2-8 Unterwegs

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Unterwegs

Die Sonne geht rot über einem dunstigen Horizont auf und schickt ihre ersten Strahlen über die Hügel. Schon bald vertreibt sie die kühlen Morgennebel. Silàn lauscht gebannt dem Frühkonzert der Vögel. Die Klänge des Tages unterscheiden sich so sehr von jenen der Nacht. Sie wirft A'shei einen Blick zu. Dies ist seine Tageszeit, die Tannarí nennen sich nicht umsonst Kinder der Dämmerung. Er lächelt zurück und schlägt ein schnelleres Tempo an.
«Komm, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.»
Sie haben ausgemacht, Dörfer möglichst zu meiden und bewohnte Gebiete nur im vollen Tageslicht zu durchqueren. Beide sind mit ihrem schwarzen Haar in dieser Gegend schon tagsüber auffällig genug. Nachts würden Silàns Haar und Augen alle neugierigen Blicke der Menschen und anderer Geschöpfe auf sich ziehen. In der Nacht besteht außerdem die größte Gefahr, Femolais Spionen zu begegnen. Sie haben vor, vorsichtig zu sein und auf die Benutzung von Magie wann immer möglich zu verzichten. Oberstes Ziel ist es, das Silitatal unbemerkt zu erreichen.
Normalerweise würde die Reise gegen zwei Monde dauern. Aber nach Dánirahs Prophezeiung fürchtet Silàn, dass sie nicht reibungslos vorwärts kommen werden. Sie erwähnt die düsteren Bilder aus dem Traum der Tanna aber lieber nicht. Was kommen wird, wird kommen. Über die genaue Bedeutung des Wahrtraums zu rätseln, macht ihn nicht tröstlicher.
Sie rückt deshalb nur ihre Tragriemen zurecht und folgt A'shei zügig auf dem schmalen Pfad, der sie durch den Wald in Richtung der Keleniebene und zum großen Fluss Haon führt.

Der Pfad ist eigentlich nur ein Wildwechsel, der dem bewaldeten Hügelzug folgt. Sie können so eine große Strecke oberhalb bewohnter Gebiete zurücklegen. Der Wald ist in dieser Höhe nicht sehr dicht und das Vorankommen verhältnismäßig einfach. Wenn sich der Pfad ab und zu verliert, folgen sie einfach ungefähr der Höhenlinie, bis sie wieder auf eine Spur stossen. Beim Höchststand der Sonne machen sie eine erste Rast und essen von ihren Vorräten. Ashei hat vor, zu jagen oder zu fischen, wenn es möglich ist. Ausserdem reifen zu dieser Jahreszeit Beeren und Pilze. Silàn legt sich hin, um einen Moment zu schlafen, den neuen Hut zum Schutz gegen die Sonne tief ins Gesicht gezogen. Ashei, der auch die ganze Nacht wach war, folgt ihrem Beispiel. Aber sein Schlaf ist sehr leicht, er wacht schon bald wieder auf und weckt das Mädchen. Sie wollen heute noch ein gutes Stück weiterkommen, bevor die Sonne untergeht. Später überqueren sie einen Bach und füllen ihre Wasserflaschen auf. A'shei hält Ausschau nach Spuren von Wild, aber alle Fährten sind alt und sie wollen nicht zuviel Zeit mit der Jagd Zeit verlieren, solange sie noch genügend Vorräte mittragen.
Der erste Tag wird sehr lang, sie setzen den Weg nach einer weiteren Pause bei Sonnenuntergang bis weit in die Nacht hinein fort. Der Mond ist noch fast voll und gibt genug Licht, dass auch A'shei den Weg erkennen kann. Er ist allerdings inzwischen müde und beneidet Silàn um ihre Fähigkeit, aus dem Mondlicht neue Kraft zu schöpfen. Sie verbirgt ihr hochgestecktes Silberhaar unter ihrem Hut. Trotzdem verraten ihre leuchtenden Augen die Verwandtschaft mit den Nsilí. Es geht gegen Morgen, als sie bemerkt, wie A'shei zum wiederholten Mal über eine Wurzel stolpert. Deshalb schlägt sie vor, an einer geschützten Stelle Rast zu machen. Der Junge hat nichts dagegen. Er wickelt sich in seine Jacke und Decke und ist kurz darauf eingeschlafen. Silàn liegt neben ihm und blickt hinauf in das Blätterdach der großen Buche, deren Äste ihren Lagerplatz überragen. Sie hat normalerweise Mühe, im Dunkeln einzuschlafen. Aber heute ist auch sie so erschöpft, dass ihr bald die Augen zufallen.

Am nächsten Morgen steht die Sonne hoch am Himmel, als Silàn ausgeruht erwacht. A'shei hat bereits aus ihren Vorräten ein Frühstück vorbereitet. Sie essen das letzte Brot und je einen Apfel, der erste Zeichen des langen Transports zeigt. A'shei meint, es an der Zeit, mit der Jagd zu beginnen. Silàn weiß, dass es schwierig werden wird, nur vom Land zu leben. Dabei ist sie vorwiegend auf A'shei angewiesen. Sie trägt zwar selber auch einen Bogen und einen Köcher voller Pfeile, aber sie kann nicht annähernd so gut damit umgehen wie der Junge. Obwohl sie manche Nacht mit Üben verbrachte und A'shei mit ihren Fortschritten zufrieden ist, liegt ihr Magie besser als Bogenschiessen.
Als sie sich auf den Weg machen, unterdrückt Silàn ein Stöhnen. All ihre Muskeln schmerzen noch von gestern. A'shei lacht zwar, als er ihr verzerrtes Gesicht sieht, schlägt aber selber längst nicht mehr ein gleich hohes Tempo an wie bisher. Nach einer Weile formuliert Silàn vorsichtig ihre Überlegungen.
«Eigentlich müssen wir Silita-Suan nicht zu einem festgesetzten Termin erreichen. Wenn wir also vorerst einmal nicht ganz so große Tagesetappen machen, gewöhnen wir uns vielleicht schneller an die Anstrengung.»
«Ich dachte, du möchtest die Reise so rasch wie möglich hinter dich bringen?»
Es gelingt A'shei nicht, den Schalk in seiner Stimme zu verbergen.
«Nun, ich bin mir nicht sicher, ob wir schneller dort sind, wenn du mich die Hälfte des Weges tragen musst.»
A'shei nimmt den Scherz gutmütig auf. Er weiß, dass sie sich gestern in der Aufregung über den Aufbruch übernommen haben.
«Einverstanden, wir haben wohl wirklich übertrieben. Meine Schultern sind auf jeden Fall ganz wund von den Riemen. Dich zu tragen kommt also nicht in Frage! Ich habe nichts dagegen, das Ganze etwas langsamer anzugehen.»
Von da an kürzen sie ihre Etappen und legen sowohl am Tag wie in der Nacht jeweils eine Pause zum Schlafen ein. Obwohl das Mädchen tagsüber besser schläft und der Junge nachts, halten sie es im Moment noch nicht für nötig, gegenseitig Wache zu halten. Je näher sie zur Ebene hinunter kommen, desto wichtiger wird das werden.
Am dritten Tag erreichen sie ein wildreicheres Gebiet. A'shei erlegt einen Hasen und später sogar ein Reh. Er weiß, wie das Fleisch über dem Feuer haltbar gemacht werden kann. Dafür legen sie einen halben Tag Pause ein. Es ist nicht einfach, ein Feuer ohne Rauch zu unterhalten, aber in diesen Dingen kennt sich der junge Jäger aus und Silàn ist eine gute Schülerin. Danach sind sie für mehrere Tage mit Vorräten versorgt. Die Reise verläuft ruhig und ohne ungewollte Begegnungen. Sie halten sich von menschlichen Siedlungen fern und hinterlassen sowenig Spuren wie möglich.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt