1-15 Eine Botschaft

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Eine Botschaft

Nach dem ersten Schreck ist Angie nicht mehr zu bremsen. Nun will sie im Detail wissen, was Silàn in jener anderen Welt alles erlebte. Diese ist fast froh, als Stefan schließlich zum Essen ruft und nimmt der kleinen Schwester das Versprechen ab, niemandem etwas von dem magischen Zeichen zu erzählen. Trotzdem fürchtet sie während der Mahlzeit, dass Angie gleich mit dem Geheimnis herausplatzen wird. Aber offenbar versteht diese, dass es hier um eine wichtige Sache geht. Sie erzählt fröhlich von ihren Plänen für die nächste Woche, ohne sich nur andeutungsweise anmerken zu lassen, dass sie soeben etwas Unglaubliches erlebte.
Nach dem Abwaschen bittet Andres Silàn, ihm in der Werkstatt zu helfen. Sie verzieht zur Tarnung das Gesicht, ist aber froh, endlich mit ihm allein zu sein. Andres spannt eine alte Schranktür auf die Werkbank und drückt dem Mädchen ein Stück feines Sandpapier in die Hand.
«Hier, versuch die Farbresten in den Fugen wegzubekommen.»
Er lächelt, als sie sich über die Arbeit beugt.
«Und, bist du weitergekommen?»
«Nicht wirklich. Vermutlich blockiert jemand das Tor, vielleicht diese Femolai, von der Antim sagt, sie erhebe Anspruch auf das Reich meiner Mutter. Wenn sie von mir weiß, versucht sie vielleicht, mich fernzuhalten. Silmira und die Xylin haben mir ihre Unterstützung versprochen, also könnte sie mich als Gefahr für ihre Position empfinden.»
Sie arbeitet eine Weile schweigend weiter, bis sie den Mut findet, Andres auch den Rest zu erzählen.
«Vorhin, in meinem Zimmer, konnte ich die Schrift der Schattenwandler zum Leuchten bringen. Angie hat es gesehen.»
«Was ist die Schrift der Schattenwandler?»
Andres klingt verständnislos. Silàn fällt es schwer, etwas zu erklären, was für sie bereits selbstverständlich ist. Sie erzählt von dem Abend, als sie zum ersten Mal ihre Kraft entdeckte. Andres hört aufmerksam zu.
«Denkst du, das kann dir helfen, das Tor wieder zu öffnen?»
«Ich weiß nicht, aber ich bin überrascht, dass ich die Zeichen hier überhaupt formen kann und erst noch bei Tageslicht. Das gibt mir Hoffnung.»
«Vielleicht solltest du in diesem Fall besser deine Zeichen üben, als mir zu helfen.»
Andres schmunzelt und Silàn lächelt erleichtert zurück. Mit dem Finger schreibt sie spontan ihren Namen auf die Schranktür. Das Zeichen glüht auf wie beim letzten Mal. Staunend sieht Andres zu, wie sie es mit dem Finger ablöst und dann in die Luft stellt, wo es einen Moment hell leuchtet, bevor es verblasst. Die Tür der Werkstatt fällt leise ins Schloss. Erschrocken drehen sich Andres und Silàn um. Angie lacht leise.
«Sollte das nicht ein Geheimnis bleiben?»
Andres schaut von einem Mädchen zum anderen.
«Das soll es. Ein Geheimnis zwischen dir, deiner Schwester und mir. Können wir auf dich zählen?»
Angie macht große Augen und beginnt zu strahlen.
«Silàn ist wirklich meine Schwester? Ich habe das immer gedacht. Wenn sie lacht, sieht sie aus wie du, Papa, mit diesen beiden Grübchen auf den Wangen. Und natürlich kann ich ein Geheimnis behalten. Ich kenne viele Geheimnisse.»
«So, welche denn?»
Andres fragt betont neugierig und mit hochgezogenen Augenbrauen.
«Papa, wenn ich sie dir verrate, sind es doch keine Geheimnisse mehr!»
Zum ersten Mal, seit der Spiegel geschlossen ist, lacht Silàn herzhaft. Andres fährt seiner jüngsten Tochter mit der Hand liebevoll durchs Haar.
«So ist es richtig. Aber wir sollten zu den anderen gehen, bevor noch jemand hier hereinplatzt.»

Silàn wartet in ihrem Zimmer bis es im Haus ruhig wird, bevor sie sich davonstiehlt. Endlich ist es soweit. Es regnet noch. Sie zieht sich die Kapuze ihrer Windjacke übers Haar, als sie übers Dach des Anbaus klettert. Andres wartet am Gartentor auf sie. Er erschrickt, als sie sich lautlos nähert und ihn am Arm fasst.
«Du bist im Dunkeln noch geschickter und geräuschloser als deine Mutter. Und du hast die gleichen Silberaugen.»
Seine Tochter lächelt. Aber als er fragt, ob er sie begleiten solle, lehnt sie dankend ab. Sie will das Tor noch einmal allein versuchen.
«Viel Glück!»
Als Silàn vom Waldrand her noch einmal zurückblickt, steht ihr Vater immer noch dort im Regen.

Der Spiegel ist verschlossen, wie erwartet. Silàn setzt sich auf die große Wurzel der Eiche, wo ihr das Blätterdach Schutz vor dem Regen bietet. Sie braucht Zeit zum Nachdenken. Welche Zeichen hat Antim ihr sonst noch beigebracht? Kennt sie einen Spruch, der das Tor öffnen könnte? Schmerzhaft wird ihr bewusst, wie wenig sie über Magie und ihre eigenen Kräfte weiß. Die wenigen Stunden mit Antim konnten ihr nur einen kleinen ersten Eindruck von etwas gegeben, das sie noch nicht versteht. Kann es gefährlich sein, mit diesen Zeichen herumzuspielen? Dann hätte Antim sie wohl gewarnt. Zögernd malt sie mit dem Finger ihr Zeichen in die Luft. Es glitzert im Regen und wird größer, bevor es verblasst. Sie versucht es mit den anderen Zeichen, an die sie sich erinnern kann. Es sind weniger, als sie sich wünscht. Einige leuchten schwach auf, aber keines so schön wie ihr Namenszeichen. Vor allem schafft sie nicht, zwei andere Zeichen zusammenzuhängen, wie sie es mit jenen für ‹Mond› und ‹Tochter› tut. Über ihren Versuchen vergisst sie die Zeit, die Nässe und die Kälte. In ihren Adern brennt ein inneres Feuer, eine Energie, die ihr die Kraft gibt, unbeirrt weiterzumachen. Es muss bereits nach Mitternacht sein, als der Regen aufhört. Zwischen Wolkenfetzen kann sie im Himmel über dem Weg einige Sterne erkennen. Das bringt sie auf eine Idee. Sie versucht es mit dem Zeichen für ‹Stern›, A'sheis Zeichen. Sie kann sich genau erinnern, wie es aussieht, der Junge schrieb es damals neben ihren Namen. Vorsichtig malt sie den siebenstrahligen Stern in die Luft und flüstert dabei A'sheis Namen. Das Zeichen leuchtet golden und dreht sich langsam um die eigene Achse. Es wird größer und glitzert in allen Farben des Regenbogens, bevor es erlischt. Im diesem Moment ist es, als würde der Wind die Luft anhalten. Das Rascheln der Blätter verstummt und setzt erst nach atemlosen Momenten wieder ein. Silàn lauscht gespannt. Der Ruf eines Käuzchens lässt sie zusammenfahren. Sie steht auf und versucht es noch einmal am Tor, erfolglos. Trotzdem hat sie vorhin etwas erreicht. Dann spürt sie, wie der Mond im Westen hinter dem Horizont versinkt. Die innere Kraft, welche sie noch vor wenigen Augenblicken erfüllte, lässt nach und sie beginnt zu frösteln. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Heute Nacht wird sich der Spiegel nicht öffnen.

Nach ein paar Stunden Schlaf fühlt sie sich ausgeruht, bringt aber kaum Motivation auf, in die Schule zu gehen. Die nächsten Tage vergehen schleppend. Sie traut sich nicht, während des Unterrichts ihre Zeichen zu üben, weil sie nie weiß, wann eines zu leuchten beginnt. Deshalb verbringt sie die Zeit damit, aus dem Fenster zu starren und zu grübeln. Sie versucht sich einzureden, dass es wichtig sei, in der Schule aufzupassen. Schließlich weiß sie nicht, ob sie je durch den Spiegel zurückzukehren kann. Aber nach allem, was sie weiß, konnte Tanàn auf dieser Seite des Spiegels nicht auf ihre Magie zurückgreifen. Bei ihr scheint das anders zu sein und das gibt ihr eine gewisse Zuversicht.
Zu Hause geht alles einfacher, seit Andres und Angie sie decken. Sie verbringt zahllose Stunden mit der Schwester in ihrem Zimmer und übt ihre Magie. Angie ist eine gute Beobachterin und analysiert erfolgreich, wann ein Zeichen besonders kräftig leuchtet und welche Fehler rasch zum Erlöschen führen. So gelingt es Silàn, ihr kleines Repertoire zu perfektionieren und alle Zeichen zu beleben, an die sie sich erinnern kann.
Die Nächte verbringt sie am Tor. Aber obwohl sie nun einige Zeichen zu Wörtern zusammenfügen kann, hilft ihr das nicht weiter. Langsam verliert sie die Hoffnung, aus eigener Kraft etwas erreichen zu können.

Es ist Mittwoch, sie sitzt in der Pause niedergeschlagen auf einer Bank im Schulhof. Angie, die die Sorge der Schwester spürt, leistet ihr Gesellschaft. Silàn bemerkt Thomas erst, als er direkt vor ihr steht und die beiden Mädchen angrinst.
«Bettina und Angie! Wenn man euch so trübselig nebeneinander sitzen sieht, muss doch jedem klar sein, dass ihr Schwestern seid. Weshalb also behaupten alle, dass das nicht stimmt?
Angie zuckt die Schultern.
«Mir ist egal, was alle sagen. Und dir doch normalerweise auch.»
Thomas lacht und zaust ihr das Haar.
«Da hast du recht. Reitet ihr zwei Damen heute Nachmittag mit mir aus? Ich lade euch ein, ich muss die Pferde bewegen.»
Die Mädchen schauen sich an. Silàn hat auf einmal das eindringliche Gefühl, dies sei die letze Gelegenheit, etwas mit Angie zu unternehmen. Deshalb verspricht sie, am Mittag Judith zu fragen. Angie ist glücklich und Judith scheint sich ehrlich zu freuen, dass die Mädchen ein gemeinsames Hobby gefunden haben.
Der Ausritt tut gut, Silàn hat das Gefühl, endlich wieder durchatmen zu können. Thomas ist ein angenehmer Gesprächspartner mit einen guten Humor. Er hakt in der Sache mit den Schwestern nicht nach, offenbar sieht er ein, dass dies ein schlechtes Thema ist. Nach dem Ritt helfen die Mädchen, die Pferde zu versorgen. Während Angie Wasser holt, striegelt Silàn die schwarze Stute.
«Wenn man dir zusieht, würde niemand glauben, dass du in der Stadt aufgewachsen bist. Du hast ein Talent mit Tieren, Silàn.»
Dem Mädchen entgeht nicht, dass Thomas eine Betonung auf den Namen legt. Natürlich, Angie hat sie den ganzen Nachmittag so angesprochen. Sie seufzt.
«Thomas. Silàn ist der Name, den mir meine Mutter gab. Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Ich bin überzeugt, Angie wird sie dir einmal erzählen, wenn du sie darum bittest. Aber heute kann ich es nicht.»
Der Junge schaut ihr ernst in die Augen. Schließlich nickt er zustimmend.
«Was immer hier vorgeht, irgendwann möchte ich die Wahrheit wissen.»
Silàn zögert. Auf einmal ist sie sicher, dass sie Thomas um etwas bitten muss, bevor es zu spät ist.
«Thomas, versprichst du mir, dass du dich um meine Schwester kümmerst, wenn ich weg bin?»
Im fragenden Blick des Jungen glaubt sie Verwirrung zu erkennen, aber auch Verständnis.
«Versprochen, Silàn, ich werde für sie da sein».
«Danke.»
Sie lächelt erleichtert und Thomas lächelt zurück. Angie bekommt von dem Gespräch nichts mit.

Heute ist das Wetter endlich besser und der Mond scheint auf den Weg, als Silàn in der Nacht aufbricht. Sie begrüßt ihn wie einen alten Freund. In wenigen Tagen ist Vollmond... Plötzlich fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Silmira! Sie behauptete, dass sie trotz verschlossenem Tor zu Tanàn durchdringen und mit ihr sprechen konnte - körperlos, aber immerhin. Und Silmira bedeutet Mondlicht, ein Name, der mit dem gleichen Zeichen beginnt wie ihr eigener. Aber was ist das Zeichen für ‹Mira›, für Licht? Sie ist sicher, dass Antim es ihr aufzeichnete. Plötzlich erinnert sie sich an A'sheis Lachen, als sie sagte, das Zeichen sehe aus wie eine fette Schlange. Nein, keine Schlange, aber eine Flamme. Sie rennt die letzten Meter bis zu den Eichen. Dort hält sie an und malt mit zitterndem Finger das Zeichen für ‹Mond› in die Luft. Nein, so wird das nichts. Sie atmet tief durch und beginnt noch einmal, mit sicherer Hand. Zuerst ‹Mond›, dann ‹Licht›. Beide Zeichen leuchten, aber sie verschmelzen nicht. Sie ändert die Stellung der Zeichen zueinander: oben den Mond, unten die Flamme. Die Zeichen verbinden sich, fließen ineinander. Bevor das Doppelzeichen verblassen kann, flüstert Silàn heiser den Namen ihrer Patin.
«Silmira!»
Das bringt das Zeichen zum Leuchten. Es wird größer, dreht und windet sich, als wäre es lebendig und staubt in einem Sternenregen auseinander. Im Wald herrscht atemlose Stille. Nur zögernd setzen die nächtlichen Geräusche wieder ein. Silàn lehnt sich gegen den Stamm der Eiche am Tor und legt den Kopf zurück. Diesmal ist sie sicher, dass sie eine Botschaft abschickte. Nun bleibt ihr nur, auf die Antwort zu warten.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt