2-6 Offene Fragen

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Offene Fragen

Der Rückweg wird heute lang. Die Sonne versinkt hinter dem Horizont, bevor sie die letzten bewohnten Gebiete hinter sich lassen. Antim hält an, um eine kurze Pause zu machen. Die Wolken im Westen färben sich blutrot, das Schauspiel ist beeindruckend. Er mustert seine beiden Schützlinge, die ihre Körbe dankbar einen Moment absetzen.
«Denkt daran, die Königin der Dunkelheit hat viele Anhänger und Spione. Solange ihr keine Magie verwendet, solltet ihr sicher vor ihnen sein. Aber zumindest die Kaedin erkennen sofort, wenn jemand in ihrer Nähe Mondlicht- oder Schattenmagie verwendet. Überlegt immer gut, ob eine Handlung das damit verbundene Risiko wert ist.»
Antim nimmt seinen Korb wieder auf und macht sich ohne ein weiteres Wort mit langen Schritten auf den Heimweg. Silàn weiß genau, dass der alte Magier keine Angst hat, sie könnte heute einen Fehler mit ihrer Magie machen. Seine Worte sind für die Zukunft gedacht, wenn sie nicht mehr direkt unter seinem Schutz steht. Beim Gedanken daran fröstelt sie. A'shei beobachtet es mit einem Lächeln.
«Ich werde mich mit meiner Jacke für dich beeilen müssen, wenn du mitten im Sommer frierst.»
Das Mädchen ist dankbar, dass der Junge wie immer mit einer einfachen Bemerkung ihre düsteren Gedanken vertreibt. Sie sind sich in den letzten beiden Jahren sehr nahe gekommen. A'shei ersetzt ihr einen großen Bruder. Wenn sie sich einsam fühlt oder nach Angie, Andres oder Peter sehnt, weiß er immer, wie er sie wieder aufmuntern kann. Abgesehen davon ist er ein guter Geschichtenerzähler und ein ausgezeichneter Handwerker. Nur im Einsatz der Magie und im Lesen und Schreiben ist Silàn dem älteren Jungen überlegen. Sie liebt es, mit ihm zusammen im Garten zu arbeiten. Er erzählt ihr dabei all die alten Geschichten und Legenden dieses Landes, die sie als Kind nie zu hören bekam. Manchmal liest sie anschließend in Antims Büchern nach, wie sich etwas tatsächlich zutrug. Aber meistens gefällt ihr A'sheis Version besser. Wenn sie daran denkt, sich allein auf den Weg nach Silita zu machen, wird ihr kalt ums Herz. Vielleicht kann sie A'shei bitten, sie ein Stück des Weges zu begleiten?

Sie lassen die letzten Felder und Höfe hinter sich. Als sie den Wald erreichen, ist es fast völlig dunkel. Der zunehmende Mond steht hoch am Himmel. Silàn zieht automatisch den Schal über ihr langes Haar, das wie immer im Mondlicht silbern leuchtet. Ihre silbernen Augen lassen sich nicht so leicht verstecken. Antim, der die Bewegung bemerkt, lächelt vor sich hin. Aber er sagt nichts, froh darüber, dass seine Schülerin selber weiß, wie auffällig ihr Haar und ihre Augen im Mondlicht wirken. Es ist erstaunlich, wie sehr sie auch darin ihrer Mutter ähnelt. Antim kannte Tanàns Vater, Haonàns Partner nicht. Er lebte nicht mit der Königin der Nacht zusammen. Aber weder Haonàn selber noch ihre Eltern zeigten diese klaren Zeichen der Verwandtschaft mit den Nsilí. Deshalb ist der Schattenwandler sicher, dass Silàn ihren Anteil an Mondlichtblut von ihrem Großvater mütterlicherseits erbte. Antim fragte Silmira einmal danach, aber die Seherin der Nsilí spricht nicht mit Außenstehenden über Angelegenheiten ihres Volkes. Vielleicht wird sie Silàn irgendwann erzählen, was es mit ihrer Ahnenreihe auf sich hat.

Die junge Frau übernimmt im Wald wie selbstverständlich die Führung der kleinen Gruppe. Sie sieht in der Nacht viel besser als A'shei und Antim. Beide verlassen sich drauf, dass sie den schmalen Pfad nicht verliert und sie vor gefährlichen Stellen warnt. Nun, im Schein des Mondes und im Schutz der Nacht spürt Silàn ihre Energie zunehmen und die Müdigkeit verblassen. Gerne würde sie ein schnelleres Tempo anschlagen, aber sie weiß, das ihre Begleiter nach dem langen Tag müde sind und kaum mit ihr Schritt halten können. Endlich erreichen sie die Grenze, die Antims Schutzmagie um das Tal zieht. Silàn lässt erleichtert ihren Schal auf die Schultern fallen. Sie hasst es, sich verstecken zu müssen. Trotzdem nimmt sie die Warnungen des alten Magiers ernst. Niemals wird sie die Nacht vergessen, als es Femolai gelang, sie aus dieser Welt auszusperren.

Antims Hochtal und sein Haus liegen friedlich im Mondschein. Es tut gut, die schweren Körbe endlich abzusetzen. Während Antim seine Kräuter und anderen Heilmittel auspackt, macht Silàn im Herd Feuer und setzt Teewasser auf. Sie stellt Brot, etwas gebratenes Fleisch von A'sheis letzter Jagdbeute und eine Schale reifer Kirschen auf den Tisch. Bald ist die Mahlzeit bereit. Antim ist mit dem Aufräumen fertig, aber A'shei kann sich kaum von seinem Projekt losreißen. Er ist bereits dabei, nach dem Vorbild von Silàns alter Jacke Lederstücke zuzuschneiden.
«Komm, A'shei, ich weiß, dass du immer Hunger hast. Du hast nachher die ganze Nacht Zeit.»
«Wenn du darauf bestehst. Aber wenn ich bei der Arbeit einschlafe, bist du selber schuld. Schließlich sind nicht alle so nachtaktiv wie du!»
Das Mädchen verspricht lachend, ihm anschließend zu helfen. Sie weiß aber jetzt schon, dass sie bestenfalls Hilfsdienste leisten darf. A'shei nimmt es mit seinen Lederarbeiten genau und hat kein Verständnis für ihre unregelmäßigen Stiche.
Antim gießt Tee ein und sie sitzen zum Essen zusammen, wie in den letzten Jahren so oft am Abend. Heute liegt in der Stimmung ein Hauch von Veränderung, ein erstes Zeichen von Abschiedsschmerz. Schließlich bricht Silàn das Schweigen.
«Wann denkst du, dass ich aufbrechen muss?»
Antim überlegt einen Moment, bevor er antwortet.
«Du muss selber entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt ist. Hör auf dein Gefühl. All zu lang darfst du nicht warten, die Zeichen der Veränderung sind deutlich und werden von Tag zu Tag mehr.»
«Oder von Nacht zu Nacht. In zwei Tagen ist Vollmond. Ich möchte mich gerne von Silmira verabschieden. Ich bin ihr seit Wochen nicht begegnet, aber sie kommt bestimmt zum Vollmondtanz. Ausserdem könnte ich ein letztes Mal Angie besuchen. Was hältst du davon?»
«Vollmond ist für eine Tochter der Nacht bestimmt eine gute Zeit, eine Reise zu beginnen. Und Silmira sollte tatsächlich wissen, dass du dich auf den Weg machst. Also in drei Tagen, nach dem Vollmondtanz.»
Silàn seufzt, auf einmal kommt sie sich sehr unerfahren vor.
«Ich werde euch beide vermissen.»
A'shei hält den Blick gesenkt und spielt mit seinem Messer. Dann schaut er Silàn direkt an.
«Ich werde mit dir kommen. Vor zwei Jahreszyklen sagte ich, ich würde dich nach Silita-Suan bringen. Nun ist es Zeit, dieses Versprechen einzulösen.»
Silàn hält unbewusst den Atem an, als sie Antim fragend anschaut. Dieser nickt langsam.
«Auch das ist eine richtige Entscheidung. Also werde ich euch beide vermissen.»
Silàn strahlt übers ganze Gesicht. Sie muss nicht allein aufbrechen! Aber dann wird sie sofort wieder nachdenklich, nicht nur wegen Antims letzter Bemerkung.
«Wir werden sobald wie möglich zurückkommen. Aber zuerst muss ich herausfinden, was meine Aufgabe überhaupt ist. Dánirah sagte nur, dass sie mich auf der Burg Silita sah. Und dann war da noch etwas mit einem Schlüssel.»
Die Geschichte mit dem Kerker erwähnt sie lieber nicht. Jedes Mal, wenn sie daran denkt, läuft ihr ein kalter Schauer über den Rücken. A'shei beginnt den Tisch abzuräumen. Plötzlich dreht er sich zu Silàn um, die gedankenvoll das Kinn in die Hände gestützt hat und ins Leere starrt.
«Kam nicht in Silmiras oder besser Tanàns Prophezeiung auch ein Schlüssel vor? Wie war das doch gleich?»
Er geht aufgeregt in der Küche auf und ab als er versucht, sich an jene erste Vollmondnacht mit Silàn zu erinnern. Sein Gedächtnis ist gut, und nach und nach fallen ihm die gereimten Worte wieder ein.
«Es beginnt mit Silondai, dem Spiegel. Der Schlüssel kommt erst danach. Es fällt mir gleich wieder ein. Da war von der Königin der Nacht und vom Mondbaum die Rede - Silondai kamenin, Henoda katenin. Das ist der Anfang.»
Antim steht auf, um seine Schreibutensilien zu holen. Sorgfältig notiert er die Zeichen. Nun weiß auch Silàn, wovon A'shei spricht. Seltsam, dass sie sich nach so langer Zeit überhaupt noch an das Gedicht erinnert. Vorsichtig schlägt sie aus dem Gedächtnis den nächsten Satz vor.
«Silhini irgendetwas?»
«Genau, das ist es! Silhini erenin - und dann kommt der Mondbaum, Silfanu laitalin.»
A'shei ist begeistert.
«Nun fehlt nur noch der letzte Vers.»
Beide denken angestrengt nach. Schließlich ist es Antim, der nach dem Studium des Aufgeschriebenen einen Vorschlag macht.

«Silondai kamanin, Henoda katenin
Silhini erenin, Silfanu laitalin
Silita arg hamin»

A'shei und Silàn lauschen gespannt und schauen sich an. Beide nicken gleichzeitig.
«Genau, das war es. Silmira behauptete, deswegen sei meine Mutter ursprünglich durch den Spiegel gegangen. Was bedeutet diese Weissagung?»
Antim lächelt über ihre Ungeduld.
«Eine Nsilíprophezeiung ist kein Tannaríwahrtraum. Sie zu deuten ist noch schwieriger, als den Traum von Dánirah. Der war wenigstens nicht in Verse gepresst, die geheimnisvoll klingen sollen. Aber lass mal sehen.»
Er ergänzt die letzte Zeile und liest noch einmal den ganzen Text vor. Dann fügt er zuversichtlich seine Meinung an.
«Wir wissen, dass Tanàn diese Weissagung als Anlass nahm, durch den Spiegel zu gehen. Vermutlich glaubte sie, sie müsse in deiner Welt einen Schlüssel schmieden oder erschaffen.»
«Vielleicht ist in diesem Fall Silàn der Schlüssel!»
A'sheis Einwurf löst bei Antim ein Stirnrunzeln aus.
«Vielleicht. Das war allerdings kaum Tanàns Interpretation. Silondai kamanin ist klar ‹durch den Spiegel gehen›. Henoda ist der Schlüssel und katenin heißt schmieden, manchmal auch schaffen, aber eigentlich immer im Zusammenhang mit Gegenständen und harter Arbeit oder Magie. Deshalb glaube ich nicht, dass damit Silàns Geburt gemeint ist, das wäre selbst für Nsilípoesie weit hergeholt. Eine weitere Frage ist, wozu dieser geheimnisvolle Schlüssel dient. Ich finde dazu keinen Hinweis... Der zweite Teil ist einfacher. Silhini ist die Mondkönigin und erenin bedeutet finden, Silfanu der Mondbaum und laitalin blühen. Also vielleicht ‹wenn die Königin der Nacht gefunden ist, erblüht der Mondbaum›. Das scheint sich klar auf dich zu beziehen, Silàn. Und der letzte Teil ist ein traditioneller Schluss solcher Sprüche und bedeutet ungefähr ‹wenn all das geschehen ist, wird der Fluch von Silita gebrochen›. Was wiederum die Frage aufwirft, was der Fluch von Silita ist.»
«Wenn die Reihenfolge der Textteile stimmt, müsste der Schlüssel geschmiedet worden sein, bevor Silàn zu uns kam.»
«Nicht unbedingt. Ich kenne mehrere Prophezeiungen der Nsilí, in denen die einzelnen Elemente ziemlich wahllos aneinandergereiht sind. Offenbar spielt die Form eine wichtigere Rolle als der korrekte zeitliche Ablauf. ‹Silondai kamanin, Henoda katenin› reimt sich gut, das genügt vielleicht, um die Sätze so und nicht anders zusammenzufügen. Wir können Silmira fragen, aber ich bin mir fast sicher, dass der Schlüssel bisher noch nicht im Spiel ist. Zusammen mit Dánirahs Traum sieht das fast so aus, als solltest du auf Silita diesen geheimnisvollen Schlüssel suchen oder schmieden, Silàn.»
Silàn nickt. Sie ist sich nicht sicher, ob alles so einfach ist. Und niemand erwähnt den Kerker und das große Feuer. Aber heute werden sie auf diese Fragen keine Antwort finden. Entschlossen steht sie deshalb auf.
«Nun, ich weiß nicht, was ich von diesen Prophezeiungen halten soll. Meiner Mutter scheinen sie eher geschadet zu haben. Andererseits gäbe es mich wohl nicht, wenn sie nicht darauf gehört und durch den Spiegel zu Andres gefunden hätte. Ich spüre auf jeden Fall, dass die Zeit des Aufbruchs gekommen ist. Und wenn wir nicht mehr herausfinden, ist es wohl das Beste, nach Silita-Suan zu gehen und diesen Mondbaum zu besuchen. Wenn es dort einen Schlüssel gibt, werde ich ihn hoffentlich finden.»
Ashei grinst übers ganze Gesicht.
«Und du behauptest, du seist nicht zur Königin geboren! Gut, packen wir es an, wenn wir in drei Tagen aufbrechen wollen, haben wir noch viel zu tun!»
Antim reicht Silàn das zusammengefaltete Blatt mit der Weissagung.
«Vielleicht wirst du das noch brauchen. Und einige andere Dinge sollten wir auch vorbereiten. Zum Glück ist das Problem mit den Schuhen schon gelöst!»
Silàn ist sich bewusst, dass dahinter kein Zufall steht. Sie vertraut den Ahnungen des Schattenwandlers mehr als allen Prophezeiungen.
Während Silàn A'shei beim Zuschneiden des Leders hilft, bereitet Antim Kräutermischungen vor. Er ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass seine beiden Schützlinge möglichst bald und heil zurückkommen. Allerdings weiß er, dass er ihr Schicksal nicht beeinflussen kann. Wenn er an Dánirahs Traum denkt, empfindet er ein beklemmendes Gefühl, besonders beim Gedanken an das letzte Bild, als würde das Feuer ihn persönlich betreffen. Aber dies ist nicht der Moment, in sorgenvollen Gedanken zu versinken, die Entscheidungen sind längst gefallen. Er füllt für seinen Schüler A'shei einen Beutel mit Heilkräutern. Der Weg nach Silita ist lang und Dánirahs Traum lässt vermuten, dass er nicht ungefährlich wird.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt