2-11 Am Fluss Haon

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Am Fluss Haon

A'shei legt sich mit den Händlern hin, froh, wieder einmal sorglos schlafen zu können. Aber Silàn hat so kurz vor Vollmond kein Bedürfnis nach Schlaf und verbringt die Nacht wachend am Rand des Lagers. Tòmani, der bei weitem nicht der Älteste aber klar der Anführer der Gruppe ist, lässt eine Wache rings ums Lager patrouillieren. Sie wird mehrmals in der Nacht ausgewechselt. Silàn beobachtet die Bewegungen der Männer, gegen eines der Wagenräder gelehnt, in ihre Jacke gewickelt, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Bogen und Pfeile liegen in Griffweite. Aber alles bleibt ruhig und sie hängt ihren Gedanken nach. Sari erkannte als einzige, was sie tatsächlich ist. Für eine Keleni ist es erstaunlich, dass sie keine Abneigung gegen eine Tochter der Nacht zeigt. Silàn hätte gern gefragt, weshalb, aber es ergab sich keine Gelegenheit dazu. Sie blickt hinüber zu der Stelle, wo unter einer aufgespannten Plane Tòmanis Familie schlummert. A'shei fand bei ihnen einen Platz. Sie gönnt ihm die lang entbehrte Nachtruhe. Er bot an, eine der Nachtwachen zu übernehmen. Aber soweit reicht das Vertrauen der Gruppe den Neuankömmlingen gegenüber doch nicht. Sie hätte gerne noch mit ihm unter vier Augen gesprochen, aber auch dazu ergab sich keine Gelegenheit.
Der Mond nähert sich dem Horizont, als Tòmani die letzte Wache übernimmt. Er schreitet langsam und leise den Rand des Lagers ab. Silàn arbeitet an ihrem Stück Holz, das allmählich die gewünschte Form annimmt. Am Ende seiner Runde bleibt der Nordländer neben ihr stehen. Sie blickt kurz zu ihm hoch, arbeitet dann aber weiter. Er wird sprechen, wenn er soweit ist. Es dauert eine Weile, bis Tòmani die richtigen Worte findet.
«Sari meint, du seist eine Tochter der Nacht. Muss ich um meine Familie fürchten?»
Die junge Frau steckt das Messer zurück in die Scheide und das Schnitzwerk in eine Innentasche ihrer Jacke.
«Hattest du jemals mit Kindern der Nacht zu tun?»
Tòmani zögert mit der Antwort. Schließlich lässt er sich seufzend neben Silàn nieder.
«Nein, das habe ich nicht. Aber ich weiß, dass es gute Gründe gibt, Wesen der Dunkelheit und ihre Verbündeten zu fürchten. Ich bin lange genug in diesem Geschäft.»
«Vermutlich besitzt du mehr Erfahrung als ich. Ich habe noch kein anderes Kind der Nacht getroffen. Es wird behauptet, dass es mein Volk nicht mehr gibt. Ich kenne Nsilí und Xylin. Aber andere Wesen der Dunkelheit... Wir haben vor einigen Tagen eines gesehen.»
Sie schaudert beim Gedanken an das Kae. Tòmani beobachtet sie gespannt. Sie fährt sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und spricht zögernd weiter.
«Ich glaube nicht, dass du alle Kinder der Nacht und Wesen der Dunkelheit vergleichen darfst. Diejenigen, vor denen du dich fürchtest, sind auch meine Feinde. Deshalb sind wir froh, mit euch reisen zu dürfen, A'shei und ich.»
Tòmani nickt nachdenklich. Langsam steht er auf, um seine Runde wieder aufzunehmen und seine Gedanken zu ordnen. Als er das nächste Mal bei Silàn vorbeikommt, bleibt er stehen, um eine neue Frage zu stellen.
«Stimmt es, was Dánan sagt? Bist du eine Prinzessin, welche die Dunkelheit bekämpft?»
Silàn streicht sich müde und resigniert mit der Hand übers Gesicht. Schon wieder diese Prophezeiungen.
«Ich weiß es nicht, Tòmani. Aber ich kann dir versprechen, dass ich nichts Böses vorhabe und weder deiner Familie noch sonst jemandem Schaden zufügen will. Ich bin, was ich bin, auch wenn ich selber noch nicht weiß, was das ist.»
Wieder folgt ein langes Schweigen. Schließlich spricht der Nordländer sehr leise weiter.
«Das klingt nach einer schweren Last, für jemanden, der so jung ist wie du. Ich denke, du solltest versuchen, zu schlafen. Ich werde dich wecken, wenn ich etwas Ungewöhnliches beobachte.»
Silàn nickt. Sie beherzigt den Rat und versucht, in der kurzen Zeit zwischen Monduntergang und Sonnenaufgang etwas Schlaf zu finden.

Danach spricht niemand mehr Silàns gemischtes Erbe an. Der Wagenzug nähert sich Tag für Tag dem Fluss. Sie bewegen sich durch Sumpfland. Die Wälder machen endlosen Schilfflächen und Wiesen mit Riedgräsern Platz. Dörfer sind selten und die wenigen Einzelhöfe an der Straße sehen heruntergekommen oder verlassen aus, das Holz verwittert, die Dächer aus Riedgras zerzaust. Niemand spricht die Gruppe an, die so rasch es die vollbeladenen Wagen erlauben durch diese unwirtliche Gegend zieht. Von Sonnenuntergang bis weit nach Sonnenaufgang liegen feuchte, graue Nebel über dem Land. Sie verschlucken alle Geräusche. Je tiefer sie ins Sumpfland kommen, desto bedrückter ist die Stimmung abends am Lagerfeuer. Längst sind alle froh, dass A'shei und Silàn sich mit den anderen in die Nachtwachen teilen. Inzwischen wird jede Wache doppelt besetzt und die Feuer brennen die ganze Nacht, um die Dunkelheit fern zu halten. Es ist nicht einfach, in dieser ewig feuchten Gegend genügend trockenes Holz zu finden. Die Kinder sammeln unterwegs Pferdeäpfel auf, die als zusätzlicher Brennstoff dienen.
Die Vollmondnacht kommt und geht, ohne dass der Mond einen einzigen Moment sichtbar ist. Der Himmel bleibt die ganze Nacht über verhangen und am nächsten Tag setzt ein trostloser Dauerregen ein. Silàn fühlt sich von ihrem Freund, dem Mond betrogen und geht in bedrückter Stimmung neben Tòmanis Wagen her. A'shei versucht vergeblich, sie aufzumuntern. Wenn alles gut geht, sollten sie übermorgen den Fluss und Zalkenar erreichen. Hinter dem Haon beginnt das Kernland des Sonnenkönigs Pentim und dichter bewohntes Gebiet.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt