Markttag
Während dem Rest des Tages geht es darum, die mitgebrachten Waren gewinnbringend zu verkaufen und alles einzukaufen, was sie selber benötigen. Dazu gehören Tuch für neue Kleider und Leder für Taschen und Schuhe. Noch ist es Sommer, aber Antim fürchtet, dass seine beiden Schützlinge gutes Schuhwerk benötigen werden, falls Silmiras Vision eintrifft. Kurz entschlossen und ohne weiter über seine Vorahnung nachzudenken schickt er A'shei und Silàn zum Stand des Schuhmachers auf der anderen Seite des Platzes, um sich noch heute feste Schuhe anpassen zu lassen. Er geht nicht auf die Fragen der beiden ein und seine hochgezogenen Augenbrauen genügen, weitere Kommentare zu ersticken.
Der Schuhmacher sieht älter aus als Antim, obwohl er vermutlich deutlich jünger ist. Er fragt A'shei, ob er denn die Schuhe bezahlen könne. Als Silàn ihm einige Münzen in die Hand drückt, nickt er zufrieden und macht sich zusammen mit seinem Gehilfen an die Arbeit. Er nimmt Maß und meint, es sei kein Problem, die beiden Paare heute fertig zu machen. Silàn würde den geschickten Handwerkern gerne eine Weile zuschauen. Aber es gibt heute noch viel zu tun und die Reihe ist an ihr, Antim zu helfen.
Eine junge Frau bittet den Heiler, nach ihrer kranken Tochter zu sehen. Antim kennt sie von früher und möchte die Bitte nicht abschlagen. A'shei ist unterwegs, um gegerbtes Leder und Tuch einzukaufen. Deshalb bleibt das Hüten des Stands Silàn überlassen. Das macht ihr nichts aus, sie weiß inzwischen, welche Kräuter gegen welches Leiden helfen und zu welchem Preis Antim seine Heilmittel verkauft. Heute ist viel los in Himenar, vielleicht deshalb, weil am Abend ein großes Marktfest stattfindet. Innerhalb kurzer Zeit verkauft sie mehr Pulver und Kräuter als manchmal an einem ganzen Tag. Endlich muss sie einen Moment lang keine Kunden beraten und nutzt die Gelegenheit, sich auf dem Platz umzusehen. A'shei verhandelt immer noch mit dem Gerber, von Antim keine Spur. Er hat mit der jungen Frau ein Haus in einer Seitenstraße betreten.
Als Silàn ihren Blick über das bunte Markttreiben wandern lässt, fällt ihr die dunkel gekleidete Gestalt einer Frau auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes auf. Sie lehnt sich gegen eine Hauswand und blickt direkt zu Silàn hinüber.
«Ich brauche etwas gegen Kopfschmerzen. Hast du etwas starkes, das mir nicht auf den Magen schlägt?»
Silàn fährt erschrocken zusammen. Sie war so mit der Fremden auf der anderen Platzseite beschäftigt, dass sie die neue Kundin nicht bemerkte. Sie entschuldigt sich hastig und fragt dann nach, welcher Art denn die Kopfschmerzen seien. Schließlich empfiehlt sie der Frau ein Pulver, das sie in Wasser auflösen und einnehmen soll, wenn der Schmerz beginnt. Die Kundin schaut sie skeptisch an.
«Und du bist sicher, dass das hilft? Sollte ich nicht lieber den alten Zauberer fragen, der sonst hier ist?»
Silàn ist sicher, dass Antim den Ausdruck Zauberer nicht gerne hören würde. Trotzdem wäre seine Empfehlung die Gleiche, ohne dass er sich etwas anmerken ließe. Aber sie kann nachvollziehen, dass die Frau, die vom Alter her ihre Mutter sein könnte, lieber den alten Heiler persönlich fragen würde. Deshalb lächelt sie freundlich.
«Antim ist sicher gleich zurück, er besucht ein krankes Kind. Er wird dich bestimmt gerne selber beraten.»
Die Frau zögert einen Moment. Schließlich nickt sie lächelnd und reicht Silàn eine Münze.
«Nein, ich denke, ich vertraue dir. Bist du seine Tochter?»
«Seine Enkelin. Er hat mir viel über seine Kunst beigebracht. Aber ich weiß noch lange nicht alles. Pulver für Kopfschmerzen sind nicht schwierig, aber von vielen anderen Dingen weiß ich noch zuwenig.»
«Ich bin überzeugt, dass du eine gute Heilerin wirst. Dein Großvater ist bestimmt stolz auf dich.»
Die Frau verabschiedet sich freundlich. Sobald sie sich abwendet, schweift Silàns Blick wieder über den Platz. Die Fremde hat sich nicht von der Stelle gerührt und starrt immer noch zu ihr hinüber. Sie verspürt ein Frösteln, eine Vorahnung, dass etwas geschehen wird. Als Antim endlich das Haus in der Nebentrasse verlässt, ist sie erleichtert. Mit langen Schritten kommt der alte Heiler über den Platz auf Silàn zu.
«Antim, gut dass du da bist. Da drüben steht eine Frau, die mich schon eine Weile beobachtet.»
Der Blick des Schattenwandlers folgt ihrem ausgestreckten Arm. Aber die Frau ist verschwunden. Silàn fröstelt ein weiteres Mal.
«Sie ist weg. Aber sie stand lange dort drüben an der Mauer und starrte mich an. Ich habe ein ungutes Gefühl.»
Antim betrachtet nachdenklich seine Schülerin und lässt dann langsam den Blick über den Marktplatz schweifen.
«Das habe ich schon eine Weile. Eigentlich seit Silmira das letzte Mal bei uns vorbeischaute.»
Silàn nickt. Sie hat längst bemerkt, dass ihr Lehrer seit Tagen nachdenklich ist. Bisher beunruhigte sie das aber nicht weiter. Nun ahnt sie, dass ein wichtiges Ereignis bevorsteht.
Als A'shei wenige Minuten später stolz mit seinen Einkäufen zurückkommt, verfliegt Silàns Anspannung allerdings schnell. Sie lässt sich von ihm das Leder zeigen, von dem er für Silàn eine Jacke machen will. Diejenige, welche sie aus ihrer Welt mitbrachte, ist schon lange nicht mehr wasserdicht, und das Material reißt an verschiedenen Stellen. Antim meint außerdem, sie sei zu auffällig, um sie auf den Ausflügen nach Himenar zu tragen. A'shei versprach ihr deshalb schon vor einem Mond einen Ersatz. Er ist geschickt mit Leder und sie freut sich jetzt schon mit ihm.
Inzwischen ist Mittag vorbei und Antim schickt Silàn los, Essen einzukaufen. Es gibt da einen Stand mit Gebäck. Besonders die frisch gebackenen, noch warmen Kuchen haben es A'shei und Silàn angetan. Die Bäckersfrau macht sie mit verschiedenen Früchten und vielen Nüssen.
Silàn wählt für alle den Lieblingskuchen aus - Apfel für A'shei, Nuss für Antim und Johannisbeeren für sich selber - und kehrt beladen mit drei großzügigen Portionen zu Antims Stand zurück. Da fasst sie jemand am Ärmel. Sie lässt vor Schreck fast die Kuchen fallen und schaut sich nach der Person um. Es ist die fremde, dunkel gekleidete Frau vom Vormittag. Silàn bleibt stehen.
«Was willst du von mir?»
Die Stimme der Fremden ist leise und hat einen Akzent, den sie nicht zuordnen kann.
«Ich muss mit dir sprechen. Es ist wichtig.»
Sie hält die Augen gesenkt, als traue sie sich nicht, Silàn direkt anzusehen. Diese zieht an ihrem Ärmel, bis die Fremde ihn loslässt. Sie überlegt, was sie tun soll und entscheidet, zu Antim zurückzukehren.
«Komm mit!»
Silàn versucht, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Ohne sich umzublicken geht sie zielstrebig zurück zu ihrem Stand. Deutlich spürt sie die Präsenz der Fremden nur einen Schritt hinter ihr. Wieder verspürt sie diese Unruhe. Antim blickt den beiden erwartungsvoll entgegen. Silàn reicht ihm seinen Kuchen und den anderen A'shei, der verwirrt von Silàn zu der Fremden blickt. Das Mädchen hält immer noch den eigenen Kuchen in der Hand. Er ist noch warm und sie hat Hunger, also beißt sie herzhaft in das Gebäck und blickt dann etwas schuldbewusst Antim an. Dieser kostet lächelnd selber von seinem Kuchen und mustert dabei die Fremde, die mit gesenktem Blick neben Silàn steht. Schließlich ergreift er als erster das Wort, leise, so dass nur die unmittelbar Betroffenen etwas verstehen können.
«Es ist lange her, dass ich einer vollblütigen Tanna begegnete.»
Die Fremde und A'shei blicken den alten Magier mit aufgerissenen Augen an. Silàn begreift augenblicklich. Es ist nicht zu übersehen, beide haben die gleichen hellen, eisblauen Augen, das gleiche tiefschwarze Haar. Wie A'shei nahm sie bis jetzt an, es gäbe keine Tannarí mehr, der Junge sei der letzte Erbe dieses Volkes. Das ist offensichtlich ein Irrtum. Antim, der die Reaktion der Fremden genau beobachtet, nickt und sagt einige leise Sätze in einer fremden Sprache. Die Frau blinzelt einmal und verlässt ohne zurückzublicken den Marktplatz. Rasch verschwindet sie zwischen den Häusern des Dorfes. Silàn und A'shei blicken ihr nach, bis Antims Stimme sie aus ihrer Erstarrung reißt.
«Eure Kuchen werden kalt. Esst auf. Es wird Zeit, dass wir hier zusammenpacken und uns auf den Heimweg machen.»
Es ist ungewöhnlich, dass die beiden nicht versuchen, mit allen Mitteln den Marktbesuch zu verlängern oder darum bitten, zum Fest zu bleiben und erst am nächsten Tag heimzukehren. Heute nicken sie nur und beenden rasch die Mahlzeit, um beim Einpacken der Waren zu helfen. Die Unruhe greift nun auch auf A'shei über. Immer wieder blickt er mit gerunzelter Stirn in die Richtung, in der die Fremde verschwunden ist. Schließlich stößt Silàn ihn ungeduldig an.
«Komm schon, A'shei, je schneller wir hier weg sind, desto früher erfahren wir, was los ist.»
Der Junge nickt und konzentriert sich von da an auf seine Arbeit.Wie immer gibt es noch einige späte Kunden, die zum Stand kommen, wenn bereits fast alle Waren wieder eingepackt sind. Antim empfängt sie geduldig und bedient sie rasch aber effizient, während er A'shei und Silàn zum Schuhmacher schickt, um ihre Schuhe abzuholen. Der Handwerker hat gute Arbeit geleistet, beide Paare passen wie angegossen. Schweigend und in Übereinstimmung packen sie die neuen Schuhe zusammen mit den anderen Einkäufen in die Tragkörbe. Was auch immer der Grund war, warum Antim auf diesem Einkauf bestand, sie würden bestimmt nicht Schuhe anziehen, solange es warm genug war, barfuss zu gehen. Silàn lächelt, als sie daran denkt, wie sehr sie sich in den letzten Jahren in solchen Dingen verändert hat.
Dann ist alles bereit, sie nehmen die Körbe und verabschieden sich freundlich von den Standnachbarn, welche inzwischen selber am Zusammenpacken sind. Schweigend verlässt der alte Heiler mit seinen beiden Begleitern den Marktplatz in der gleichen Richtung wie immer, entgegengesetzt zu derjenigen, die kurz zuvor die geheimnisvolle Tanna nahm.
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Silàn
FantasyBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...