In Freiheit
A'shei wischt sich den Schweiß von der Stirn und bleibt auf der Passhöhe stehen. Vor ihm liegt das Silitatal. Er sucht einen Platz, um eine Rast einzulegen. Aus seiner Tasche holt er ein Stück Brot und getrocknetes Fleisch hervor. Das steckte ihm Hamain vor seiner Abreise zu, vor mehr als einem halben Mond. Er lächelt, als er sich an Fjenis und die junge Frau erinnert. Die beiden setzten alles daran, ihm zur Flucht aus Penira zu verhelfen. Ohne die Hilfe von Raill, Steim und seinem Vater hätte das Ganze aber nicht geklappt.
Steims Vater arbeitet als Koch für die Stadtwachen. Er hat dafür zu sorgen, dass rund um die Uhr warmes Essen und heiße Getränke für die Wachmannschaften bereitstehen. Deshalb kennt er die Gewohnheiten der Wachen und den Ablauf des Betriebes genau. Er spannte früher öfter Steim und seine Freunde ein, um den Wächtern auf der Stadtmauer in kalten und stürmischen Nächten eine Zwischenverpflegung vorbeizubringen. Für die Jungen war das damals ein Abenteuer, denn normalerweise durften sie die Stadtmauer nicht betreten. Außerdem waren die Krieger meist großzügig und bereit, ihrem dankbaren jungen Publikum Soldatengeschichten zu erzählen.
Fjenis' Plan stützte sich auf diese Tradition. Inzwischen hatten längst andere Jungen die Aufgabe übernommen. Aber Steims Vater erklärte sich ohne viele Fragen bereit, einen Kessel Grog zuzubereiten, den Raill und Steim wie früher auf die Westmauer brachten. Der Weg zur Unterkunft und damit zur Küche war für diese Wachmannschaft am weitesten, deshalb begrüßte sie besonders dankbar eine Aufmerksamkeit während der Nachtschicht.
Raill und Steim kannten die meisten der Wächter, die Dienst taten. Deshalb fiel es an sie, das Ablenkungsmanöver zu organisieren. Sie brachten den warmen Kessel zur Wachtstube im mittleren Turm der Westmauer. Wie üblich sammelten sich innerhalb kürzester Zeit die Wächter des ganzen Abschnitts im mittleren Turm. Dort brannte nachts ein Feuer, auf welchem der Grog gewärmt werden konnte.
Fjenis, Hamain und A'shei warteten unterdessen, bis auch die Mannschaft des Südwestturms bemerkte, dass etwas Besonderes los war, und sich auf den Weg zum mittleren Turm machte. Dann stiegen sie leise und vorsichtig die Treppe zum Südwestturm hoch. Fjenis hatte von Steims Vater den Schlüssel für die Tür zur Turmtreppe geliehen. Das Schloss knarrte laut, als er ihn drehte. Alle drei hielten den Atem an. Aber niemand schien die Eindringlinge zu bemerken. Vom mittleren Turm her war fröhliches Lachen zu hören. Raills Stimme ließ sich deutlich erkennen, als er eine seiner Geschichten zum Besten gab. Hamain schüttelte nur den Kopf.
«Typisch mein Bruder, er lässt sich keine Gelegenheit entgehen, den Clown zu spielen. Kommt, bevor sie dort drüben genug von ihm haben.»
Sie führte die kleine Gruppe auf den Wehrgang, wo die Westmauer an den Turm stieß. Fjenis war gerade dabei, ein Seil an einer Zinne festzuknüpfen, als sich von der Südmauer her Schritte näherten. Hamain reagierte unverzüglich. Sie bedeutet A'shei, sich in den Mauerwinkel zu kauern und stellte sich so vor ihn, so dass er von ihren Röcken vollständig zugedeckt war. Dann zog sie Fjenis in eine Umarmung. Offensichtlich spielte dieser seine spontan zugeteilte Rolle gut, denn die Schritte hielten an und A'shei konnte durch Hamains Röcke hindurch eine raue Stimme hören.
«He ihr beiden Turteltauben. Wisst ihr nicht, dass ihr hier oben nichts verloren habt? Ich muss euch dem Hauptmann... Hej, Fjenis, bist du das? Du bist richtig erwachsen geworden!»
Fjenis Antwort kam prompt und mit gut gespielter Überraschung.
«Marish, schön dich zu sehen! Wie geht es dir? Steim und Raill sind mit einem Kessel Grog drüben im Turm. Ich hatte gehofft, hier einen Moment mit meinem Mädchen allein zu sein. Du weißt ja, wie das ist.»
Marishs Lachen war freundlich. Vor noch nicht allzu langer Zeit suchte er noch selber mit seinem Mädchen Verstecke, um ungestört zu sein.
«Na gut, weil du es bist. Mal sehen ob sie mir etwas von dem Grog übrig gelassen haben. Aber wenn ich zurückkomme, müsst ihr verschwinden! Die Schwarzmäntel der Königin sind im Moment völlig aufgeregt und verstehen keinen Spaß. Lasst euch nicht von ihnen erwischen.»
«Klar Marish, machen wir. Treiben sie sich hier auf der Mauer rum?»
«Im Normalfall nicht, aber bei denen weiß man nie, was sie sich noch ausdenken. Heute Abend kontrollierten sie am Tor jede einzelne Person, sogar die Wachen des Königs. Die waren vielleicht sauer.»
Fjenis und Hamain lachten leise. Für A'shei klang es allerdings gezwungen.
«Das kann ich mir vorstellen. Hoffen wir, dass sie uns in Ruhe lassen. Und vielen Dank nochmal, Marish!»
Während sich der Wachmann immer noch lachend entfernte, befestigte Fjenis eilig das Seil. A'shei kontrollierte seine Ausrüstung und zwängte sich durch die schmale Scharte zwischen den Zinnen. Zurückblickend nickte er seinen Freunden zu. Fjenis hatte seinen Arm um Hamains Schultern gelegt. Sie lächelte zufrieden.
«Auf Wiedersehen, A'shei. Und besuch uns einmal mit deinem Mädchen.»
Dann ließ sich A'shei lautlos an dem dünnen Seil in die Tiefe gleiten. Fjenis löste oben den Knoten und A'shei rollte das Seil zusammen, um es mitzunehmen.
Der Stadtgraben war an dieser rückseitigen Stelle ziemlich überwachsen. Rasch durchquerte ihn der junge Mann und stand an der äußeren Befestigungsmauer. Diese war niedriger und vor allem weniger gut bewacht als die innere Hauptmauer. Es dauerte eine Weile, bis er eine Stelle fand, wo er über einen jungen Baum auf die immerhin doppelt mannshohe Mauer hinaufklettern konnte. Sich mit dem Seil an der Außenseite hinuntergleiten zu lassen, war dann keine Leistung mehr. A'shei war frei und unterwegs nach Silita-Suan.
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Silàn
FantasyBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...