Andres' Geschichte
«Ich war jung, und ich war dumm. Ich malte mir eine große Zukunft aus, ich wollte in die Stadt gehen und ein berühmter Musiker werden. In meiner Vorstellung war alles sehr einfach. Selbstverständlich würde es Zeit brauchen, aber ich zweifelte nie an mir. Das Ganze war seit Jahren mein Traum. Dann kam Tanàn ins Dorf, kurz vor dem Ende meines letzten Ausbildungsjahres. Sie tauchte einfach auf, schön und voller Geheimnisse. Peter und ich waren damals die besten Freunde. Wir begegneten ihr eines abends auf dem Dorfplatz und waren ihr sofort hoffnungslos verfallen. Wir verbrachten alle unsere Freizeit zusammen. Peter war der witzige von uns, er brachte sie mit seinen Sprüchen zum Lachen. Alle glaubten, die dunkle, geheimnisvolle Tanàn und der blonde, strahlende Peter würden ein Paar. Ich war bodenlos eifersüchtig. Aber ich konnte Peter nicht böse sein, er war schließlich mein Freund. Als sich dann herausstellte, dass sie mich wählte, konnte ich mein Glück nicht fassen. Wir hielten uns versteckt. Ich weiß bis heute nicht, ob Peter etwas von unserer Beziehung ahnte. Wir hatten nicht viel gemeinsame Zeit. Tagsüber ging ich zur Schule, ich musste meinen Abschluss machen. Und im Gegensatz zu Tanàn brauchte ich eine gewisse Menge Schlaf. Wir verbrachten meist die Stunden vor Sonnenaufgang zusammen, wenn alle noch schliefen. Sie erzählte mir von ihrer Welt, von Silmira und ihrem Lehrer Antim. Von ihrer strengen Mutter, der Königin und davon, dass sie sich davor fürchtete, dieses Amt zu übernehmen. Von Prophezeiungen und alten Weissagungen. Davon, dass sich das Tor in ihre Welt hinter ihr geschlossen hatte und sie nicht mehr dorthin zurückkehren konnte. Zunächst hielt ich alles für Geschichten, aber nach und nach ging mir auf, dass es ihr mehr als nur Ernst war. Wir unterhielten uns stundenlang darüber, was es bedeuten würde, die Nachfolge Haonàns anzutreten oder welche Umbauten Schloss Silita am dringendsten brauchte. Ich weiß noch, wie sie lachte, als ich vorschlug, eine Sauna und einen Billardraum einzubauen. Ich musste ihr zuerst erklären, was das ist. Das waren die glücklichsten Monate meines Lebens. Ich bemerkte erst viel später, was ich damals besaß und gedankenlos wegwarf.
Das kam so. Ich habe erwähnt, dass ich klare Vorstellungen von meiner Zukunft hatte. Ich erzählte Tanàn davon, wie sie mir von ihrem Reich erzählte. Irgndwie nahm ich selbstverständlich an, dass Tanàn mit mir gehen würde. Ich glaube, ich war mir darüber so sicher, dass ich sie nie wirklich fragte. Als ich endlich meinen Abschluss in der Tasche hatte, begann ich Umzugspläne zu schmieden und ein Zimmer für uns zu suchen. Ich war so begeistert, dass ich Tanàns Traurigkeit erst bemerkte, als es zu spät war. Ich glaube, ihr war klar, dass sie in ihr Reich zurückkehren musste, und sie war bereit, mich meinen eigenen Weg ziehen zu lassen. Es war eine Vollmondnacht. Wir spazierten durch den Wald, Arm in Arm. Auf einer Lichtung blieb sie stehen. Ihre Augen hatten im Mondlicht diesen silbernen Glanz. Aber heute leuchtete auch ihr sonst schwarzes Haar silbern. Ihre Schönheit war unvergleichlich. Wir verbrachten eine wundervolle Nacht. Und im Morgengrauen bat ich sie, jetzt gleich mit mir zusammen loszuziehen und meinen Plan zu verwirklichen. Aber sie lehnte ab und sagte, dies sei die Zeit, sich zu trennen. Ich war enttäuscht und wütend. Aber meine Überredungsversuche nützten nichts. Sie blieb standfest und schließlich stritten wir uns. Ich lief davon, packte meine Sachen und zog noch am gleichen Tag los, allein.
In der Stadt lernte ich rasch, dass nicht alles so einfach war, wie ich es mir wünschte. Ich tat alles, um meinen Traum zu verwirklichen. Aber es blieb mir bald nichts anderes übrig, als irgendeinen Job anzunehmen, um zu überleben. Ich arbeitete auf dem Bau und nachts in einer Bar. Meine Musik war nirgends gefragt. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, stolz und erfolgreich zurückzukehren. Tanàn würde einsehen, dass ich recht hatte und wir würden wieder zusammenkommen.
Aber so war es nicht. Ungefähr acht Monate nach unserem Streit musste ich heimkehren, weil mein Vater einen Schlaganfall hatte. Meine Mutter war verzweifelt und ich beeilte mich, so gut ich konnte. Als ich ankam, war er bereits tot. Ich blieb, um der Mutter und den jüngeren Geschwistern zu helfen. Tanàn sah ich erst bei der Beerdigung wieder. Sie war schwanger und mit Peter zusammen. Meine Schwester erzählte mir arglos, die beiden hätten im vorigen Monat trotz Bedenken von Peters Eltern geheiratet und seien sehr glücklich. Ich war so schockiert, dass ich kein Wort mit den beiden wechselte. Noch am gleichen Abend reiste ich in die Stadt zurück. Aber ich konnte meine Mutter nicht allein lassen, ohne das Einkommen meines Vaters würde das Geld bald ausgehen. Deshalb setzte ich mir eine letzte Frist. Sollte ich es nicht in vier Wochen schaffen, mit meiner Musik Geld zu machen oder eine gut bezahlte Arbeit zu finden, würde ich nach Hause zurückkehren und das Angebot des Mechanikers im Dorf annehmen, die Stelle meines Vaters anzutreten. Er hatte mir am Tag der Beerdigung einen Monat Bedenkzeit versprochen. Dass meine Mutter hoffte, ich würde auf das großzügige Angebot eingehen, war ihr an den Augen abzulesen. Den Traum meines Vaters, dass ich ein Studium absolvieren sollte, erwähnte sie nie wieder. Nun, ich setzte noch einmal alles daran, meinen Traum zu verwirklichen. Und nach vier Wochen hängte ich ihn endgültig zusammen mit meiner Trompete an den Nagel, regelte meine Sachen und kehrte nach Hause zurück. Mutter und Geschwister waren glücklich, ich war gebrochen. Aber die neue, ungewohnte Arbeit ließ mir nicht viel Zeit zum Nachdenken. Mir fiel nicht einmal auf, dass ich Tanàn mehr als zwei Wochen nie zu Gesicht bekam. Ich schämte mich damals sehr über mein Versagen und ging alten Bekannten so weit als möglich aus dem Weg. Dann, eines Abends, stand Peter an unserer Tür und wollte wissen, ob ich Tanàn gesehen hätte, sie sei verschwunden. Er machte sich Sorgen, sagte, sie stehe kurz vor der Geburt. Als er abends von seiner Arbeit in der Mühle kam, sei sie nicht aufzufinden gewesen. Seine Eltern dachten, sie sei in ihrem Zimmer, weil es ihr seit Tagen nicht gut ging. Ich erklärte mich bereit, mich einem Suchtrupp anzuschließen. Wir waren bald über dreißig Männer und Frauen. Wir durchsuchten das ganze Dorf und schließlich die Felder und den Wald. Es war eine Vollmondnacht, wir waren in Zweiergruppen mit Lampen unterwegs und hätten sie finden müssen. Aber erst im Morgengrauen stieß eine Gruppe auf sie, tiefer im Wald, als jemand erwartet hatte. Es war zu spät, Tanàn war tot. Aber ihre Tochter lebte, ein kleines Wunder. Niemand wusste, wie sie es geschafft hatte, dich allein zur Welt zu bringen. Du warst in ihren warmen Schal gewickelt und sie hielt dich fest in den Armen. Du hast nicht einmal geweint. Dieses Bild wird mich ein Leben lang begleiten, Tanàn, meine Tanàn, gegen den Stamm einer Eiche gelehnt, die silbernen Augen für immer geschlossen, ihre friedlich schlafende Tochter umschlungen.»
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Silàn
FantasyBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...