2-3 Ins Dorf

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Ins Dorf

Der Weg aus Antims Tal folgt zuerst dem Bach, führt dann dem Waldrand entlang und biegt später in den tiefen Wald ein. Silàn ist an diesem sonnigen Morgen gut aufgelegt, obwohl das nicht ihre bevorzugte Tageszeit ist. Sie freut sich schon lange auf diesen Besuch in Himenar. Die Sonne strahlt von einem wolkenlos blauen Himmel und blendet ihre empfindlichen Augen. Deshalb ist sie froh, als sie den kühlen Schatten der Bäume erreichen. Sie fragt sich, warum sie eigentlich noch nie auf die Idee kam, Angie zu bitten, ihr eine Sonnenbrille mitzubringen. Sie muss unbedingt beim nächsten Besuch daran denken! Ihre nächtlichen Besuche bei der Schwester sind inzwischen genauso zur Tradition geworden wie die Marktbesuche mit Antim und A'shei. Wenn immer möglich verbringt sie die erste Nacht nach Vollmond mit Angie. Manchmal kommt Andres mit der Schwester zum Tor. Silàn brennt immer darauf, Neuigkeiten aus ihrer alten Welt zu hören, selbst wenn es für sie außer Frage steht, dorthin zurückzukehren. Seit der Nacht, in der sie den Spiegel zerbrach, weiß sie, wohin sie gehört. Aber das hindert sie nicht daran, etwas für ihre Familie auf der anderen Seite des Tors zu empfinden. Angie erzählt gern, von der Schule, den Ferien, von Thomas und seinen Pferden. Peter lebt inzwischen mit Brigitte zusammen. Angie meint, dass sich die beiden gut verstehen. Sie hat aber nur noch selten Kontakt, vor allem an Familienanlässen, Weihnachten oder Geburtstagen. Einmal fragte Silàn die Schwester, ob sie glaube, dass Peter sie vermisse. Angie dachte lange nach und meinte dann, er sei manchmal nachdenklich und betrachte sie so seltsam. Die Polizei legte das Dossier der verschwundenen Bettina Halter längst zu den Akten mit ungeklärten Fällen. Silàn lächelt traurig bei dem Gedanken an das Mädchen, das sie einmal war, das in jener Nacht zu existieren aufhörte. Einerseits ist sie froh, dass Peter jemanden hat, den er wirklich mag. Andererseits würde sie ihm gern die Wahrheit sagen, über sich, Andres und Tanàn. Und natürlich vor allem, dass es ihr gut geht und er sich keine Sorgen zu machen braucht.
«Warum so nachdenklich heute?»
Antims Frage ist freundlich und etwas besorgt. Silàn schaut den alten Schattenwandler von der Seite an.
«Ich dachte an meine Schwester und meinen Vater. Ich glaube, ich habe mich verändert in den letzten beiden Jahren. Aber ich liebe die beiden immer noch, sie und auch Peter, den ich jahrelang für meinen Vater hielt!»
«Das ist richtig so. Sie gehören zu deiner Familie. Und, denkst du, du hast dich zum Guten verändert?»
Silàn überlegt, bevor sie vorsichtig antwortet.
«Ich hoffe schon. Aber das weißt du bestimmt besser als ich, Antim.»
Der alte Mann lacht laut auf und A'shei, der einige Schritte vorausgeht und der Unterhaltung zuhört, stimmt ein. Er kann eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen.
«Du hast zumindest schon lange nicht mehr versucht, die Wände der Welten allein mit deinem Willen einzureißen!»
Darüber muss nun auch Silàn lachen.
«Nun ja, ich hatte keinen Anlass, seit ich mich nicht mehr darum sorgen muss, dass du ohne mich nicht einschlafen kannst!»
Antim lächelt still vor sich hin. Er genießt jeden Tag, den er noch mit den beiden verbringen kann. Obwohl sie sich ständig gegenseitig necken, verstehen sie sich im Grunde genommen ausgezeichnet. Kürzlich suchte Silmira den Schattenwandler auf. Sie sah in einer ihrer Visionen eine Veränderung voraus. Silàn würde Antims Schutz bald verlassen müssen, um sich ihrem Schicksal zu stellen. Sie ist die rechtmäßige Prinzessin der Nacht und muss inzwischen längst als volljährig gelten. Ihre Magie ist soweit entfaltet, wie es möglich ist, ohne dass sie doch noch das Geheimnis der Energie der Nacht entdeckt. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass Femolais Jäger die junge Frau bisher niemals aufspürten. Der Schattenwandler verdrängt die düsteren Gedanken. Heute ist ein schöner Tag, und er will die gemeinsame Zeit genießen, die ihnen bleibt. Die Zukunft mag bringen, was sie bringen muss: Es liegt nicht in seiner Hand, sie zu ändern.
Antim betrachtet die junge Frau und den jungen Mann, die einige Schritte vor ihm fröhlich plaudernd dem schmalen Weg folgen. A'shei ist in letzter Zeit nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Breite gewachsen. Er trägt eine beige Hose, ein weites Hemd und seine heiß geliebte Lederjacke. Diese machte er selber, nach dem Vorbild von Silàns alter Windjacke. Wie immer, wenn das Wetter es erlaubt, geht er barfuss. Wäre nicht das schwarze Haar, das ihm lang über die Schultern fällt, könnte er ein beliebiger Junge aus dem Dorf sein. Während A'sheis blaue Augen zumindest die bei Sonnenkindern übliche Farbe haben, ist Silàn mit ihrem tiefschwarzen Haar und den eindrucksvollen grauen Augen in jeder Beziehung auffällig. Das ist mit ein Grund, weshalb Antim lange zögerte, das Mädchen überhaupt mit ins Dorf zu nehmen. Schließlich lenkte er auf die Bitten der beiden ein. Silàn willigte sogar ein, für diese Ausflüge die traditionelle Kleidung der Frauen dieser Gegend zu tragen, obwohl sie sonst nicht viel von Röcken hält. Barfuß, mit dem weißen Hemd und dem dunkelblauen Schal, den ihr der Schattenwandler schenkte, sieht sie heute aus wie A'sheis Schwester. Die beiden sprechen Antim in Anwesenheit von Fremden zur Tarnung konsequent als ‹Großvater› an. Und in Himenar fragt niemand genauer nach der Herkunft und Familie des Heilers, vor ihm haben alle zuviel Respekt. Manche verdanken seinen Kräutern und Salben die eigene Gesundheit oder jene eines nahestehenden Familienmitglieds.
Trotzdem fürchtet Antim jedesmal, Silàn könnte einem Spion Femolais auffallen. Deshalb besteht er darauf, den Weg ins Dorf und zurück bei vollem Tageslicht zurückzulegen. Denn obwohl der Sonnenkönig Pentim Femolais Anspruch auf den Thron der Nacht anerkennt, können die meisten Wesen der Dunkelheit sich nicht bei Tageslicht bewegen. Das gilt natürlich nicht für Wölfe und anderen Anhänger Femolais, die keine eigene Magie besitzen. Aber gegen die Augen dieser Späher hilft hoffentlich Antims Schutzmagie.

Sie durchqueren den breiten Waldgürtel und steigen ein gutes Stück ins Haupttal ab. Nun liegen die ersten Weiden der rings um Himenar liegenden Einzelhöfe vor ihnen. Die Menschen leben hier vor allem vom Ackerbau. Zudem besitzt jede Familie, die es sich leisten kann, einige Tiere, Schafe, Ziegen, Kühe, Schweine und manchmal sogar einen Esel oder ein Pferd. Um die niedrigen Holzhäuser liegen gepflegte Gärten und Obstbäume. Atara ist keine reiche Gegend, aber die Menschen finden ein Auskommen.
Der Weg wird breiter, er zeigt tiefe Wagenspuren und führt zwischen Äckern hindurch, auf welchen sich das Korn golden zu färben beginnt. Die Bäume tragen Äpfel und Zwetschgen, die Obsternte wird diesen Sommer reich ausfallen. In der Nähe eines Hofes bellt ein Hund sie an. Antim beruhigt ihn mit einem freundlichen Wort. Etwas weiter werden zwei spielende Kinder auf sie aufmerksam. Sie stehen am Zaun und starren die Wanderer mit offenen Mündern an. Silàn grüßt freundlich.
«Hallo!»
Daraufhin klappen die beiden Knirpse den Mund zu und rennen zurück zum Haus. Etwas wehmütig blickt Silàn ihnen nach. Es schmerzt, von den Leuten hier als fremd und bedrohlich wahrgenommen zu werden. Aber je näher sie dem Dorf kommen, desto gleichgültiger werden die Reaktionen der Bauern und ihrer Kinder. Himenar ist im weiten Umkreis der einzige Marktort, seine Bewohner sind Besucher eher gewohnt als jene der entfernt liegenden Einzelhöfe.

Die Sonne steht hoch am Himmel und es ist Mitte des Vormittags, als die drei Wanderer im Dorf ankommen. Die Körbe fühlen sich inzwischen schwer an und Silàn seufzt erleichtert auf, als sie die Last an der gewohnten Stelle am Rande des Dorfplatzes absetzt.
«Was, schon müde, kleine Schwester?»
A'shei grinst fröhlich, wischt sich aber gleichzeitig den Schweiß von der Stirn. Dann setzt er betont schwungvoll seinen Korb ab und lehnt seinen Köcher und den Bogen dagegen. Silàn ist nicht um eine Antwort verlegen.
«Nun, wenn du noch soviel Energie hast, könntest du uns am Brunnen Wasser holen!»
A'shei zuckt gutmütig die Schultern und macht sich auf den Weg, allerdings nicht ohne eine spöttische Erwiderung.
«Klar, alles für meine Prinzessin.»
Antim, der den Austausch mit einem Lächeln verfolgt, breitet nun am Boden ein grosses Tuch aus und beginnt, ihre Waren auszupacken. Silàn hilft ihm. Rings um sie herum ist der Markt bereits in vollem Gange und die ersten Kundinnen nähern sich dem improvisierten Stand des Heilers.
A'shei kehrt mit einem Krug Wasser zurück, den er Antim reicht. Der alte Mann nickt dankbar, löscht seinen Durst und reicht den Krug an Silàn weiter. Rasch ist das Gefäß leer und sie macht sich auf den Weg, es zurückzubringen, während A'shei hilft, ihre Waren zu ordnen. Alles ist eingespielt zwischen den dreien. Antim denkt wehmütig daran, dass er seine beiden Schützlinge bald ziehen lassen muss. Er blickt auf ein langes und ereignisreiches Leben zurück, sogar für einen Schattenwandler. Ob er wohl noch einmal einen so vielversprechenden Lehrling in der Heilkunst wie A'shei findet? Der junge Mann ist sehr begabt, es wird nicht einfach werden, ihn zu ersetzen. Von Silàn will er gar nicht sprechen. Er betrachtet es als große Ehre, ihre Schritte auf dem Weg zur Magie gelenkt zu haben. Antim ist überzeugt, dass vor ihr eine große Zukunft liegt. Wie sie schlank, fremdartig und voller jugendlicher Energie über den Marktplatz auf ihn zukommt, zieht sie nicht nur die Blicke der jungen Männer des Dorfes auf sich. Vermutlich ist es gut, dass sie heute Abend nicht zum großen Marktfest bleiben!
Antim wendet sich kopfschüttelnd seinen Waren und Kundinnen zu.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt