3-13 Der Atem der Drachenschatten

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Der Atem der Drachenschatten

Der Park im Handwerkerviertel von Penira ist in der Nacht ruhig. Dies ist einer der wenigen Orte, wo es innerhalb der Stadtmauern große, alte Bäume gibt. Eine Legende besagt, dass dies der letzte Rest eines heiligen Waldes sei, der vor der Stadt auf diesem Hügel stand. Die Könige des Hauses Diun hätten ihn abgeholzt, um an seiner Stelle ihre Hauptstadt zu bauen. Nur dieses kleine Stück, das Herz des alten Waldes, blieb erhalten. Ein alter Magier, der sich als Hüter des Waldes bezeichnete, sei dem König entgegengetreten und habe dem Haus Diun den Untergang prophezeit, falls der Wald jemals völlig zerstört würde. Bis heute behaupten die Anwohner, zwischen den Bäumen gingen in der Nacht Waldgeister um, manchmal seien ihre flüsternden Stimmen bis in die Häuser zu hören. Wer ihnen zu lange lausche, verliere unweigerlich den Verstand. Vermutlich traut sich deshalb kaum jemand, den Park nachts zu betreten.
A'shei fürchtet sich nicht vor Waldgeistern. Er rollte sich damals in seiner ersten Nacht in Penira unter einem dieser alten Bäume zum Schlafen zusammen, beruhigt, eine Stelle gefunden zu haben, an der er sich nicht völlig fremd und ungeschützt vorkam. Was nachts wie ein richtiger Wald wirkt, ist bei Tageslicht ein verhältnismäßig kleiner und dürftiger Baumbestand. Kinder spielen zwischen den Bäumen Verstecken und alte Männer verbringen die heißesten Tagesstunden im Schatten, auf Bänken, die um den Brunnen auf dem freien Platz in der Mitte der Anlage gruppiert sind. Dieser Park fiel A'shei ein, als er mit den Xylin einen Treffpunkt für den Informationsaustausch festlegte. Eigentlich dachte er zuerst an eine Stelle auf der Stadtmauer, die für die Xylin einfacher zu erreichen wäre. Dann erinnerte er sich daran, dass es nur Mitgliedern der Wachmannschaft erlaubt ist, die Mauern zu betreten.
Es ist noch nicht ganz Mitternacht, als A'shei im Park eintrifft. Es regnet leicht und er sucht sich eine trockene Stelle unter einem großen Baum im Zentrum der Anlage. Dort wartet er, gegen den Stamm der Buche gelehnt, auf das Eintreffen der Xylin. Er hat sich von seinen Freunden bereits verabschiedet. Wenn möglich will er die Stadt morgen früh nach der Öffnung der Tore verlassen. Fjenis gab ihm zur Tarnung eine Botschaft für den Außenhof des Hauses Kinet mit. Nichts Wichtiges, aber vielleicht genügt das Papier, um ihm freien Weg zu gewähren. A'shei hängt seinen Gedanken nach und lauscht dem beruhigenden Rauschen des Windes in den Bäumen, den Regentropfen und dem Plätschern des Brunnens. Ob seine Beschreibung gut genug war, damit die Xylin den Treffpunkt finden? Ein ungewohntes Geräusch schreckt ihn aus seinen Gedanken auf. Dieser Flügelschlag ist zu kräftig für einen Vogel. A'shei drückt sich den Hut tiefer in die Stirn, um das silberne Leuchten seiner Augen zu verbergen, und versteckt sich im Schatten des Baums. Dank seiner verbesserten Nachtsicht kann er die Silhouette des Wesens erkennen, das sich neben dem Brunnen niederlässt und mit einem kräftigen Schütteln seiner Flügel Wassertropfen in alle Richtungen spritzt. A'shei hält hoffnungsvoll den Atem an, bis ihm klar wird, dass die Gestalt zu klein ist, als dass es sich um Ranoz handeln könnte. Er weiß, dass Drachenschatten weder den Regen noch menschliche Siedlungen lieben. Dieses Hrankae muss also einen guten Grund haben, heute Nacht Penira aufzusuchen. Er zuckt zusammen, als eine vage bekannte Stimme seinen Namen raunt.
«A'shei-te-naorim? Bist du da, Sternenwanderer?»
Vorsichtig löst sich A'shei aus dem Schatten des Baums um der Hrankae entgegenzutreten.
«Noak? Was tust du hier, so weit weg von Eshekir?»
«Die Ahranan schickt mich. Sie glaubt, dass du in der Stadt nicht sicher bist. Sie wusste, dass du dich hier mit den Xylin treffen wolltest.»
«Das stimmt. Ich habe im Sinn, die Stadt morgen zu verlassen. Ich glaube nicht, dass ich hier noch etwas ausrichten kann.»
Noak stößt zischend etwas Rauch aus und schüttelt ihren Drachenkopf.
«Nicht morgen, jetzt. Lass uns fliegen, Sternenwanderer.»
Unsicher blickt A'shei sie an. Soviel er weiß, trägt nur Ranoz ausnahmsweise eine Reiterin, und immer nur die Ahranan. Noak verdreht ungeduldig die goldenen Augen. Sie scheint die Gedanken des jungen Schattenwandlers zu lesen.
«Wenn Ranoz die Ahranan tragen kann, so bin ich nicht zu stolz, das gleiche mit ihrem Tannaprinzen zu tun. Steig auf, damit wir aus diesem stinkenden Menschenhaufen und dem Regen wegkommen.»
A'shei lächelt über ihre Bemerkung, während er geschickt auf den Rücken der Hrankae klettert. Es ist nicht einfach, eine Stelle zu finden, wo er sich zwischen den beiden mächtigen Flügeln festhalten kann. Während er sicheren Halt für seine Hände sucht, fällt ihm eine Frage ein.
«Was ist mit den Xylin? Sie sollten jeden Moment hier eintreffen!»
«Ich denke nicht, dass sie kommen. Femolai zerstörte eine Gruppe von Xylin. Die anderen haben sich deshalb weit von den Menschen zurückgezogen, meint das Ijenkae. Hältst du dich fest? Wir können später sprechen, lass uns abfliegen.»
A'shei verzichtet auf eine Antwort. Statt dessen duckt er sich tief auf Noaks Hals, damit er ihre Bewegungen nicht behindert. Mit kräftigen Flügelschlägen hebt die Hrankae ab und bald liegt Penira weit unter ihnen.
Noak fliegt ruppig steil nach oben und A'shei klammert sich verzweifelt an ihrem Hals fest. Erst nachdem sie die Wolkendecke hinter sich lassen und unter einem klaren Sternenhimmel dahinziehen, wird der Flug ruhiger. A'shei atmet auf.
«Das ist besser. Verzeih, wenn ich dich zu fest drückte. Ich bin das Fliegen nicht gewohnt.»
Noak schnaubt übertrieben verächtlich. Aber in ihrer Stimme liegt Humor.
«Und ich nicht, einen Passagier zu tragen. Aber wenn Ranoz und Silàn das können, kann es ja nicht so schwierig sein. Was denkst du, Sternenwanderer?»
A'shei lacht erleichtert auf. Wenn er gewusst hätte, dass er Noaks erster Reiter ist, wäre er weniger bereitwillig aufgestiegen.
«Ich denke, wir könnten das Ganze beim nächsten Mal entkrampfter angehen. Vielleicht wenn es nicht regnet?»
Die Hrankae lässt ein rumpelndes Lachen hören.
«Wenn es nicht regnet und irgendwo, wo es nicht nach zusammengepferchten Menschen stinkt. Damit meine ich nicht dich, Sternenwanderer. Halte dich gut fest, der Weg bis zum Gipfel des Hrantosh ist lang.»

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt