rücken am Boden, bevor sie weiß wie ihr geschieht. Über sie gebeugt steht ein weißer Wolf, seine Kiefer fest um ihre Kehle geschlossen. Sie wagt weder, sich zu bewegen, noch einen Laut von sich zu geben. A'sheis Schritte verhallen um die nächsten Ecke, während jene der Verfolger unaufhaltsam näher kommen. Sie hört ein trockenes Lachen, bevor ihr ein Schlag gegen den Kopf die Besinnung raubt und sie in Dunkelheit versinken lässt.

~ ~ ~

A'shei steht an eine Hauswand gedrückt lauschend da. Er hört keine Schritte mehr, weder jene von Silàn noch diejenigen der Verfolger. Leise spannt er seinen Bogen und zieht einen Pfeil aus dem Köcher. Dann verfolgt er vorsichtig seinen Weg zurück. An der Ecke bleibt er stehen und späht um die Gebäudekante. Die Gasse vor ihm ist leer, kein Geräusch ist zu hören. Er geht leise weiter, nicht mehr sicher, wann Silàn zum letzten Mal hinter ihm war. Der Rückweg ist nicht einfach zu finden. Ist er hier entlang gekommen oder war das doch die andere Gasse? An der nächsten Ecke bleibt er erschrocken stehen. Auf dem schmutzigen Straßenpflaster liegen Silàns Hut und ihre Tasche. Er nähert sich vorsichtig, den Pfeil immer noch auf der Bogensehne. Die Tragriemen der Tasche sind zerrissen, der Hut von einem Stiefel in den Schmutz getreten. Rasch sammelt er beides auf und blickt sich um. Die Gasse ist menschenleer. Im Strassenschmutz erkennt er die Abdrücke von schweren Stiefeln und die Spuren eines großen Hundes - oder eines Wolfs? Aber was macht ein Wolf in der Stadt? Er versucht, die Spuren im schwachen Mondlicht besser zu erkennen, beugt sich nahe zur Straße hinunter. Alles ist verwischt. Plötzlich fällt ihm ein weiterer Gegenstand auf, halb in den Schmutz getreten. Es ist Silàns Schnitzarbeit, an welcher sie während den langen Nachtwachen arbeitet. Sie ist fast fertig, ein schön geformtes Stück dunklen Holzes in der Form einer kleinen Kugel, welche von einem schmalen Blatt wie von einer exotischen Blüte umfasst wird. Sanft streicht er mit dem Finger über die glatte Oberfläche der Skulptur, die ihn an viele gemeinsame Stunden erinnert. Mit feuchten Augen steckt er sie in die Tasche und macht sich entschlossen auf die Suche nach seiner Freundin, den Blick auf die schwach lesbaren Spuren im Straßenschmutz geheftet. Er muss Silàn wiederfinden, schließlich hat er versprochen, sie nach Silita-Suan zu bringen.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt