Silmira
Der Wald ist von nächtlichen Geräuschen erfüllt, dem Rascheln der Blätter, Zirpen von Insekten und den Rufen eines Käuzchens. Bettina verlangsamt ihre Schritte in der Nähe des Tors. Das Mondlicht fällt silbern auf die Blätter der beiden Eichen. Langsam beruhigt sich ihr Herzschlag. A'shei wartet auf sie. Er sitzt auf einer Wurzel und schnitzt im Mondschein mit seinem Messer an einem Stück Holz. Als er Bettina sieht, steckt er das Messer ein, lächelt sie an und steht auf.
«Endlich, ich habe schon geglaubt, du kommst nicht. Heute ist Frühjahrsvollmond. Wenn wir den Tanz nicht verpassen wollen, müssen wir uns beeilen. Komm!»
Wie selbstverständlich nimmt er Bettinas Hand und sie folgen Seite an Seite dem Pfad zum Bach. Unterwegs erzählt sie ihm vom vergeblichen Versuch, am Nachmittag mit Angie das Tor zu passieren. A'shei meint, der Spiegel sei wählerisch, wen er passieren lasse. Nach einer Weile, sie folgen inzwischen dem Bachbett aufwärts, fügt er nachdenklich hinzu:
«Vermutlich ist es umgekehrt. Es ist ungewöhnlich, dass der Spiegel jemanden passieren lässt. Du musst etwas ganz Besonderes sein. Du gehörst hierher, deine Cousine nicht.»
Bettina weiß darauf keine Antwort. Schweigend versucht sie, auf den glatten Steinen mit A'shei Schritt zu halten. Einmal rutscht sie aus und tritt ins eiskalte Wasser. Sie kann einen leisen Schrei nicht unterdrücken. Besorgt schaut sich der Junge nach ihr um.
«Es ist nichts, ich bin nur ausgerutscht. Das Wasser ist kalt!»
«Um diese Zeit liegt in den Bergen noch Schnee. Es ist Schmelzwasser. Im Sommer wird der Bach hier warm genug, dass wir baden können. Komm, es ist nicht mehr weit.»
Sie klettern im Mondlicht neben einem Wasserfall über eine Felsstufe. Ein fein zerstäubter Wasserschleier hängt wie eine geheimnisvolle Wolke über dem Bach. Die Tropfen in ihren Haaren und auf ihren Kleidern schimmern silbern im Mondlicht. Oberhalb der Felskante liegt ein kleiner See. Seine Oberfläche ist spiegelglatt und reflektiert die Silhouetten der Uferbäumen.
«Dort, am anderen Ufer. Wir müssen leise sein, damit wir sie nicht erschrecken.»
A'shei hat seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern gesenkt. Bettina tut es ihm gleich.
«Wen meinst du?»,
Sie erhält keine Antwort. A'shei winkt ihr nur, ihm zu folgen und schleicht am Waldrand entlang weiter. Sie sind noch keine fünfzig Schritte weit gekommen, als der Junge unvermittelt innehält. Vor ihm steht eine silbern schillernde, leuchtende Gestalt.
«A'shei - ich hätte mir denken können, dass du es bist, der uns stört.»
Der Junge senkt schuldbewusst den Kopf.
«Silmira. Ich will euch nicht stören. Ich möchte meiner Freundin den Vollmondtanz zeigen. Bitte verzeih. Wenn du es wünschst, werden wir wieder gehen.»
Bettina starrt mit offenem Mund das Wesen an, das aus reinem Mondlicht zu bestehen scheint. Silmira ist ungefähr einen Kopf kleiner als sie, schlank, in ein fließendes Gewand gekleidet, das wie aus Licht gewebt wirkt. Ihr altersloses, kantiges Gesicht besitzt grosse, silberne Augen, eine schmale Nase und einen Mund, der immer zu lachen scheint. Das feingelockte, silberne Haar steht in alle Richtungen und gibt ihr ein zerzaustes, ungebändigtes Aussehen. Die kleinen, nackten Füße scheinen den Boden kaum zu berühren. Eigentlich fehlen nur Flügel und Silmira würde Bettinas Vorstellung von einer Fee sehr nahe kommen. Sie schaut das Mädchen mit einem schalkhaften Blinzeln an.
«Ist das deine Freundin? Wo hast du sie bisher versteckt? Du darfst den Mund ruhig wieder schließen Kind, sonst bekommst du...»
Mitten im Satz unterbricht sie sich und scheint plötzlich selber Mühe mit dem Schließen des Mundes zu haben. Ihre Stimme ist belegt, ihr Flüstern heiser.
«Silàn, du bist Silàn. Du bist zurückgekommen. Wo hast du all diese Jahre gesteckt?»
Bettina und A'shei schauen sich verwirrt an. Der Junge platzt zuerst mit der Frage heraus, die sich beide stellen.
«Du kennst sie? Du hast sie schon gesehen? Das ist unmöglich, sie kommt aus der Welt hinter dem Spiegel!»
Silmira nickt. Ihre Stimme ist warm und dunkel, zu tief für das kleine Wesen.
«Wir sind uns tatsächlich schon begegnet, in der Welt hinter dem Spiegel, vor langer Zeit. Es war in der Nacht deiner Geburt. Deshalb kannst du dich nicht erinnern.»
«In der Nacht meiner Geburt? Als meine Mutter starb? Was weißt du davon?»
Bettina ist aufgeregt. Sie weiß über jene Nacht nur, dass ihre Mutter allein unterwegs war und im Wald ohne Hilfe ihre Tochter zur Welt brachte, was sie selber nicht überlebte. Ihr Körper war noch warm, als der Suchtrupp sie fand, das neugeborene Mädchen eng umschlungen an ihrer Brust.
Silmiras Augen spiegeln das Mondlicht. Bettina glaubt, darin Schmerz zu erkennen.
«Ich war dabei. Ich werde dir erzählen, was ich weiß. Aber kommt erst einmal mit. Ihr seid heute unsere Ehrengäste.»
Sie nimmt die beiden Besucher bei der Hand und zieht sie leichtfüßig den Uferpfad entlang auf eine kleine Lichtung am oberen Ende des Sees. Die hier versammelten Wesen gleichen Silmira und scheinen wie sie aus silbrigem Licht zu bestehen.
«Silàn, A'shei, ich möchte euch die Mondlichter von Atara vorstellen. Nsilí, ihr kennt A'shei. Er bringt uns als Gast Silàn, Tochter von Tanàn, Tochter von Haonàn aus dem Haus Silita. Lasst uns beginnen!»
Ein leises Raunen geht durch die Reihen der Nsilí. Bettina ist das Ziel vieler verwunderter Blicke. Aber dann ordnen sich die Lichtwesen zu einer Reihe und der Vollmondtanz beginnt. Bettina und A'shei sitzen wie verzaubert auf dem Stamm eines umgestürzten Baums und beobachten die Mondlichter. Der Vollmond liefert die Beleuchtung, der Wind, Grillen und Frösche die Hintergrundmusik. Die Lichtgestalten der Nsilí schweben elegant in immer neuen Figuren durch das Gras der Lichtung. Tautropfen auf den Grashalmen glänzen silbern im Mondlicht. Schließlich beginnt eine glockenreine Stimme in einer fremden Sprache zu singen, andere fallen ein. Bettina folgt dem schwerelosen Tanz und lauscht dem melancholischen Lied der Nsilí. Auf einmal steht Silmira wieder vor ihr.
«Silàn, tanz mit uns!»
«Ich kann das nicht, ich bin zu groß und ungeschickt.»
Bettina schüttelt abwehrend den Kopf. Silmira lässt den Einwand nicht gelten.
«Du bist Silàn, Tochter von Tanàn. Der Vollmondtanz liegt dir genauso im Blut wie uns.»
«Meine Mutter hieß Tamara, nicht Tanàn. Ich glaube, du verwechselst mich.»
A'shei blickt Bettina erstaunt an und schüttelt den Kopf.
«Silmira sieht die Wahrheit. Sie irrt sich nie, zumindest nicht in wichtigen Dingen.»
Silmira lacht über die Bemerkung ihr reines Glockenlachen.
«Es stimmt, ich sehe die Wahrheit in manchen Dingen, aber unfehlbar bin ich nicht. Trotzdem, hier irre ich mich nicht. Ich erinnere mich genau an die Nacht, als ich meine beste Freundin verlor und ihre Tochter im Arm hielt. Komm, Silàn!»
Ohne Bettina die Wahl zu lassen und mit erstaunlich viel Kraft zieht Silmira das widerstrebende Mädchen in die Mitte der Lichtung und in den Reigen. Ein Lichtwesen fasst Bettinas andere Hand und schon bald verliert sie sich im Zauber der Bewegung. Nach einer Weile, sie hat jeden Begriff von Zeit verloren, verebbt das Lied der Nsilí. Silmira führt ihren Gast zurück zum Baumstamm. Erschöpft lässt sich Bettina neben A'shei fallen. Die Mondlichter setzen sich in einem großen Kreis ins Gras. Silmira bleibt in der Kreismitte stehen.
«Nsilí, Silàn, A'shei. Ich möchte euch eine Geschichte erzählen.»
Die Geräusche des Waldes verstummen. Es ist, also ob sogar die Bäume Silmiras warmer Stimme lauschten. Leise, aber gut verständlich, hebt sie an.
«Vor vielen Monden verließ uns Tanàn, Tochter von Haonàn, Erbin des Reichs der Nacht, um im Land hinter dem Spiegel ihr Glück zu suchen. Ihr erinnert euch an die Prophezeiung?»
Ein zustimmendes Murmeln läuft durch die Reihen der Nsilí und die Blätter der Bäume.
«Die Prophezeiung sagt:Silondai kamanin
Henoda katenin
Silhini erenin
Silfanu laitalin
Silita arg haminSpiegel durchschreiten
Schlüssel schmieden
Königin finden
Mondbaum erblühen
Silitas Fluch brechenNun weiß niemand wirklich diese Worte zu deuten. Trotzdem wollte Tanàn den ersten Schritt tun und durchquerte den Spiegel. Dort fand sie nicht den Schlüssel, den sie suchte, dafür die Liebe ihres Herzens. Als die Zeit reif war und Tanàn wusste, dass ihre ungeborene Tochter sich nach dem Mondlicht sehnte, beschloss sie, zurückzukehren. Aber der Weg durch den Spiegel war ihr verschlossen.
Ich sah im Traum ihre Verzweiflung. Jede Nacht wachte ich am Spiegel und wartete auf sie. Aber mir blieb das Tor versperrt. Erst in der Vollmondnacht öffnete es sich für mich. Ich hörte den verzweifelten Schrei meiner Freundin. Ohne zu überlegen, eilte ich zu ihr. Sie lag nicht weit vom Tor, aber die Wehen hatten eingesetzt und sie schaffte es nicht, in unsere Welt zu kriechen. Das Kind wurde drüben in der fremden Welt geboren. Ich versuchte, zu helfen, aber dort bin ich ein körperloser Geist, ich konnte ihr nur mit Worten und den Liedern der Nsilí die Leiden erleichtern. Tanàn überlebte die Geburt ihrer Tochter nicht. Sie hielt ihr Kind im Arm und bat mich, es zu beschützen. Dann übertrug sie den Rest ihrer Kraft und all ihre Magie auf das Neugeborene und gab ihrer Tochter und Erbin den Mondnamen Silàn.»
Erneut läuft ein Raunen durch die Versammlung. Silmira blickt Bettina fest in die Augen.
«Silàn, Tochter von Tanàn, Erbin des Hauses Silita, ich grüße dich. Verzeih, ich konnte mein Versprechen gegenüber deiner Mutter nicht halten. Ich blieb die ganze Nacht bei Tanàn, die schwächer wurde, und Silàn, die mir anvertraut war. Ich sang ihr die Lieder unseres Volkes. Aber als der Morgen dämmerte und der Mond sich dem Horizont näherte, musste ich in unsere Welt zurückkehren. Dort drüben hätte ich den Tag nicht überlebt. Ich versuchte, das Kind hochzuheben, aber meine Finger hatten keine Substanz, meine Arme keine Kraft. Beim allerletzten Licht des Mondes kehrte ich durch den Spiegel zurück. Ich überließ Silàn, die Hoffnung unseres Volkes, ihrem Schicksal in einer fremden Welt. Seither trage ich diese Schuld und dieses Wissen. Aber heute ist meine Hoffnung neu geboren.»
Leise stimmt jemand ein Lied an, andere Stimmen folgen. Bettina lauscht gedankenverloren dem fremden und doch vertrauten Gesang, bis die Stimmen nach und nach verebben. Der Himmel im Osten zeigt einen ersten hellen Streifen. Silmira ergreift Bettinas Hände.
«Silàn, die Vollmondnacht geht zu Ende, unser Tanz ist vorbei. Ich wünsche dir alles Gute, bis wir uns wiedersehen.»
Mit ernstem Gesicht wendet sie sich dem Jungen zu.
«A'shei, vielen Dank dass du sie hergebracht hast. Gib gut auf sie acht und bring sie bald wieder zu uns.»
Mit diesen Worten dreht sie sich um und schreitet über die Lichtung davon. Gleichzeitig beginnt ihr Leuchten zu verblassen und sie wird allmählich durchscheinend.
«Halt, warte, du musst mir mehr von meiner Mutter erzählen. Bist du dir sicher, dass das keine Verwechslung ist?»
Bettina springt auf und will Silmira folgen, die schon fast nicht mehr zu sehen ist, aber A'shei hält sie zurück.
«Du kannst jetzt nicht mehr mit ihr sprechen, gleich geht die Sonne auf. Mondlichter haben am Tag keinen Körper. Ich werde dich sobald als möglich wieder zu ihr bringen. Sag, bist du eigentlich nicht müde? Mir fallen die Augen zu!»
Überrascht schaut Bettina ihn an. Bis jetzt hat sie keine Müdigkeit verspürt. Der Junge zuckt die Schultern.
«Nun ja, wenn du tatsächlich eine Prinzessin der Nacht bist, erstaunt es wohl nicht, dass du keinen Schlaf brauchst. Soll ich dich zum Spiegel zurückbringen?»
Bettina läuft es kalt über den Rücken. Sie hat die ganze Nacht im Wald verbracht! Hoffentlich kommt sie rechtzeitig nach Hause, bevor jemand ihre Abwesenheit bemerkt. Sie legen den Weg zum Tor im Laufschritt zurück. Bei den Eichen nimmt A'shei Bettina atemlos am Arm.
«Silàn, versprich mir, dass du zurückkommst.»
Bettina nickt keuchend und drückt den Arm des Jungen. Er hat sie Silàn genannt. Sie könnte sich an den Namen gewöhnen.
«Bis bald, A'shei.»
Dann rennt sie in der Morgendämmerung die letzte Strecke bis zum Haus. Darin brennt noch nirgends Licht, alle scheinen zu schlafen. Es gelingt ihr, unbemerkt wieder auf das Dach des Anbaus und von dort in ihr Zimmer zu klettern. Rasch zieht sie sich aus und schlüpft ins unbenutzte Bett. Als ihr Onkel eine halbe Stunde später an ihre Tür klopft, um sie zu wecken, hat sie noch kein Auge zugetan.
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Silàn
FantasyBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...