Die Sprache der Xylin
Trotz dieses Versprechens ist A'shei nicht da, als Bettina zwei Tage später nach der Schule zum Spiegel kommt. Sie verbrachte die letzte Nacht am Fenster ihres Zimmers. Schlafen konnte sie nicht, weil sie nicht müde war. In den Wald gehen wollte sie nicht, weil sie zuerst ihre Gedanken ordnen und das Erlebte verarbeiten musste. Also stand sie am Fenster und dachte über das nach, was ihr A'shei und Silmira erzählt hatten.
Vieles passt zu dem, was sie von ihrem Vater weiß. Anderes könnte stimmen, aber sie traut sich nicht, den Vater danach zu fragen. Er reagiert immer seltsam, wenn die Sprache auf ihre Mutter kommt.
Heute war die Schule nicht ganz so schlimm wie in den letzten Tagen. Allerdings glänzte Bettina nicht mit großer Aufmerksamkeit. Immerhin schlief sie nicht ein, sie scheint tatsächlich mit wenig Schlaf auszukommen. Früher ist ihr das nie aufgefallen.
Als sie nach der Schule nach Hause kommt, ist niemand da. Tante Judith bringt mittwochs Angelika in den Reitunterricht und Stefan spielt mit Freunden Fussball. Wo der Vater steckt, weiß Bettina nicht. Seit dem Umzug entfremden sie sich mehr und mehr. Sie lässt ihre Schularbeiten im Zimmer liegen und geht in den Wald. Nun steht sie am Tor, aber A'shei ist nicht da. Zögernd ruft sie nach ihm, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Der Spiegel ist offen und über dem Pfad dahinter tanzen Insekten im Sonnenlicht. Kurzentschlossen macht sie sich allein auf den Weg zum Bach, inzwischen kennt sie sich hier ja aus. An der Stelle, wo sie A'shei kennenlernte, setzt sie sich auf einen Stein und schaut dem Tanz der smaragdgrünen Libellen über dem Wasser zu. Bald gesellt sich eine Gruppe Xylin zu den Insekten. Sie schweben ruhig in den Sonnenstrahlen über dem Wasser. Nur manchmal erklingt ein leiser Glockenton, wenn sich eine der Kugeln bewegt. Die gläsernen Oberflächen reflektieren die Farben und Bewegungen der Libellen. Bettina betrachtet atemlos das Schauspiel und streckt unbewusst ihre geöffnete Hand den Xylin entgegen. Eine der Kugeln setzt sich sanft auf ihre Handfläche und Bettina sieht vor ihrem inneren Auge einen leuchtenden Farbenwirbel. Dann ordnen sich die Farben langsam zu einem Regenbogen und sie vernimmt im Kopf leise aber deutlich die Stimme der Xyl
‹Silàn Silberhaar. Xylin grüßen Tochter der Nacht. Hoffnung lebt mit dir. Willkommen!›
«Ihr seid wunderschön! Wer seid ihr und wie kommt es, dass ich dich verstehe?»
Das Mädchen senkt die Stimme zu einen Flüstern. Die Xylin drängen sich näher aneinander und klingen wie ein Glockenspiel.
‹Xylin sind Lichtsammler, Botengänger. Xylin tragen Worte der Töchter von Silita zu Wesen der Nacht. Xylin werden Auftrag für Silàn erfüllen.›
«Vielen Dank. Ich weiß nicht, ob ich euer Vertrauen verdiene. Ich weiß auch nicht, was meine Aufgabe hier ist. Könnt ihr mir sagen, was hier alle von mir erwarten?»
Die Xylin tanzen eine Weile lang ungeordnet durcheinander. Bettina kann ihre einzelnen Stimmen kaum unterscheiden. Schließlich übernimmt wieder die erste Xyl das Wort.
‹Zukunft liegt im Nebel der Ungewissheit. Nur junge Silmira sieht manchmal Wahrheit. Entscheidung fällt, wenn Licht Dunkelheit berührt. Aufgabe der letzten Tochter von Silita ist unklar. Xylin warten mit Silàn Silberhaar.›
Bettina lächelt.
«Nun, das hilft mir im Moment leider auch nicht weiter. Aber, die junge Silmira? Ich denke sie ist gleich alt, wie meine Mutter war?»
Die Xyl klingt belustigt.
‹Zeit und Alter sind abhängig vom Blickpunkt. Silmira und Tanàn wurden unter gleichem Frühjahrsvollmond geboren. Was für Silàn vor langer Zeit geschah, liegt für Xylin Augenblicke zurück.›
Langsam gewöhnt sich Bettina an die Ausdrucksweise der Xyl.
«Das bedeutet, dass ihr älter seid als Silmira. Habt ihr meine Großmutter gekannt? Wie alt sind die Xylin?»
‹Haonàn war große Königin, letzte des Hauses Silita. Xylin waren alt, als erstes Mondkind Silàn Samen des silbernen Mondbaums nach Silita-Suan brachte.›
Bettina will gerade nach dieser ersten Silàn fragen, als sie hinter sich im Wald ein leises Rascheln vernimmt. Blitzartig erheben sich die Xylin und verstecken sich in der dichten Krone eines Baumes. Bettina sieht sich um. A'shei kommt auf sie zu.
«Silàn, ich habe dich am Tor verpasst. Verzeih, ich musste mich um Antims Garten kümmern.»
«Das ist in Ordnung. Ich kenne inzwischen den Weg hierher. Ich habe mich mit den Xylin unterhalten.»
Nun, da sich A'shei neben Bettina auf einen Stein setzt, verlassen die Kugeln ihr hastig aufgesuchtes Versteck und schweben in einiger Entfernung in den Sonnenflecken über dem Bach. A'sheis Blick folgt aufmerksam ihren Bewegungen.
«Sie scheinen dich wirklich zu mögen.»
«Sieht so aus. Aber ich mag sie auch. Weißt du, wie alt sie sind?»
«Niemand weiß viel über die Xylin. Manche behaupten, sie würden nur kurz leben und wenn sie eine bestimmte Größe erreicht hätten, zerplatzen um einen Schwarm junger Xylin auszustoßen. Ich habe aber auch gehört, dass sie sehr alt seien und dass es keine jungen Xylin gibt, weil sie eigentlich Tränen der Sonne sind, die auf die Erde fielen, als sich Mond und Sonne zerstritten und die Welt in ein Reich des Tages und ein Reich der Nacht unterteilten.»
Bettina versucht, sich die Tränen der Sonne vorzustellen.
«Das ist eine schöne Legende. Weiß man, warum sich Mond und Sonne zerstritten?»
«Ich weiß nicht. Vermutlich ist es nur eine Geschichte.»
Nach allem, was sie bisher gehört hat, ist sich Bettina nicht so sicher. Wieder streckt sie die geöffnete Hand aus und eine Xyl nähert sich vorsichtig, um sich darauf niederzulassen.
«Habt ihr uns verstanden? Kannst du mir sagen, woher die Xylin kommen?»
Die Farben in Bettinas Kopf wirbeln durcheinander. Es dauert eine Weile, bis die Stimme der Xyl deutlich wird.
‹Xylin sind altes Volk. Legende nennt Xylin Tränen der Sonne. Xylin sind Wesen der Nacht, Kinder des Mondes, Lichtsammler, Botengänger. Sonne schenkt Xylin Licht, damit sie Mond erfreuen. Viele Xylin sind in Wirren der Zeiten zerbrochen, nur wenige sind übrig. Es gibt keine neuen Xylin. Silàn mag ihrem Sonnenfreund von Xylin berichten, er versteht Sprache nicht.›
Bettina schaut A'shei überrascht an. Der Junge beobachtet fasziniert die Lichtkugeln, offensichtlich ohne dass er etwas versteht. Als sie die Worte der Xyl wiederholt, schüttelt er ungläubig den Kopf.
«Sie sprechen tatsächlich mit dir! Ich glaube, nicht einmal Silmira versteht ihre Sprache. Aber die Xylin irren sich, ich bin kein Sonnenkind. A'shei ist eine Abkürzung für A'shei-te-naorim. Das bedeutet in der Sprache der Tannarí ‹Stern, der in den Himmel fällt›. Die Tannarí sind ein altes Volk aus den Nebelbergen, ihr Name bedeutet ‹Volk der Dämmerung›.»
Die Xylin lassen aufgeregt ihr Glockenspiel erklingen. Diesmal versteht Bettina sofort ihre Botschaft.
‹Xylin bitten A'shei-te-naorim um Verzeihung. Es war Xylin unbekannt, dass in Atara Sohn der Tannarí lebt. Sternenwanderer trägt Hoffnung in die Zeit des Wandels.›
Als Bettina dies für A'shei übersetzt, meint er nachdenklich, er verstünde die Bedeutung der Worte nicht wirklich.
«Ich bin als Waise bei Antim aufgewachsen. Ich weiß über die Tannarí nur, was er mir erzählte. Vielleicht können dir die Xylin mehr über sie berichten?»
A'shei klingt hoffnungsvoll. Die Antwort der Xyl kommt überraschend schnell.
‹Tannarí sind Freunde der Xylin. Tannarí und Xylin leben zwischen Reichen von Sonne und Mond. Manche lieben Nacht, andere Tag. Tannarí wollen sich nicht für eine Welt entscheiden. Sonnenkönig verbrannte im Krieg der Kälte Tannadörfer. Überlebende Tannarí zerstreuten sich in alle Winde, Tannasprache ging verloren. Xylin grüßen A'shei, Stern-der-in-den-Himmel-fällt, Erbe der Tannarí.›
A'shei muss über die Aussage der Xyl lächeln.
«Ich spreche tatsächlich nicht einmal die Sprache der Tannarí richtig. Antim hat sich Mühe gegeben, mir einiges beizubringen, aber es ist schwierig, eine Sprache zu lernen, ohne mit jemandem sprechen zu können.»
Plötzlich fällt Bettina etwas auf.
«A'shei, welche Sprache sprechen wir miteinander?»
«Die hohe Sprache des Sonnenreiches. Heute ist das die meist gesprochene Sprache. Du hast zwar einen Akzent, der mich an die Schattenwandler oder Nsilí erinnert, aber ich verstehe dich gut.»
Bettina versucht, in Gedanken einen Satz so zu formulieren, so wie sie ihn in der Schule für einen Aufsatz aufschreiben würde. Dann wiederholt sie ihn so, wie sie ihn gegenüber A'shei sagen würde. Überrascht stellt sie fest, dass die beiden Sprachen keine Ähnlichkeit aufweisen.
«Wie kann ich eine Sprache sprechen, von der ich vor wenigen Tagen noch nicht wusste, dass sie existiert?»
Das Glockenläuten der Xylin klingt wie ein Lachen.
‹Silàn ist Tochter der Nacht, Erbin von Silita, Schwester der Xylin, Ahranan der Drachenschatten. Silàn versteht alle Sprachen der Kinder der Nacht. Silàn trägt Magie des Mondbaums im Blut.›
Das Mädchen schüttelt ungläubig den Kopf. Sie hat heute soviel erfahren, dass sie bestimmt wieder nicht schlafen kann. Erschrocken schaut sie Richtung Sonne.
«Mist, ich muss gehen. Es ist fast Zeit fürs Abendessen. Tante Judith wird sich schon wieder über mich ärgern.»
«Du solltest bei uns bleiben, Silàn. Hier gehörst du hin.»
Die Xylin bestätigen A'sheis Aussage mit einem freudigen Glockenklingen. Aber Bettina schüttelt den Kopf. Sosehr sie den Wald und seine Geschöpfe liebt, ihr richtiges Leben ist da draußen. Wie könnte sie das einfach aufgeben?
Als sie sich kurz darauf am Tor herzlich von A'shei und den Xylin verabschiedet, ist ihr allerdings fast nach Weinen zumute. Sie verspricht, bald wiederzukommen. Dann rennt sie so schnell sie kann zum Haus zurück, gerade noch rechtzeitig zum Abendessen.
DU LIEST GERADE
Silàn
FantasíaBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...