3-14 Haonàns Vermächtnis

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Haonàns Vermächtnis

Femolai erreicht endlich das Feldlager ihrer Armee. Die Flussfahrt erschien ihr diesmal endlos. Nun ist sie erleichtert, aktiv zu werden, Befehle zu erteilen, welche akribisch befolgt werden und den angstvollen Respekt in den Augen ihrer Untergebenen zu lesen. Sie steht von ihrem Klappstuhl auf und verabschiedet ihre Offiziere mit schneidender Stimme.
«Das ist soweit alles. Aufbruch bei Sonnenuntergang. Wir sind die Armee der Nacht, wir werden Pentims Heer zeigen, was es bedeutet, uns an seiner Seite zu haben. Bereitet eure Männer vor, ich akzeptiere keine Verzögerungen.»
Sie blickt einem nach dem anderen der harten, kampferprobten Krieger ins Gesicht. Und einer nach dem anderen senkt die Augen, bevor er hastig das Zelt der Königin verlässt. Nur Jonaim bleibt zurück. Auf seinen zernarbten Zügen liegt ein zweifelnder Ausdruck.
«Sie haben Angst vor der Königin. Das mag Vorteile haben, aber meine Königin wird sie mit fester Hand führen müssen, wenn sie nicht will, dass einige den Mut verlieren und davonlaufen.»
Femolai lässt sich mit einem Seufzen in ihren Stuhl fallen. Mit der rechten Hand krault sie Talishas Kopf. Die Wölfin liegt regungslos an ihrem gewohnten Platz und blinzelt nur einmal mit den goldenen Augen. Femolai blickt von ihr zu ihrem vertrauten Hauptmann.
«Du hast recht, sie fürchten mich. Aber nicht ohne Grund. Ich verlasse mich darauf, dass Deserteure mit absoluter Härte bestraft werden.»
Jonaims Gesicht und Stimme verraten keine Gefühlsregung, als er den Befehl entgegennimmt.
«Wie meine Königin befiehlt.»
Aber Femolai kennt ihn schon lange, sie weiß, dass Jonaim noch etwas anderes auf der Zunge brennt.
«Was gibt es noch, das ich wissen muss?»
«Ich denke, meine Königin weiß es schon. Die Männer lieben es nicht, nachts unterwegs zu sein. Sie fürchten sich vor den Dunkelheiten. Vielleicht sollte die Königin vor dem Aufbruch mit ihnen sprechen.»
Femolai streicht sich mit einer müden Geste eine Strähne ihres rabenschwarzen Haars aus dem Gesicht. Natürlich hat Jonaim recht, ihre menschlichen Gefolgsleute lieben nächtliche Gewaltmärsche nicht. Wie die meisten Menschen ziehen sie das Tageslicht den Schatten der Nacht vor. Dabei ist es offensichtlich, dass sie in den kühleren Nachtstunden schneller vorankommen können als die Armee Pentims, die tagsüber marschiert. Dass ihre eigenen Krieger Angst vor den Kaedin haben, das kann und wird sie nicht akzeptieren. Sie wird etwas dagegen unternehmen müssen, die Männer mit den Dunkelheiten direkt konfrontieren. Allerdings fürchtet sie, dass die Kaedin einem näheren Kontakt mit Menschen genau so abgeneigt sind wie umgekehrt.

~ ~ ~

In Silàns Augen gibt es nichts Schöneres als mit Ranoz zu fliegen - vor allem wenn an seiner Seite Noak mit A'shei ihre Bahn durch den Nachthimmel zieht. In diesem Moment vergisst sie all die Aufgaben, die noch vor ihr liegen, den bevorstehenden Krieg und die unvermeidliche nächste Begegnung mit Femolai. Leider ist der Flug vom Gipfel des Hrantosh hinunter nach Silita-Suan nur kurz.
Sie landen direkt im obersten Burghof, im Hof Silfanus. Silàn lässt sich von Ranoz' Rücken gleiten und blickt zum Horizont im Osten. Es dauert nicht mehr lange bis zur Morgendämmerung. Mit raschen Schritten nähert sie sich der Stelle, wo sie vor rund einem halben Jahreszyklus den Samen des Mondbaums pflanzte. Bevor sie den Ort erreicht, richtet sich vor ihr ein zischender schwarzer Schatten auf. Erschrocken bleibt Silàn stehen und zieht blitzschnell eine große Menge magischer Energie zusammen. Der Wechsel in ihre Schattengestalt erfolgt inzwischen so fließend, dass sie ihn kaum mehr bemerkt. Hinter ihr lässt Ranoz ein rumpelndes Lachen hören.
«Sehr eindrücklich, Salik, aber pass auf, dass die Ahranan dich mit ihrer Magie nicht in Stücke schneidet. Ich denke, dass du ihr nicht gewachsen bist.»
Augenblicklich wechselt der junge Hrankae zu seiner Drachengestalt. Er wirkt zerknirscht und lässt den Kopf hängen. Silàn bedauert sofort ihre heftige Reaktion.
«Salik, ich sehe, dass du es genau nimmst mit der Bewachung Silfanus. Vielen Dank dafür. Wie geht es dir?»
Sofort richtet sich der junge Drachenschatten selbstbewusst wieder auf.
«Danke, Ahranan, mir geht es gut. Und der kleine Mondbaum ist ein gutes Stück gewachsen, sieh nur!»
Bei dieser letzten Bemerkung schwingt in seiner Stimme unverkennbar Stolz mit. Silàn muss über den jugendlichen Eifer des Hrankae lächeln. Aber der Schössling des Mondbaums hat sich tatsächlich gut entwickelt. Der schlanke junge Stamm reicht ihr bereits bis zur Hüfte und trägt eine kleine aber dichte Krone von schmalen, lanzettförmigen Blättern. Der Wind lässt sie leise rascheln. Vorsicht berührt Silàn mit der Fingerspitze eines der Blätter. Dann tastet sie mit der anderen Hand nach dem Blütenblatt des alten Silfanu, das sie immer noch um den Hals trägt.
«Ranoz, was glaubst du, wie lange wird es dauern, bis er zum ersten Mal blüht?»
«Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, Ahranan. Unter anderem davon, ob wir ihn vor Femolai beschützen können und natürlich von unserem Erfolg, die Position des Hauses Silita zu festigen.»
Silàn wird sich wieder der drückenden Last bewusst, gegen Femolai bestehen zu müssen. Sie weiß immer noch nicht, wie sie die dunkle Königin bezwingen kann. Vielleicht hat Antim in der Zwischenzeit etwas herausgefunden. Aber ohne die Xylin kann sie nicht mit ihm Kontakt aufnehmen. A'shei scheint ihre düsteren Gedanken zu ahnen. Seine Stimme ist betont fröhlich.
«Immerhin konnte Femolais Fluch dem neuen Mondbaum nichts anhaben, und Salik bewacht ihn gut. Lass uns eines nach dem anderen angehen. Bis jetzt bist du erfolgreich. Die Xylin sind gerettet, die Ijenkaedí stehen hinter dir und Femolai konnte dir in einer direkten Begegnung nichts anhaben.»
«Das stimmt. Trotzdem fehlt mir zu viel Wissen. Wenn ich denke, dass meine Großmutter Haonàn vermutlich über all die Informationen verfügte, die uns jetzt fehlen, ist das ziemlich frustrierend.»
Salik stößt ein heiseres Zischen aus und zuckt aufgeregt mit seinen Flügelspitzen.
«Ahranan, ich habe in meiner freien Zeit damit begonnen, in der Burg aufzuräumen, damit du wieder hier wohnen kannst. Manchmal helfen mir andere Hrankaedí. Dabei habe ich im großen Turm etwas gefunden, was du dir ansehen solltest.»
Er führt A'shei, Silàn, Ranoz und Noak zum Eingang der Höhle, in der er sein Lager anlegte. Der ursprüngliche Zugang ist wieder hergerichtet und bietet nun auch einem ausgewachsenen Drachenschatten wie Noak bequem Platz. Nur Ranoz muss sich immer noch ducken, um ins Höhleninnere zu gelangen.
Salik hat sich in der obersten Tropfsteinkammer eingerichtet. Dorthin bringt er seine Gäste. Ranoz und Noak sehen sich interessiert um, während Salik eifrig in einem Haufen von Tropfsteintrümmern gräbt. Die ganze Zeit murmelt er vor sich hin.
«Ich finde es gleich, Ahranan. Ich wollte es nicht im Turm lassen, weil es da vom Regen hätte nass werden können. Es ist mit starker Magie geschützt, deshalb bin ich sicher, dass es wichtig ist. Nun habe ich es gleich...»
Tatsächlich taucht er kurz darauf mit einem Gegenstand aus seinem Steinhaufen auf, der vorsichtig in ein Stück verschlissenen Stoff eingewickelt ist. Ehrfürchtig überreicht er Silàn das Paket. Es ist knapp eineinhalb Handspannen lang und gut eine breit, aber höchstens drei Finger dick. Als Silàn die Umhüllung entfernt, hält sie ein poliertes Holzkästchen in der Hand, das reich mit Intarsien verziert ist. Der Deckel trägt die eingelegte Silhouette eines Baums vor dem vollen Mond und darüber die Darstellung eines Drachens. Sanft streicht Silàn mit den Fingerspitzen über die Einlegearbeit. Der Mond besteht aus Silber, der Baum aus dunklem Holz und der Drache schimmert dunkel in den Regenbogenfarben. Ob das Perlmutt ist? Ranoz blickt neugierig über ihre Schulter.
«Das ist das Wappen des Hauses Silita, Baum, Mond und Drache. Es muss Haonàn gehört haben. Ich glaube sogar, dass ich es in ihren Räumen sah.»
Vorsichtig dreht Silàn das Kästchen, um auch die Rückseite zu betrachten. Sie ist ebenfalls verziert, aber nur mit kunstvoll verschlungenen Ranken. Da entdeckt sie an den Seiten eine feine Linie. Das Kästchen besteht aus zwei sorgfältig aufeinandergepassten Teilen. Sie versucht, sie auseinander zu ziehen. Sie bewegen sich trotz aller Anstrengung nicht. A'shei schaut sich das Kunstwerk genauer an.
«Du solltest es mit Magie versuchen. Ich bin sicher, dass es magisch verschlossen ist.»
Silàn lässt eine geringe Menge von Magie der Nacht durch ihre Fingerspitzen in das Holz fließen. Wie von selbst lösen sich die beiden Teile voneinander und klappen an einem gut versteckten Scharnier auf. Die Wände des Kästchens sind dünn und das Innere ist mit einem weichen schwarzen Stoff ausgeschlagen. Darin liegt ein in schuppiges Leder gebundenes Buch. Auf seiner Vorderseite ist das Wappen von Silita eingeprägt, Baum, Mond und Drache. Ranoz betrachtet das Buch mit zusammengekniffenen Augen.
«Hmm... Das ist Drachenleder.»
Erschrocken lässt Silàn das Kästchen und das Buch beinahe fallen.
«Bist du dir sicher? Würde Haonàn ein Buch in Drachenleder binden?»
«Nein, du verstehst mich falsch. Das ist nicht die Haut eines Hrankae, sondern eines Shahran. Sie starben vor vielen Generationen aus. Das Buch muss uralt sein, vielleicht stammt es noch von Ureshàn, oder von der ersten Silàn. Ich habe es noch nie gesehen.»
Silàn stockt der Atem. Noch nie war sie den Geheimnissen des Hauses Silita so nahe. Sie sucht sich einen bequemen Platz auf einer umgestürzten Tropfsteinsäule und wartet, bis A'shei und die drei Hrankaedí sich niederlassen. Draußen ist inzwischen die Sonne aufgegangen, sie haben den ganzen Tag über Zeit, sich mit diesem kostbaren Fund zu beschäftigen. Vorsichtig hebt Silàn den Buchdeckel an.
Die erste Seite trägt noch einmal das Wappen von Silita. Auf der dritten Seite beginnt der Text. Er ist in einer feinen, eleganten und sehr regelmäßigen Handschrift geschrieben. Silàn kennt die Zeichen, die hier verwendet wurden, nicht. Sie blickt fragend zu A'shei, aber der schüttelt verneinend den Kopf. Das hier hat mit Antims Zeichen nichts zu tun. Ranoz stößt etwas Rauch aus, aber nur vorsichtig. Er will das kostbare Buch auf keinen Fall beschädigen.
«Ich kann dir nicht helfen. Entweder liegt der Schlüssel zu diesem Text in deiner Magie, oder das Buch ist für dich wertlos.»
Schweigend legt Silàn ihren Zeigefinger aufs erste Wort. Sie lässt eine winzig kleine Energiemenge durch die Fingerspitze kribbeln. Da vernimmt sie in ihren Gedanken eine sanfte Stimme.
‹Mein Name ist Silàn, Silàn von Silita. Ich vereinige die Wesen der Nacht unter dem Zeichen von Baum, Mond und Drache. Ich bin die Königin der Nacht. Dies ist die Stunde, mein Vermächtnis niederzuschreiben für die Tochter meiner Tochter und die Generationen, die nach ihr kommen mögen. Dies ist meine Geschichte. Dies sind die Geheimnisse der Nacht.›
Als Silàn den Finger von der letzten Zeile des ersten Abschnitts nimmt, verstummt die Stimme. Gespannt blicken die anderen sie an.
«Das Buch spricht zu mir. Du hast recht, Ranoz, es gehörte Silàn, der Gründerin des Hauses. Sie sagt, dies sei ihre Geschichte. Vielleicht finde ich endlich einen Hinweis darauf, was die Prophezeiung der Nsilí und die Schrift des Mondsteins bedeuten. Salik, vielen Dank dass du das Buch für mich aufgehoben hast. Es ist unendlich wertvoll.»
Der junge Drachenschatten neigt schüchtern den Kopf. Ranoz und Noak nicken ihm zu. Dann streckt sich Ranoz am Boden aus und faltet geräuschvoll seine Flügel zusammen.
«Es ist spät, Ahranan. Ich werde schlafen. Ich denke, du wirst den Tag mit deinem Buch verbringen.»
Bei Ranoz' Worten muss A'shei unbewusst gähnen. Zusammen mit Noak und Salik richtet er sich ebenfalls zum Schlafen ein, dicht an Noaks Seite zusammengerollt. Aber Ranoz hat recht, Silàn ist viel zu aufgeregt, um sich jetzt hinzulegen. Sie lehnt sich an Ranoz' warme Flanke, um weiterzulesen.
Große Teile des Buches handeln von der Gründung des Hauses Silita. Obwohl sie interessant sind, beinhalten sie nicht das, wonach Silàn im Moment sucht. Sie versucht, dem Text schneller zu folgen und merkt, dass sie die Handfläche auf eine Seite legen kann, um ihren Inhalt in groben Zügen zu erfassen. So kommt sie schneller voran. Nach ungefähr zwei Dritteln des Buches wechselt das Thema. Die Erzählerin ist jetzt in ihrer Gegenwart angelangt und beschreibt ihre Vorkehrungen, um das Reich der Nacht für die Zukunft zu sichern. Sie bestimmt, dass jeweils die erstgeborene Tochter der Königin die Nachfolge antreten soll. Sie beschreibt, weshalb sie außer dem Mond auch den Mondbaum Silfanu und den Drachenschatten zu Symbolen des Hauses auserwählte. Außerdem erklärt sie detailliert das Wesen der Magie der Nacht. Diesen Teil empfindet Silàn fast als Hohn. Wenn sie das Buch von Anfang an besessen hätte, wäre ihr viel Ärger erspart geblieben. Überrascht stellt sie dann fest, dass sie inzwischen mit Ranoz' Unterstützungen und eigenen Experimenten einiges über die Magie der Nacht herausfand, was Silàn der Älteren unbekannt war.
Dann stößt sie auf das Kapitel über den Stein. Die Erzählerin beschreibt, wie sie von einer Tochter der Dunkelheit angegriffen wurde, die enorme Macht besaß und deren Ziel die Unterwerfung aller Wesen der Nacht war. Silàn kämpfte als Königin für ihr Volk, drohte aber zu unterliegen. Schließlich gelang es ihr mit einem Trick, die Quelle der unheimlichen Kraft ihrer Gegnerin gegen sie einzusetzen. Es handelte sich dabei um einen magischen Stein, der die Energie einer Person verstärkte. Um ihn zu aktivieren war große Magie notwendig. Silàn der Älteren gelang es, genügend Energie ihrer Verbündeten, der Hrankaedí, Ijenkaedí, Nsilí und eines befreundeten Schattenwandlers zu bündeln und ‹wie einen Schmiedehammer› auf den Stein zu richten. So konnte sie ihn in ihre Gewalt bringen, ihn ihrer Gegnerin abnehmen und sie vernichten. Die Stammmutter des Hauses Silita äußert sich in ihrem Buch allerdings nicht weiter zu den Details des Vorgangs. Silàn wird das Gefühl nicht los, dass ihre Vorfahrin nicht wirklich verstand, was sie mit dem Stein bewirkte. Auf jeden Fall begreift sie nun, weshalb in der Prophezeiung der Nsilí der Begriff ‹katenin›, schmieden, verwendet wird.
Danach berichtet Silàn die Ältere, dass sie beabsichtige, den dunklen Stein der Macht ihrer Tochter zu vererben. Damit bricht ihr Bericht ab.
Eine Seite später, fast schon am Ende des Buchs, beginnt eine andere, kräftigere Handschrift, die unterschiedliche Schriftzeichen verwendet. Silàn kann sie auf die gleiche Art lesen wie den ersten Teil des Textes. Dieser zweite Teil ist kurz und sachlich. Die Autorin stellt sich vor als ‹Ureshàn, Tochter von Kailàn, Königin von Silita, im Jahr des Todes von Silfanu›. Sie beschreibt, wie sie mit Hilfe des Mondsteins eine Rebellion niederwerfen musste, die von einer Tochter der Dunkelheit geführt wurde. Offenbar gelang es ihrer Gegnerin, den Mondbaum zu zerstören. Allerdings rettete Ureshàn einen Samen Silfanus, den sie wieder einzupflanzen gedachte. Sie beschrieb außerdem, wie der Mondstein langsam an ihrer Kraft zehre. Sie beschloss deshalb, ihn für ihre Nachfolgerinnen sicher zu verwahren, überzeugt, dass eines Tages wieder Bedarf dafür bestehen würde. Denn es gab eine Prophezeiung, die besagte, wenn dem Haus Silita wieder eine Silàn vorstehe und Silfanu von einem Fluch getroffen werde, sei der Mondstein die einzige Möglichkeit, die Urheberin des Fluchs zu besiegen. Ureshàn fügt dann die Worte an, die Silàn bereits von der Insel im unterirdischen See kennt:
‹Silàn, Silhini, henoda ijenai panari, katenin mira panarin›.
Ihre Bedeutung scheint auf einmal klarer. Sie übersetzt den Satz neu, bis sie glaubt, ihn diesmal richtig zu verstehen:
‹Silàn, Mondkönigin, dies ist der Schlüssel zu großer Magie, zu schmieden im Licht von Magien›.
Das bedeutet, dass sie den Mondstein brauchen wird, um Femolai beizukommen. Sie bereut es nun, ihn hinter den Spiegel gebracht zu haben. Andererseits hatte Antim mit der Vermutung recht, dass der Stein gefährlich ist. Er kann missbraucht werden und schwächt seine Trägerin. Silàn ist Ureshàn für diese klaren Informationen dankbar. Auf der Suche nach weiteren Hinweisen blättert sie die leeren Seiten bis zum Ende des Buches durch. Sie will es enttäuscht zur Seite legen, als sie zwischen der letzten Seite und dem Einband ein dicht beschriebenes, vergilbtes Blatt findet. Diesmal kann sie die Schrift lesen, ohne auf Magie zuzugreifen. Es handelt sich um einen Brief. Silàns Augen füllen sich mit Tränen, als sie die Anschrift liest.

Tanàn, geliebte Tochter
Ich schreibe dies, ohne zu wissen, wo Du bist und ob Du jemals zu mir zurückkehren wirst. Ich vermisse Dich in diesen schwierigen Stunden sehr. Es wird jetzt nicht mehr lange dauern, bis das Haus ohne eine Königin dasteht - wenn nicht ein Wunder geschieht und Du doch noch den Heimweg findest. Manchmal frage ich mich, ob dies der Fluch von Silita ist, von dem die Prophezeiung spricht. Denn mit meiner Krankheit welkt auch der Mondbaum dahin, er trug in diesem Frühjahr keine einzige Blüte. Ich fürchte, er wird mit unserem Haus untergehen. Aber ich habe mir vorgenommen, stark zu sein und bis zuletzt an Dich zu glauben, daran, dass Du eines Tages zurückkommen wirst. Ich hinterlasse Dir das Buch von Silàn und Ureshàn. Ich werde es auf meinen Arbeitstisch legen, so dass Du es sicher findest. Niemand weiß davon, nicht einmal mein treuer Freund Ranoz. Dieses Buch erklärt das meiste, was Du über Dein Erbe wissen musst. Lies es und handle weise mit Deinem Wissen. Du bist die Hoffnung des Hauses Silita, die Hoffnung der Wesen der Nacht. In Kelèn gibt es eine Tochter der Dunkelheit, die stärker wird. Ich fürchte, sie wird versuchen, Dich um Dein Erbe zu bringen. Ich wünsche Dir die Kraft, Dich ihr entgegenzustellen. Vielleicht wirst Du sogar Silàns Mondstein suchen müssen, den Ureshàn versteckte. Was auch immer geschieht, Du musst wissen, dass ich fest an Dich glaube, dass ich immer an Dich glaubte. Ich liebe Dich sehr, meine Tochter, und wünsche mir, dass Du glücklich wirst.
Auf ewig, Deine Mutter
Haonàn von Silita

Silàn sitzt immer noch gegen Ranoz gelehnt da, als draußen die Sonne untergeht und ihre Freunde erwachen. Sie hat das Buch wieder eingepackt und hält das Holzkästchen in der Hand. A'shei erkennt sofort, dass sie geweint hat. Er legt ihr schweigend einen Arm um die Schultern. Silàn lächelt ihn dankbar an.
«Ist schon in Ordnung, A'shei. Das Buch enthält wirklich wichtige Informationen. Aber ich habe darin auch einen Brief gefunden, den Haonàn kurz vor ihrem Tod an meine Mutter schrieb. Ich hätte die beiden zu gerne kennengelernt.»
Ranoz schnaubt verständnisvoll. Aber bevor er nach dem Inhalt des Buchs fragen kann, meldet sich schüchtern der junge Salik.
«Da gibt es noch etwas, was du wissen solltest, Ahranan. In der Nacht nach dem halben Mond war eine Nsil hier auf der Burg. Sie bat mich, dir eine Nachricht zu geben. Sie sagte, ihr Name sei Silmira.»
A'shei und Silàn blicken sich besorgt an. Sie haben seit Ramenar nichts mehr von Silmira gehört. Ranoz lässt ein verächtliches Schnauben hören. Er hatte für die Seherin der Nsilí nie viel übrig und Silàns Bericht über die Ereignisse in der Schlucht von Ramenar bestärkte seine Meinung. Silàn beachtet ihn nicht.
«Was ist die Botschaft von Silmira, Salik?»
«Sie sagte, du solltest so schnell als möglich in die Gegend zwischen Keli und Selin kommen, wenn du den Krieg verhindern willst. Die Heere aus Lellini ziehen über Geai nach Süden und jene Pentims von Penira nach Norden. Silmira vermutet, dass sie noch vor dem nächsten Vollmond in den Hügeln südlich des Flusses Selin aufeinandertreffen.»

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt