Drachenschatten
Ranoz schläft unruhig, immer wieder hört er im Traum den Aufschrei in der Sprache der Xylin. Inzwischen ist er überzeugt, dass er nicht von Femolai stammt. Aber von wem sonst? Befindet sich eine einzelne Xyl in Gefahr? Der Drachenschatten fühlt sich auf ungewohnte Weise angesprochen, wenn nicht sogar verantwortlich. Seit dem Erlöschen des Hauses Silita kümmert sich niemand mehr um das Wohlergehen der Xylin. Diese zogen sich in einsame Waldgebiete zurück. Ranoz verlor längst den Überblick, wieviele Mitglieder dieses sterbenden Volkes es noch gibt. Wie die Drachenschatten werden auch die Xylin bald nur noch eine Erinnerung sein, eine Legende, deren Wahrheitsgehalt niemand kennt. Er seufzt und dreht sich auf seinem Lager um, steckt den Kopf unter die Flügel. Der Hrankae fühlt sich für diese Entwicklung mit verantwortlich. Warum gelang es ihm nicht, Tanàn an ihre Pflicht zu erinnern? Warum ließ er bei Haonàns Tod die Xylin ziehen? Vielleicht hätte er, Ranoz, die Kraft gehabt, die Völker der Nacht zu einen, auch ohne Führung einer Tochter der Nacht. Ärgerlich schüttelt er den Kopf und stößt schnaubend eine dunkle Rauchwolke aus. Solche Gedanken bringen nichts. Selbst wenn er an der heutigen Situation mitschuldig ist, liegt es nicht in seiner Hand, daran etwas zu ändern. Trotzdem lässt sich der Verzweiflungsschrei der vergangenen Nacht nicht aus seinem Kopf verdrängen.
~ ~ ~
Silàn verbringt den Tag zusammengerollt auf ihrem Lager. Sie sehnt sich nach der Nacht, nach dem Mond, der ihr während einiger Stunden Kraft und Zuversicht spendet. Als es endlich dunkel wird, reißt sie sich zusammen und beginnt wieder mit ihren magischen Übungen. Irgendwie muss sie einen Fluchtweg finden. Nachts ist es einfacher, in Dánirahs Traumbildern Zeichen der Hoffnung zu sehen, als tagsüber. Bereits nach kurzer Zeit ist sie wieder der Verzweiflung nahe. Ihre Magie verpufft wirkungslos am Schutzbann des Kerkers. Einzig einfache Sprüche funktionieren, die sich strikt auf Dinge innerhalb des vom Bann umschlossenen Raums beziehen. So gelingt es ihr, einen Strohhalm zu entzünden oder das Wasser im Becher zu wärmen. Gegen den üblen Geschmack des Essens kann sie allerdings nichts ausrichten, dazu müsste sie wissen, woraus der undefinierbare Brei besteht.
Vor dem Monduntergang schickt sie noch einmal einen Hilferuf aus, diesmal an Silmira gerichtet. Ob die Seherin der Nsilí vielleicht besser hört als die Xylin? Vorsichtshalber sendet sie einen weiteren Ruf an die Lichtsammler. Wer weiß, wohin ihre magische Botschaft wandern muss, bis sie einen Empfänger erreicht. Silmira und die Xylin befinden sich weit weg in Atara und könnten wohl frühestens in einigen Wochen hier eintreffen. Sie seufzt, bevor sie sich wieder auf ihrem Lager zusammenrollt, um einen weiteren Tag des Wartens zu verbringen.~ ~ ~
A'shei findet in Fjenis einen echten Freund. Dieser handelt mit seinem Arbeitgeber aus, dass ‹sein Cousin vom Land› bleiben darf, solange er bei der Arbeit hilft und niemandem im Weg ist. Anschließend stellt er A'shei seinen Freunden vor. Darunter ist Raill, ein Junge, dessen Schwester als Dienerin im Palast arbeitet. Er will sie das nächste Mal, wenn sie zu Besuch kommt, nach Gefangenen der dunklen Königin fragen. Im Palast wird viel geklatscht und Pentims Bedienstete diskutieren eifrig über jede kleine Neuigkeit. Fjenis' Freund ist überzeugt, dass seine Schwester weiß, wer in den Verliesen sitzt. Und wenn ein hübsches Mädchen im Verdacht steht, eine gefährliche Zauberin zu sein, ist das bestimmt in aller Munde.
A'shei kann kaum erwarten, Raills Schwester endlich kennenzulernen. In der Zwischenzeit hört er sich auf dem Markt und in Tavernen nach Neuigkeiten um. Er lernte schnell, die Krieger Femolais von jenen Pentims zu unterscheiden. Letztere sind zwar etwas laut und manchmal übermütig, aber trotzdem überall gern gesehen mit ihren himmelblauen Mänteln und der goldenen Sonne auf den Rüstungen. Die finsteren Krieger der Königin der Dunkelheit dagegen führen, wo sie auftauchen, zum Verstummen der Gespräche. Die Menschen fürchten sich vor Femolais Leuten, obwohl sie ihre Angst nicht begründen können. Niemand würde wagen, einem dieser Krieger etwas abzuschlagen. A'shei ist in ihrer Nähe vorsichtig und hütet sich, von ihnen wahrgenommen zu werden. Er fürchtet, dass sie immer noch nach ihm Ausschau halten. Aber mit seinem von Fjenis ausgeliehenen karierten Hemd, das schwarze Haar unter Silàns Hut verborgen, könnte er ein beliebiger Junge vom Land sein, der in der Stadt ein Auskommen sucht.

DU LIEST GERADE
Silàn
FantasíaBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...