1-1 A'shei

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Erstes Buch

Durch den Spiegel

A'shei

Bettina ist immer noch wütend. Seit dem Umzug hat sie kaum ein Wort mit ihrem Vater gesprochen. Jetzt will ihre Tante auch noch, dass sie im Garten mithilft. Dabei war der heutige erste Schultag schon schlimm genug. Die Lehrerin war freundlich, aber die anderen Kinder starrten sie an und stellten ihr in der Pause Fragen, die sie nicht beantworten konnte oder wollte. Sie sagte schließlich nichts mehr und rannte nach dem Unterricht nach Hause, ohne sich umzusehen. Nur dass das nicht ihr Zuhause war. Hier im Dorf, bei ihrer Tante, würde sie sich niemals zuhause fühlen. Sie will zurück in die Stadt zu ihren Freundinnen. Sie will allein sein. Sie will alles, nur nicht hier bleiben.
Bettina rennt mit Tränen in den Auge durch den Garten, knallt das alte Gartentor hinter sich zu und ist enttäuscht, dass es außer einem leisen Knirschen kein Geräusch von sich gibt. Die Straße kommt von rechts über den Hügel und endet beim Haus. Links führt ein schmaler Weg weiter Richtung Wald. Tränen rinnen über ihre Wangen, während sie diesen hinunter zum Waldrand rennt. Sie achtet nicht auf die Steine und die Pfützen, die der Regen vom Nachmittag hinterlassen hat. Kurz vor dem Waldrand stolpert sie an einer unebenen Stelle und rutscht auf einem nassen Stein aus. Beim Sturz schlägt sie schmerzhaft mit dem Knie auf und zerreißt sich die Hose. Das macht sie noch wütender, aber statt zum Haus zurückzukehren, humpelt sie weiter, hinein in den Wald, weg von allen, die ihr vielleicht vom Haus aus zusehen.
Hinter den ersten Büschen verlangsamt sie ihr Tempo. Hier kann sie niemand mehr sehen. Sie hinkt weiter und trocknet mit dem Ärmel die Tränen. Sie will nicht weinen, sie will nur hier weg.
Im Wald ist es schattig und kühl. Die Sonne sprenkelt goldene Flecken auf das Moos und das alte Laub, das den Boden bedeckt. Bettina folgt einem schmalen Pfad, der den Hügel hinunter führt, tiefer in den Wald hinein. Die Bäume werden größer. Sie kann sich nicht erinnern, jemals in einem solchen Wald gewesen zu sein. Der Boden ist weich, mit Laub, Tannennadeln und Moos bedeckt, das ihre Schritte dämpft. Sie kann Vogelstimmen hören und das Flüstern der Blätter im Wind. Langsam lässt sie sich von ihrer Wut ablenken. Der Wald ist ruhig und geheimnisvoll. Ein schwarzes Eichhörnchen huscht über den Weg und sieht sie einen Moment aus seinen kleinen schwarzen Knopfaugen an. Bettina muss lachen, das Tierchen klettert schnell am Stamm einer großen Eiche hoch und ist gleich darauf in den Ästen verschwunden. Der Weg führt durch ein Dickicht und endet an einer Stelle, wo große Bäume wie riesige Säulen stehen. Ihre dichten Kronen schlucken fast das ganze Sonnenlicht. Hier wächst kein Unterholz, weil es den Pflanzen an Licht mangelt. Bettina kann das Plätschern von Wasser hören. Sie folgt dem Geräusch, bis sie an einem Bach steht. Sonnenflecken spiegeln sich im Wasser, das zwischen großen Steinblöcken gluckst. Bettina setzt sich auf einen moosüberzogenen Stein und zieht ihre Schuhe aus. Sie krempelt die zerrissene schmutzige Hose hoch, um sich ihr Knie anzusehen. Die Wunde ist blutig und tiefer als sie dachte. Sie holt ihr Taschentuch heraus, um das Blut wegzuwischen.
«Das sieht schlecht aus.»
Vor Schreck stürzt Bettina fast ins Wasser. Sie kämpft ums Gleichgewicht, als jemand sie beim Ellenbogen fasst, um sie zu stützen.
«Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.»
«Das hast du aber.»
Sie dreht sich wütend zu dem Unbekannten um, der immer noch ihren Ellenbogen festhält.
«Lass mich los!»
Der Junge mag in ihrem Alter sein. Das tiefschwarze Haar fällt ihm lang über die Schultern und seine überraschend blauen Augen blinzeln sie an. Um seinen Mund spielt ein Lächeln als er ihren Arm loslässt.
«Tut mir leid. Lässt du mich dein Knie ansehen?»
Bettina zögert, setzt sich aber schließlich hin und zeigt dem Jungen ihre Verletzung. Mit etwas Wasser aus dem Bach reinigt er geschickt die Wunde.
«Du hast Glück. Es ist fast ein sauberer Schnitt. Lass mich etwas Nashikraut darauf legen, das hilft.»
Aus seiner Tasche kramt er einen Beutel hervor und sucht einige Blätter heraus, welche er zwischen den Händen zerreibt und sorgfältig auf die Verletzung streut. Dann macht er aus Bettinas Taschentuch einen festen Verband um ihr Knie. Sie lässt ihn stumm gewähren. Der Junge scheint zu wissen, was er tut und strahlt Selbstsicherheit aus. Trotzdem hat sie Fragen.
«Wer bist du?»
«Ich bin A'shei. Ich habe dich hier noch nie gesehen, woher kommst du?»
«Von dem Haus da drüben am Waldrand.»
Während sie hinter sich zeigt, wird ihr bewusst, dass sie nicht mehr genau weiß, in welcher Richtung das Haus ihrer Tante liegt. A'shei mustert sie nachdenklich.
«Von draußen. Ich wusste nicht, dass der Spiegel offen ist.»
Bettina versteht kein Wort. Plötzlich erscheint ihr alles etwas unheimlich.
«Es ist sicher schon spät, ich muss nach Hause.»
Der Junge nickt.
«Wenn du durch den Spiegel gekommen bist, ist es besser, wenn du vor Sonnenuntergang zurückgehst. Ich werde dich begleiten.»
Bettina ist froh, nicht allein zu sein. Zusammen gehen sie durch den Wald in die Richtung, die sie für richtig hält.
«Wo wohnst du? Ich habe dich im Dorf und in der Schule noch nicht gesehen. Nicht dass ich schon lang genug hier wäre, um alle zu kennen.»
A'shei scheint nett zu sein, obwohl er einen seltsamen Namen und zu langes Haar hat. Vielleicht kann sie ihn morgen in der Schule treffen. Aber der Junge lächelt nur.
«Ich wohne hier im Wald. Wenn du möchtest, kannst du wiederkommen und ich werde dir mein Reich zeigen.»
Bettina will das gern. Zum ersten Mal seit dem Umzug hat sie da jemand, der sie nicht abschätzig ansieht oder herumkommandiert. Inzwischen haben sie die Stelle erreicht, wo Bettina vorhin das Eichhörnchen beobachtete. Zwei mächtige Eichen stehen rechts und links des Pfades, wie die Säulen eines Tors. A'shei bleibt dazwischen stehen.
«Von hier aus kannst du den Waldrand sehen. Wenn du morgen wiederkommst, werde ich hier auf dich warten.»
Bettina hat es eilig, nach Hause zu kommen. Die Sonne steht dicht über dem Horizont und wirft lange Schatten durch den Wald.
«Also bis morgen, ich werde nach der Schule herkommen.»
«Ich werde hier sein.»
Bettina rennt los. Als sie sich am Waldrand noch einmal umdreht, steht A'shei immer noch zwischen den beiden Eichen.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt