Vollmond
Die Geräusche des Waldes empfangen Silàn wie eine alte Freundin. Langsam verfliegt die Spannung des Tages. Am Waldrand bleibt sie stehen.
«Macht es euch etwas aus, hier zu warten? Ich fürchte, dass irgendetwas schief geht, wenn ihr mir zuseht. Ich werde mich verabschieden, falls ich durchkomme!»
Andres nimmt sie in den Arm und drückt sie an sich. Angie tut es ihm gleich. Schweigend setzen sich die beiden auf die Bank am Waldrand, während Silàn sich auf den Weg zum Tor macht. Alles scheint heute entspannt und friedlich. Der Wald ist inzwischen so vertraut, dass Silàn sich hier zu Hause fühlt. Bei den Eichen bleibt sie stehen. Der Spiegel ist nach wie vor geschlossen. Aber heute ist sie zuversichtlich, dass sie etwas dagegen unternehmen kann. Ein kleiner schwarzer Schatten huscht über einen vom Mondlicht erhellten Flecken des Waldbodens, bleibt stehen, blinzelt das Mädchen aus schwarzen Augen an und klettert den Stamm der Eiche hoch, um im Blätterdach zu verschwinden. Das Eichhörnchen! Silàn atmet tief durch. Das freundliche kleine Tier war bereits da, als sie zum ersten Mal das Tor durchquerte. Sie nimmt das als gutes Zeichen.
Vorsichtig sucht sie eine Stelle genau zwischen den Eichen und beginnt, Silmiras Namen zu zeichnen. Heute gelingt es auf Anhieb. Die Geräusche des Waldes verstummen, die
Zeichen leuchten golden, werden größer und heller bis sie silbern strahlen wie Nsilí im Mondlicht. Sie lösen sich nicht sofort auf, sondern bleiben vor Silàn hängen, die nun Silmiras Namen flüstert. Sie muss nicht lange warten. Fast sofort verfestigt sich an der Stelle, wo gerade noch das silberne Zeichen stand, der Schatten ihrer Patin. Ihre Stimme drückt Freude aus.
«Silàn. Deine Kraft wird stärker. Bist du bereit?»
Das Mädchen nickt und hört gut zu, als Silmira noch einmal erklärt, was genau zu tun ist.
«Verstehst du alles? Es ist wichtig, dass du nicht an dir zweifelst und alle Bewegungen fließend aneinander hängst, so wie du es geübt hast. Der Vollmond wird seinen Anteil dazu beitragen.»
Silàn schluckt leer und räuspert sich. Es ist, als habe sie die Stimme verloren. Ihr Finger zittert. Der Spruch ist nicht lang, und sie hat die einzelnen Teile bestimmt hundert Mal geübt. Aber jetzt, wo es ernst gilt, ist sie nervös. Noch einmal geht sie die Zeichen durch. Einige sind ihr gut vertraut, ‹Sil› zum Beispiel, damit fängt die Reihe an.
Silàn atmet tief durch und malt mit dem Finger die Zauberzeichen direkt dorthin, wo das Tor sein sollte, in einer flüssigen Bewegung und begleitet von den entsprechenden Worten.Silondai hamin it ondai
Lit henoda, lit bandai
Silhini rameno kamaninSpiegel brich wie Glas
Ohne Schlüssel, ohne Zögern
Mondkönigin das Tor durchschreitetIm Wald ist es totenstill. Die magischen Zeichen reihen sich zu einer langen Kette aneinander, die sich nun vom Anfang her zu einer Spirale zusammenwickelt, immer schneller, bis die einzelnen Zeichen in dem silbernen Feuerwirbel nicht mehr zu unterscheiden sind. Dann dehnt sich der Wirbel aus, bis er die Fläche zwischen den beiden Eichen einnimmt und sich zwischen den Stämmen eine silberne Wand erstreckt. Silàn erkennt darauf ihr Spiegelbild, daneben undeutlich jenes von Silmiras Schatten. Bevor das Mädchen etwas sagen kann, beginnt die Spiegelfläche zu vibrieren, gibt ein leises Knirschen von sich und splittert mit einem ohrenbetäubenden Kreischen in tausend Teile.
Silàn springt einige Schritte zurück und versucht, mit den Händen ihr Gesicht vor Splittern zu schützen. Als die Geräusche des Waldes zaghaft wieder einsetzen, nimmt sie die Hände von den Augen. Das Tor ist offen, der Weg in die Welt ihrer Mutter, in ihre Welt, liegt im Licht des Vollmonds. Es gibt keine Spiegelsplitter, offenbar war das nur eine Illusion. Aber im Mondlicht steht mitten auf dem Weg lächelnd Silmira in ihrer Silbergestalt als wäre nichts geschehen. Rings um sie herum wirbeln die Xylin.
Vor Silàns Augen beginnt sich plötzlich alles zu drehen und ihr Gesichtsfeld zieht sich zu einem Punkt zusammen. Erschöpft sinkt sie auf die Knie. Sie fühlt sich ausgelaugt und schwach. Silmiras Gesicht nimmt einen besorgten Ausdruck an.
«Silàn, steh auf. Du musst durchs Tor kommen, damit ich dir helfen kann!»
Bittend streckt sie ihre Hände aus. Aber das Mädchen vermag kaum seinen Kopf zu heben. Am liebsten würde es sich mitten auf dem Weg zusammenrollen und schlafen. Silmiras warme, dunkle Stimme wird undeutlich und das Rauschen der Blätter ist ein wunderbares Schlaflied. Silàn sinkt in sich zusammen und nimmt nichts mehr wahr.
Die Xylin wirbeln aufgeregt durcheinander, aber weder sie noch Silmira besitzen die Macht, die andere Welt zu betreten. Für sie bleibt das Tor geschlossen. Silmira steht direkt am Spiegel, wenige Schritte von dem Mädchen entfernt, aber sie kann nichts tun, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Verzweifelt senkt sie den Kopf. Zu früh ist sie in ihre eigene Welt zurückgekehrt, nun kann sie Silàn nicht mehr erreichen. Da tritt A'shei leise an ihre Seite. Er beobachtete die Szene aus einiger Entfernung, unfähig selber etwas zur Öffnung des Tors beizutragen, voller Hoffnung auf Silàns Erfolg.
«Silàn, hörst du mich? Ich bin es, A'shei. Du hast versprochen, zurückzukommen. Ich warte auf dich, Silàn.»
Er hält inne und betrachtet die zusammengekrümmte Gestalt seiner Freundin. Mit der Hand wischt er wütend die Augen aus. Er wartet seit Tagen hier am Tor, es ist nicht möglich, dass nun doch alles schief läuft. Verzweiflung liegt in seiner Stimme.
«Was ist mit ihr los, Silmira?»
«Sie benötigte zuviel Kraft, um das Tor zu öffnen. Du weißt bestimmt, dass Magier ausbrennen, wenn sie Magie wirken, die über ihre Kräfte geht. Silàn vollbrachte gerade etwas, wozu nur sehr wenige Magier genug Kraft besitzen. Sie ist völlig erschöpft.»
In den Augen des Jungen stehen Tränen, als er es noch einmal versucht.
«Silàn, wach auf, wir sind hier, um dich nach Hause zu holen. Was ist los mit dir?»
Enttäuscht schlägt er die Hände vors Gesicht und wendet sich ab.
«Sch...»
Silmira berührt in an der Schulter und versucht, ihn zu beruhigen.
«Versuch es weiter, ich glaube, sie hört dich.»
Ungläubig blickt A'shei von der Nsil zum bewegungslos am Boden liegenden Mädchen. Aber er versucht es gern noch einmal.
«Silàn, hörst du mich? Es ist Zeit, dass du aufwachst und nach Hause kommst, wir warten auf dich.»
Silmira lächelt, als sich das Mädchen ein wenig bewegt. Diesmal sieht A'shei es auch.
«Silàn, aufwachen, du hast den Spiegel geöffnet, komm nun zu uns.»
Das Mädchen stöhnt leise und rollt sich noch fester zusammen. Es reagiert nicht mehr auf A'sheis Rufe. Plötzlich wirbeln die Xylin aufgeregt um A'shei und Silmira herum. Der Junge versteht erst nicht, was los ist. Aber dann folgt sein Blick Silmiras ausgesteckter Hand. Die Xylin verharren schwebend und geben keinen Laut von sich. Vom Fuß der Eiche her nähert sich ein schwarzes Eichhörnchen vorsichtig und zögernd dem Mädchen. Es bleibt immer wieder stehen, wittert kurz und hüpft ein kleines Stück vorwärts, bis es schließlich an Silàns ausgestreckter Hand schnuppert. Es hebt den Kopf, schaut keck in die Runde und springt zum Kopf des Mädchens, um es kurz an der Nase anzustoßen. Silàn murmelt leise etwas Unverständliches und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Das Eichhörnchen hüpft geschickt zur Seite und blickt noch einmal zurück, bevor es sich in die Sicherheit seiner Eiche flüchtet. Langsam und stöhnend richtet sich Silàn auf. Sie streicht sich das silberne Haar aus den Augen. Ihre Stimme ist schwach und heiser, aber ihre Augen quellen über mit Tränen der Freude
«A'shei, Silmira, Xylin. Wir haben es geschafft!»
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Silàn
FantasyBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...