2-5 Eine Warnung

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Eine Warnung

Antim geht beim Verlassen des Dorfes mit langen Schritten voraus. Er ist tief in Gedanken versunken und bleibt überrascht stehen, als sich ihm eine Frau in den Weg stellt. Der Schattenwandler blinzelt sie an. Es ist die Frau mit der kranken Tochter von heute morgen.
«Was ist passiert? Geht es deinem Kind besser?»
«Ja, das Fieber ist gefallen und sie schläft jetzt ruhig. Ich wollte mich bei dir bedanken.»
Der alte Mann nickt freundlich.
«Es ist gut, dass meine Medizin hilft. Lass das Kind schlafen und gib ihm nochmals von dem Tee, sobald es aufwacht.»
Die Frau nickt eifrig und reicht dem Heiler einen kleinen Korb.
«Es ist nicht viel, aber ich möchte mich bedanken.»
Im Korb liegen einige Eier, vorsichtig in Heu verpackt. Antim lächelt.
«Vielen Dank! Aber behalte sie und mach deiner Tochter daraus eine Mahlzeit, sobald es ihr besser geht. Wir haben heute noch einen weiten Weg vor uns, ich weiß nicht, ob die Eier heil ankommen würden.»
Die Frau blickt beschämt zu Boden.
«Es tut mir leid dass ich dir nicht mehr bieten kann.»
«Du hast die Medizin bereits bezahlt. Dass sie wirkt, ist gut, aber dafür brauchst du mich nicht extra zu bezahlen. Geh nach Hause zu deiner Tochter, damit du da bist, wenn sie aufwacht.»
Die Frau bedankt sich überschwänglich und lässt sie ihres Weges ziehen. Antim lächelt still vor sich hin. Menschen sind oft schwer zu verstehen. Sie kommen voller Hoffnung auf ein wirkungsvolles Heilmittel zu ihm, sind aber skeptisch und überhäufen ihn mit ihren Fragen und Zweifeln. Und wenn das Mittel schließlich wirkt, haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie vorher seine Fähigkeiten anzweifelten. Der alte Schattenwandler weiß genau, was seine Mittel bewirken. Nicht für alle Leiden gibt es Heilung. Er verkauft seine Salben und Kräuter nur dann, wenn er weiß, dass sie etwas nützen und nicht zusätzlichen Schaden anrichten. Aber nicht alle sogenannten Heiler folgen dem gleichen Ehrenkodex wie die Schattenwandler.

Endlich liegt das Dorf hinter ihnen. Silàn hat das Gefühl, wieder freier atmen zu können, aber die innere Unruhe und Spannung bleiben. Antim geht schneller als sonst, die junge Frau muss sich beeilen, um mit dem alten Mann Schritt zu halten. Fragend blickt sie A'shei an, aber der zuckt nur die Schultern. Auch er weiß nicht, was den Schattenwandler antreibt. Dieser ist völlig in Gedanken versunken. Als sie nach einiger Zeit ein Waldstück erreichen, biegt er zielstrebig vom Weg ab und führt sie auf einem schmalen Pfad weiter. Die Bäume stehen dicht beieinander und es ist kühl. Silàn atmet erleichtert auf, als ihre Augen sich auf das düstere Licht einstellen. Nachts ist es angenehm, so empfindliche Augen zu haben. Aber tagsüber ist es anstrengend, das helle Licht der Sonne blendet sie und verursacht ihr Kopfschmerzen.
Der Pfad, dem sie folgen, ist alt und fast völlig überwachsen. Es braucht ein geübtes Auge, ihn zu erkennen. Aber Antim zögert keinen Moment. Es mag lange her sein, aber er erinnert sich genau, dass sie beim nächsten großen Felsblock abbiegen müssen. Sie folgen nun einem kleinen Bach in einen schmalen Taleinschnitt. Nach einigen Windungen beginnt ein steiler Aufstieg. Schließlich erreichen sie eine kahle, ausgesetzte Felskuppe, die knapp über die Baumwipfel hinausragt. Darauf liegen einige große Felsblöcke, verwittert und von Wind und Regen abgeschliffen.
«Die hat das große Eis im Haonuresh hierhergebracht, im ewigen Winter.»
Antim gibt seine Erklärung, obwohl niemand fragt. Er setzt mit einem leisen Seufzen den schweren Korb ab und lässt sich gegen einen der Felsen gelehnt nieder. A'shei und Silàn folgen seinem Beispiel. Das Mädchen achtet darauf, mit dem Gesicht von der Sonne abgewandt zu sitzen. Schließlich kann A'shei die Frage nicht zurückhalten, die beide beschäftigt.
«Kannst du uns erklären, was wir hier machen?»
«Wir warten auf die weise Frau aus deinem Volk, letzter Sohn der Tannarí. Hier lag vor langer Zeit ein wichtiger Versammlungsplatz der Tannarí von Atara. Ihre Schutzmagie ist zum Teil noch wirksam. Unsere geheimnisvolle Besucherin wird diesen Ort finden.»
Antims Stimme nimmt diesen seltsamen Tonfall an, den er nur verwendet, wenn es um besonders wichtige Dinge geht. Der Schattenwandler liebt es nicht, unterbrochen zu werden oder etwas wiederholen zu müssen.
«Sie scheint eine wichtige Nachricht zu haben, aber der Dorfplatz ist kein Ort für einen solchen Austausch. Ich verstehe noch nicht, warum sie dich aussuchte, Silàn. Lasst uns warten.»
Die Sonne hat längst ihren Zenit überschritten und es ist allen klar, dass es wegen dieses Umwegs nicht möglich ist, noch vor Sonnenuntergang zurück im Tal zu sein.
Nach einer Weile nähern sich leichte Schritte und ein leises metallisches Klimpern. Antim bleibt ruhig sitzen und wartet, bis die Fremde bei ihnen angelangt ist. Er begrüßt sie mit geöffneter Hand und sie lässt sich schweigend mit untergeschlagen Beinen ihm gegenüber nieder. Silàn betrachtet die sie neugierig. Sie trägt das schwarze Haar zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fällt, ähnlich wie bei Antim. Um die Hand- und Fussgelenke klimpern bei jeder Bewegung leise eine große Anzahl Silberringe. Sie geht barfuß und ihre Kleider sind einfach, aber sauber. Ungewöhnlich sind vor allem die dunklen Farben, Brauntöne für den Rock und einen Schal, schwarz für die Bluse. An einem breiten Ledergürtel sind allerlei Säckchen und ein großes Messer befestigt. Als der Älteste ergreift Antim das Wort.
«Ich grüße dich, Tochter der Tannarí.»
Aus Rücksicht auf Silàn und A'shei spricht er die allgemeine Sprache, nicht den breiten Dialekt, den er auf dem Marktplatz verwendete. Die Fremde legt den Kopf etwas schräg und betrachtet ihre drei Gastgeber einen Moment lang schweigend. Schließlich nickt sie fast unmerklich.
«Ich grüße dich, Schattenwandler. Ich grüße dich, Sohn der Tannarí und dich, Tochter der Nacht. Möge diese Begegnung unter einem guten Stern stehen. Ich bin Dánirah aus Eshekir.»
«Ich bin Antim von Atara, Schattenwandler vom Berg. Dies sind A'shei-te-naorim und Silàn-àna-Tanàn. Was führt dich zu uns, Dánirah?»
Die Tanna starrt zuerst A'shei und dann Silàn intensiv an.
«Von dir habe ich viel gehört, Antim vom Berg. Aber deine Begleiter tragen überraschende Namen. Ich habe eine Nachricht für deine Schülerin Silàn. Ich hoffe, ihr werdet mir danach mehr über euch erzählen.»
Antims Blick ist abschätzend. Er vertraut der Fremden, weil er in ihr eine Verwandtschaft spürt, einen Hauch Magie, die wie die seine der Heilung dient.
«Einverstanden. Gib uns die Botschaft, danach darfst du fragen.»
«Die Botschaft ist ein Traum, den ich in der letzten Vollmondnacht hatte. Ich sah dich, Tochter der Nacht.»
Sie blickt Silàn direkt in die Augen und zögert einen Moment. Dann zieht sie hörbar die Luft ein und fährt mit verhaltener Stimme fort.
«Du warst gefangen in einem Kerker. Es war Nacht, deine Hände waren gefesselt. Dann bist du aufgestanden, hast die Fesseln abgestreift und bist durch die Mauer gegangen. Danach sah ich dich auf einer verfallenen Ruine stehen, vor der Silhouette eines Baums ohne Blätter, hoch oben in den Bergen von Eshte, wo die Drachen wohnen. Du sprachst zu jemandem, den ich nicht sehen konnte. Du sagtest, ‹lasst uns den Schlüssel finden› und bist durch ein Loch im Boden hinuntergestiegen. Und schließlich sah ich dich weinend vor einem großen Feuer stehen.»
Dánirah unterbricht sich und blickt auf ihre Hände. Als sie weiterspricht, ohne Silàn anzusehen, ist ihre Stimme sehr leise.
«Der Traum war sehr deutlich. Ich konnte mich am nächsten Tag noch an jedes Detail erinnern. Das sei nur bei Wahrträumen der Fall, lehrte mich meine Mutter. Ich weiß nicht, wieso der Traum zu mir kam. Es war das erste Mal, dass ich so etwas erlebte. Ich habe ihn beiseite geschoben, versucht zu vergessen, was ich nicht verstehen konnte. Aber als ich dich heute auf dem Markt sah, wusste ich, dass das alles eine Bedeutung hat.»
Silàn denkt über Dánirahs Geschichte nach. Sie weiß nicht, was sie dazu sagen soll. Schließlich ergreift Antim das Wort.
«Du sagst, das war dein erster Wahrtraum. Bist du sicher, dass er zutreffen wird?»
«Wie sollte ich sicher sein? Meine Mutter war eine Seherin der Tannarí. Vielleicht ist ihre Gabe nach ihrem Tod zu mir gekommen?»
«Deine Mutter war Shonai? Wie ist sie gestorben?»
Dánirah nickt. In ihren Augenwinkeln glitzern Tränen.
«Es war im letzten Winter. Wir hatten wenig zu essen und niemand wollte uns Unterkunft geben. Shonai war alt und hatte nicht viel Kraft. Sie wachte eines Morgens nicht auf.»
Antim senkt den Kopf. Er hat viele alte Bekannte überlebt. Aber die Wahrträumerin der Tannarí... Shonai war eine gute Freundin, die er viel zu selten sah. Ihr Tod schmerzt, vor allem, weil sie vielleicht überlebt hätte, wäre sie nicht eine heimatlos umherziehende Tanna gewesen.
«Du hast Shonai gekannt?»
«Ja, ich habe deine Mutter gekannt. Wir haben uns selten gesehen, aber trotzdem all die Jahre über den Kontakt gehalten. Sie war eine große Seherin - ihre Träume sagten meines Wissens immer die Wahrheit. Sie waren nie einfach zu verstehen, aber immer wahr.»
Er mustert Silàn.
«Das letzte Mal, dass ich Shonai begegnete, war vor über zwei Jahren. Ich besuchte sie in den südlichen Ausläufern von Eshte, kurz bevor Silàn zum ersten Mal durch den Spiegel kam. Sie erzählte mir von einem Traum, in welchem Hoffnung in diese Welt zurückkehrte.»
«Ich erinnere mich, wir zogen in dieser Zeit durch das Hügelland. Sie sagte mir, sie müsse etwas alleine erledigen und war einige Tage verschwunden. Danach sprach sie davon, dass der Mondbaum von Silita ein letztes Mal blühen würde und dass die Hoffnung der Tannarí noch nicht gestorben sei.»
Antim nickt und Silàn fasst unbewusst an das Mondbaumblatt, welches sie an einer feinen Kette um den Hals trägt. Schließlich wagt sie zögernd, eine Frage zu stellen.
«Weißt du, was dein Traum bedeutet, Dánirah?»
Die Tanna schüttelt traurig den Kopf. Für sie sind Träume aneinandergereihte Bilder. Ihr fehlt die Erfahrung ihrer Mutter, sie zu interpretieren. Antim scheint ihre Gedanken zu erraten.
«Es braucht Zeit, Wahrträume richtig verstehen zu lernen. Ich glaube, dieser ist eine Warnung, dass bald etwas geschehen wird. Silmira sagte kürzlich Ähnliches voraus. Was mit dem Kerker gemeint ist, weiß ich nicht. Aber das zweite Bild ist klar. Das muss die Burg Silita sein, mit dem Mondbaum Silfanu, der seine Blätter bei Haonàns Tod verlor. Ich denke, es wird Zeit, dass du dich auf den Weg dorthin machst, um dein Erbe anzutreten, Silàn.»
Plötzlich scheinen sich die Spannung und die Unruhe aufzulösen, die Silàn den ganzen Tag bedrückten. Sie atmet erleichtert auf.
«Danke. Ja, ich glaube, das ist die richtige Entscheidung.»
Antim blickt sie besorgt an.
«Nun, in der Weissagung gibt es einige Dinge, die mir nicht gefallen. Trotzdem glaube ich, dass es das Beste ist. Vielen Dank, Dánirah-àna-Shonai.»
«Ich hoffe, dass der Traum dir keinen Schaden bringt, Tochter der Nacht.»
Die Tanna sieht mehr als genug bedrohliche Elemente in ihrem Traum und fürchtet um die junge Frau. Trotzdem, sie sieht das Mondbaumblatt an Silàns Hals und schöpft daraus neue Hoffnung. Nun ist es an der Zeit, ihre eigenen Fragen zu stellen.
«Antim von Atara, wie kommt es, dass du zu deinen Schülern eine Tochter der Nacht und einen Sohn der Tannarí zählst?»
Der Schattenwandler lächelt. Er hat die Frage erwartet und ist bereit, der Tochter einer alten Freundin Antwort zu geben, allerdings nicht so, wie sie es denkt.
«Du weißt so gut wie ich, dass es keine Töchter der Nacht mehr gibt, seit Tanàn in einer fremden Welt verloren ging. Silàn ist nicht meine Schülerin, nicht mehr. Sie weiß alles, was ich ihr beibringen kann. Ich denke, von hier aus muss dein Traum ihr den Weg weisen.»
Er seufzt und schaut A'shei an. Der Junge kennt die seltsame Geschichte seiner Herkunft seit langer Zeit. Trotzdem hängt sein Blick gebannt an den Lippen des alten Magiers.
«A'shei ist, wie du richtig bemerkt hast, ein Kind der Dämmerung. Erinnerst du dich an He'sha und Orinai?»
Dánirah nickt. Sie war selber kaum erwachsen, als es geschah. Aber wie könnte sie sich nicht an den großen Tanna-Jäger He'sha und seine schöne Frau Orinai erinnern? Die tragische Geschichte der Liebenden, die es vorzogen, in einer kalten Winternacht zu erfrieren, statt ihre Freiheit aufzugeben, wird an den seltenen Lagerfeuern ihres Volkes immer wieder erzählt. Antim weiß der Legende ein Detail hinzuzufügen.
«Alle gehen davon aus, dass Orinais Sohn mit seinen Eltern erfror. Das ist nicht richtig. Als ich die beiden fand, lebte A'shei noch. Seine Mutter hielt ihn fest umschlungen und hielt ihn bis zuletzt mit ihrer Körperwärme und wohl ihrer Magie am Leben. Er war damals nur wenige Sommer alt und wuchs bei mir auf. Du weißt selber, dass euer Volk nach dem Krieg der Kälte kaum in der Lage war, zu überleben. Ich hatte eigentlich vor, A'shei einer Tanna zum Aufziehen zu übergeben. Aber es ist nie dazu gekommen. In Atara sind bis heute keine Tannarí aufgetaucht, die in der Lage gewesen wären, sich um ein Kind zu kümmern.»
A'shei und Silàn schauen sich ernst an. Beiden wird zum ersten Mal bewusst, wie ähnlich sich ihre Geschichten im Grund genommen sind. Antim, der den Blick bemerkt, lächelt.
«Die Wege des Schicksals sind verschlungen. Was führt dich eigentlich nach Himenar, Dánirah?»
«Seit dem Tod meiner Mutter bin ich weit gewandert, ohne mein Ziel zu kennen. Ich denke, dass es meine Bestimmung war, heute Silàn zu treffen. Nun wird es wohl Zeit, nach Eshekir zurückzukehren. Dort gibt es eine Handvoll Tannarí, die ihrem letzten Sohn und der rechtmäßigen Königin der Nacht beistehen werden, wenn die Zeit soweit ist.»
Antim nickt und steht auf.
«So sei es, Tochter von Shonai. Du weißt, wo du mich findest. Auf ein gutes Wiedersehen.»
«Auf Wiedersehen, Antim. Auf Wiedersehen A'shei und Silàn. Ich denke, meine Träume werden uns früher oder später wieder zusammenführen.»
Die Sonne steht tief über dem Horizont, als sie ihre Körbe aufnehmen und sich von der Wahrträumerin trennen. Dánirah verschwindet leichtfüßig wie ein Schatten zwischen den Bäumen des Waldes. Antim, A'shei und Silàn machen sich schweigend und in Gedanken auf den Weg ins Tal des Schattenwandlers.

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