Geheimnisse
Silàn sagt lange Zeit nichts. Andres hat den Kopf in die Hände gestützt und die Augen geschlossen. Eine einzelne Träne hängt in seinem Augenwinkel. Schließlich öffnet er seufzend die Augen.
«Die Ambulanz kam, danach die Polizei. Du wurdest ins Spital gebracht, alle waren furchtbar aufgeregt. Aber du warst kerngesund. Schon bald konnte dich Peter nach Hause holen. Tanàn liegt drüben auf dem Friedhof begraben. Ich besuche noch immer in jeder Vollmondnacht ihr Grab.»
«Mein Vater zeigte mir nie ihr Grab.»
Andres schaut sie seltsam an.
«Ich rechnete nach. Mindestens eintausend Mal. Du wurdest neun Monate nach der Nacht geboren, in der wir uns liebten, neun Monate nach unserem verhängnisvollen Streit.»
Bettina ist schockiert. Das ist nicht möglich. Das hätte sie wissen müssen, spüren. Sie starrt den Mann, der behauptet, ihr Vater zu sein, mit großen Augen an.
«Weiß mein Va- weiß Peter davon?»
Andres schüttelt müde den Kopf.
«Nein, ich glaube er kam nie auf die Idee. Zunächst kümmerte sich seine Mutter um dich. Aber dann stritt Peter mit ihr, ich glaube, es ging um dich. Er ging in der Nacht mit dir weg, ohne sich zu verabschieden. Ich sah ihn und dich erst Jahre später wieder, bei der Beerdigung von Peters Mutter und kurz darauf seinem Vater. Peter erreichte mehr als ich, er hatte einen guten Job, eine hübsche Freundin und du sahst glücklich aus. Wie konnte ich mich damals in eure Familie einmischen?»
«Die hübsche Freundin muss Sabine gewesen sein. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und hasste sie.»
«Ich erinnere mich nicht an den Namen. Ich hatte längst Judith geheiratet und zwei eigene Kinder.»
«Oh mein Gott, daran habe ich noch nicht gedacht. Stefan und Angie sind meine Geschwister!»
Wieder wirft ihr Andres diesen Blick zu.
«Angie, ja, sie ist deine Halbschwester. Wer euch zusammen sieht, müsste das eigentlich sofort erkennen. Stefan, das ist eine andere Geschichte.»
Als ihn das Mädchen fragend ansieht, fährt er zögernd fort.
«Als ich hierher zurückkam, hatte ich erstmal keine Augen für Frauen. Aber nach einigen Monaten begann ich wieder mit Judith auszugehen. Wir waren vor Jahren ein Paar gewesen, in der Schule. Sie ist fast zwei Jahre jünger als Peter, aber das weißt du ja. Peter war damals bereits verschwunden und ich hatte kaum Freunde. Judith war als einzige wie immer mir gegenüber. Sie lachte über meine Romanze mit Tanàn und behauptete, sie hätte inzwischen auch einige Erfahrungen gesammelt. Wie sich herausstellte, manifestierte sich eine dieser Erfahrungen rasch auch sichtbar. Sie war schwanger mit Stefan. Der Typ, mit dem sie sich eingelassen hatte, war längst weg, ein Student, der in den Ferien den Bauern bei der Ernte half. Judith versuchte, ihn zu erreichen, aber er war nirgends aufzutreiben. Damals war eine ungewollte Schwangerschaft ein großes Problem, vor allem für ein Mädchen das gerade erst volljährig war. Ich fühlte mich verpflichtet, für Peters Schwester einzuspringen.»
«Du hast sie geheiratet, obwohl du wusstest, dass Stefan nicht dein Sohn ist.»
«Ja, es mag idiotisch klingen, aber ich hatte das Gefühl, Peter, Tanàn und dir etwas schuldig zu sein. Später wurde mir klar, dass ich damit niemandem einen Dienst tat außer Judith und natürlich Stefan. Aber ich bezweifle, dass er es heute zu schätzen wüsste.»
«Er weiß nichts davon?»
«Nein, genau sowenig wie Peter. Judith und ich haben uns versprochen, das nie jemandem zu erzählen.»
«Also darf Angie nicht erfahren, dass wir Schwestern sind?»
Andres stützt nachdenklich das Kinn in die Hand. Das Ganze ist kompliziert, er möchte niemanden verletzen - am wenigsten Angie und Silàn, die keine Schuld an der Situation tragen. Er ist stolz auf seine beiden Töchter, und möchte, dass sie glücklich sind. Aber im Moment gibt es zu viele Geheimnisse, zu viel Ungesagtes.
«Was schlägst du vor, was ich tun soll?»
Silàn denkt nach. Sie möchte Angie unbedingt wissen lassen, dass sie Schwestern sind. Aber sie befürchtet, dass Stefan das dann bald herausbekommen würde. Er streitet sich dauernd mit der jüngeren Schwester und irgendwann würde sie sich bestimmt im Zorn verraten. Dass Peter ebenfalls nichts von der Geschichte weiß, macht es nicht einfacher. Es wird schwierig werden, sich ihm gegenüber in Zukunft normal zu verhalten. Schließlich trifft sie eine Entscheidung.
«Ich denke, wir sollten das für uns behalten. Silmira und Antim wollen mich überzeugen, das Erbe meiner Mutter anzutreten. Falls ich mich dafür entscheide, werde ich in ihre Welt hinübergehen müssen. Dann spielen die genauen Verwandschaftsverhältnisse hier wohl keine Rolle, und es ist besser, wenn Angie nichts weiß. Peter hingegen...»
Sie seufzt und bricht mitten im Satz ab. Seit kurzem plaudert Peter regelmäßig mit einer Frau aus dem Dorf und gestern Abend war er mit ihr spazieren. Bettina war sehr eifersüchtig und liess es ihn wohl auch spüren. Aber heute sieht alles ganz anders aus. Vielleicht ist es das Beste, wenn er wieder jemanden findet, den er lieben kann?
«Denkst du, das wird etwas, mit Peter und dieser Brigitte?»
Andres fällt es leicht, den Gedankengängen seiner Tochter zu folgen.
«Nun, die beiden waren schon in der Schule befreundet. Ich finde, sie passen zusammen. Brigitte ließ sich allerdings erst vor kurzem von ihrem Mann scheiden. Sie wird wohl einige Zeit brauchen, um sich wieder mit jemandem einzulassen. Aber Peter - ich nehme an, du hast seine Blicke gesehen.»
Ja, das hat sie, und ihr fiel auf, dass Peter weniger oft nach einer Ausrede sucht, um an Alkohol zu kommen. Vielleicht schafft diese Brigitte, was ihr nie gelang? Sie seufzt.
«Ich hoffe für ihn, dass etwas daraus wird. Vielleicht wird er sogar wie früher. Er war ein wunderbarer Vater, bis die Sache mit seiner Arbeit passierte. Es wäre schön, wenn er noch einmal neu beginnen könnte.»
Andres ist überrascht, wie erwachsen dieses fünfzehnjährige Mädchen klingt. Aber Tanàn war nur zwei Jahre älter, als er sie kennenlernte. Vielleicht ist das das Erbe von Silita? Er trifft eine Entscheidung.
«Silàn, ich denke, du musst deinen Weg gehen, wohin er dich auch führt. Das Erbe deiner Mutter ist stark in dir, ich glaube nicht, dass du viel von meiner Seite mitbekommen hast. So gerne ich dich hier bei uns behalten möchte, so gerne ich Angie eine Schwester gönnen würde, das alles scheint belanglos im Vergleich dazu, was dir hinter dem Spiegel bestimmt ist. Niemand hier hat das Recht, etwas von dir zu fordern. Du bist in erster Linie Tanàns Tochter und deinen Weg wirst du, wie sie, selber wählen. Was immer du tust, ich werde dich unterstützen und versuchen, gut zu machen, was ich deiner Mutter angetan habe.»
Silàn betrachtet schweigend die morgendlichen Felder. Sie fühlt sich seltsam, hier im Sonnenlicht. In den letzten Wochen hat sie sich an ein nächtliches Leben gewöhnt. Wie es wohl ihrer Mutter zumute war, unter all diesen Sonnenmenschen? Beim Gedanken daran, nicht mehr durch den nächtlichen Wald streifen zu können, nicht mehr mit den Xylin zu plaudern, fröstelt sie. Bereits nach dieser kurzen Zeit hinter dem Spiegel ist klar, dass sie nicht hierher gehört. Ausgerechnet jetzt muss sie einen Vater finden, den sie kaum kennt aber zu dem sie spontan Vertrauen fasst. Und eine Schwester, die alle guten Eigenschaften der Sonnenkinder in sich vereint. Sie lächelt, als sie bemerkt, wie sehr sie schon in A'sheis Worten denkt. Aber als sie Andres anschaut, wird sie ernst.
«Andres - darf ich dich Andres nennen?»
Auf sein bestätigendes Nicken fährt sie fort.
«Ich glaube, ich werde dem Weg meiner Mutter folgen. Es bleibt mir nicht viel anderes übrig. Wenn ich hier bleibe, werde ich es ein Leben lang bereuen. Was immer mich dort drüben erwartet, es mag gefährlich sein oder mich sogar umbringen, aber es ist mir bestimmt. Zumindest die Xylin sind fest davon überzeugt, dass ich ihnen helfen kann und die einzige bin, deren Macht genügt, der alten Ordnung zum Sieg zu verhelfen. Wie kann ich es da vorziehen, zur Schule zu gehen und einen Beruf zu lernen?»
«Ich denke, dass ist richtig. Eigentlich sollte ich dich abhalten, aber etwas sagt mir, dass ich bereits genug Fehler auf mein Gewissen geladen habe. Wirst du sofort gehen?»
«Ich bin heute Nacht mit A'shei verabredet. Ich möchte mich mit ihm besprechen. Ich glaube, heute Nachmittag löse ich mein Versprechen Angie gegenüber ein und gehe mit ihr reiten.»
Andres lächelt.
«Tu das, sie wird sich freuen. Besuchst du uns, wenn du hinüber gehst?»
«So oft ich kann. Antim wird mich unterrichten. Ich habe noch vieles zu lernen, auch dort drüben.»
Gedankenverloren spielt sie mit dem Blütenblatt des Mondbaums.
«Was ist das? Es ist wunderschön!»
Zögernd reicht ihm Silàn das Blatt. Im Tageslicht ist es fast durchsichtig, mit einem leichten Regenbogenschimmer. Es ist hart, aber warm und gibt ihr Kraft. Zumindest fühlt es sich so an. Andres hält das Blatt vorsichtig in der offenen Hand und betrachtet es genau.
«Hier am Ansatz gibt es eine Stelle, an der ich ein Loch bohren könnte. Wenn du möchtest, kannst du es an einer Kette um den Hals tragen.»
Silàn lächelt. Das wäre schön, sie fürchtet schon die ganze Zeit, sie könnte das Blatt verlieren. Zusammen gehen sie zurück zum Haus und in Andres' Werkstatt. Noch ist niemand aufgestanden. Andres sucht seinen dünnsten Bohrer und spannt ihn in die Ständerbohrmaschine ein. Dann befestigt er das Blatt vorsichtig in einer Lehre. Silàn fürchtet, es könnte zerbrechen. Aber Andres ist zuversichtlich. Das Mädchen muss während dem Bohren stetig etwas Wasser auf das Blatt träufeln, um es zu kühlen. Vorsichtig setzt Andres den Bohrer an. Es sind nur einige wenige Umdrehungen nötig, fast als würde das Blatt freiwillig ein winziges Loch an der richtigen Stelle öffnen. Schweigend nimmt Andres die feine Silberkette vom Hals, die er immer dort trägt, und fädelt das Blatt darauf.
«Vielen Dank, nun werde ich es niemals verlieren!»
«Die Kette gehörte deiner Mutter. Ich fand sie bei meinen Sachen im Haus meiner Eltern, als sie bereits tot war. Sie muss sie bei mir verloren haben, oder vielleicht liess sie sie absichtlich für dich zurück.»
Mit einem traurigen Lächeln legt er sie dem Mädchen um den Hals.
«Sie erinnerte mich immer an Tanàn. Nun wird sie dich vielleicht ab und zu an mich und deine Mutter erinnern.»
Rasch wendet er sich ab. Aber Silàn hat die Tränen in seinen Augenwinkeln gesehen. Im Haus geht eine Tür, jemand ist aufgestanden. Sie lässt die Kette unter den Pullover gleiten. Das Blatt ist warm und pulsiert leise. Sanft berührt sie Andres am Arm.
«Vielen Dank, für alles.»
Der Mann, der ihr Vater ist, nickt nur.
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Silàn
FantasyBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...