3-15 Der Schatten der Kaedin

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Der Schatten der Kaedin

Silmira blickt von ihrem Aussichtspunkt aus über das schwach vom Mond beschienene Tal. Es ist noch früh am Abend, aber bald wird die Mondsichel untergehen und sie wieder bis zur nächsten Nacht handlungsunfähig machen. Manchmal verwünscht sie diese Einschränkung, der sie als Nsil unterliegt. Nur während der Mond am Himmel steht, besitzt sie einen Körper. Meistens ist sie damit zufrieden. Aber es gibt Zeiten, da beneidet sie Wesen, welche die Möglichkeit besitzen, zu allen Tages- und Nachtzeiten ungehindert ihren Geschäften nachzugehen. Heute ist eine solche Nacht.
Unten im Tal flammen die ersten Lagerfeuer auf. Pentims Armee bezieht ihr Nachtlager. Das Heer des Sonnenkönigs überschritt auf seinem Zug gegen die Armeen aus Lellini längst den Fluss Keli und nähert sich dem Hügelland im Osten von Sellei. Die Krieger sind diszipliniert und kommen gut voran. Allerdings wird ihre Geschwindigkeit diktiert von jener des großen Wagenzugs, der sie begleitet und die dringend benötigten Vorräte mitführt. Pentim will nicht, dass sein Heer das eigene Land plündert und verwüstet.
Von ihren Informanten weiß Silmira, dass Femolais Krieger da weniger Skrupel kennen. Sie leben von dem, was sie auf den Höfen und in den Weilern unterwegs erbeuten. Da sie deshalb nicht auf schwerfällige Wagen angewiesen sind, kommen sie wesentlich schneller voran, obwohl sie die schwierigere Route entlang der Sümpfe des Haon benutzen.
Silmira sieht zum Mond hinüber, der gleich untergehen wird. Sie hoffte, heute noch eine weitere Botschaft von einem ihrer Nsilspäher zu erhalten. Noch immer empfindet sie grenzenlose Wut und Enttäuschung, wenn sie an die Vollmondnacht in der Schlucht von Ramenar zurückdenkt. Immerhin gelang es ihr, einige Verbündete zu gewinnen, während der größte Teil der Nsilí sich sorglos beim Vollmondtanz vergnügte. Nicht zuletzt ist Arraj darunter, Ratsmitglied und angesehener Anführer der Nsilí von Kelèn. Zusammen mit Mitgliedern seines Stammes gelang es ihr in den letzten Wochen, die Bewegungen der verschiedenen Heeresteile zu beobachten. Nsilí sind flink und mit ihren Mondlichtflügeln schnell unterwegs. Wenn es notwendig ist, genügt ihnen die verhältnismäßig kurze Zeit des Mondscheins, um ein großes Gebiet abzusuchen. Silmira weiß deshalb, dass die Armee der Lelliní bereits den Selin überschritten hat und Richtung Kelèn nach Süden zieht. Es kann sich nur noch um Tage handeln, bis sie mit Pentims Heer aufeinandertrifft.
Silmira hofft inständig, dass der junge Drachenschatten in Silita-Suan eine Möglichkeit findet, Silàn zu benachrichtigen. Sie bat auch einige Xylin, sich nach der Erbin von Silita umzusehen. Aber die Kommunikation mit den Lichtkugeln ist immer schwierig und seit einiger Zeit halten sich die Xylin bedeckt und lassen sich überhaupt nicht mehr sehen. Silmira befürchtet, dass etwas Schlimmes passiert ist, aber ohne die Xylin funktioniert das nächtliche Informationsnetz nur langsam und umständlich. Immerhin, neben den Nsilí von Kelèn und ihrem eigenen Volk aus Atara fand sich inzwischen eine große Gruppe aus Gerin ein. Ihr Anführer Ihraj erklärte, sie würden sich zu Silàn als Königin der Nacht bekennen und stellte seine Nsilí unter den Befehl von Silmira. Mit Arraj und Ihraj stehen deshalb jetzt auch zwei bedeutende Ältere ihres Volkes auf ihrer Seite.
‹Noch besteht Hoffnung›, denkt Silmira zuversichtlich, bevor ihre Gestalt mit dem untergehenden Mond verblasst.

~ ~ ~

Ranoz und Noak tragen A'shei und Silàn so schnell wie möglich nach Sellei. Silàn ist enttäuscht darüber, die Xylin zurücklassen zu müssen, ohne zu wissen ob sie sich vollständig erholen. Aber sie weiß, dass Silmira nichts gegen einen Krieg ausrichten kann, selbst wenn ihr sämtliche Nsilí zur Seite stehen. Deshalb nahm sie das Angebot von Ranoz und Noak an, sie und A'shei hinunter in die Ebene zu tragen. Silàn ist den beiden Hrankaedí dankbar, ohne ihre Hilfe wäre dies eine weitere mühsame und langsame Reise zu Fuß. Vor allem erstaunt es sie, dass Noak an Ranoz' Seite bleibt und klaglos A'shei trägt. Die beiden Drachenschatten wollen nichts von ihrem gut gemeinten Vorschlag wissen, Reiter zu tauschen, damit die Last für Noak kleiner wäre. Noaks entrüstetes Schnauben und A'sheis Lächeln, als er die Hrankae zärtlich hinter dem Ohr krault, sagen Silàn alles. Die beiden besitzen inzwischen eine genauso tiefe Bindung wie sie und Ranoz.
Nach drei langen Nächten unterwegs erreichen sie das Hügelland südlich des Flusses Selin, von dem Silmira in ihrer Nachricht sprach. Die Mitte der Nacht ist vorbei und sie haben noch kein Feldlager gefunden. Der Mond ist längst untergegangen, deshalb lohnt es sich nicht, sich nach Silmira und ihren Nsilí umzusehen. Silàn weiß, dass sie die Suche ohnehin bald abbrechen müssen, wenn sie rechtzeitig ein Versteck finden wollen, in dem die Hrankaedí den Tag verbringen können. Ranoz beruhigt sie.
«Es ist hier nicht so schlimm wie in der Flussebene. Zwischen den Hügeln gibt es tiefe Schluchten. Wir werden eine Höhle finden.»
Trotzdem will Silàn die Suche schon aufgeben, als sie A'sheis aufgeregten Ruf vernimmt.
«Dort drüben! Das sind Lagerfeuer!»
Sofort lässt sich Ranoz tiefer sinken. Noak folgt ihm elegant. A'shei hat recht, an einem kleinen Bach brennen auf einer Waldlichtung mehrere kleine Feuer. Vorsichtig umkreist Ranoz die Stelle zweimal im Gleitflug. Gegen den bewölkten Himmel sollten die Drachenschatten vom Lager aus nicht zu erkennen sein. Allerdings lässt sich aus der Luft nicht sehr viel beobachten. Deshalb bittet Silàn Ranoz, abzudrehen.
«Lass uns ein Versteck suchen. A'shei und ich werden später versuchen, an das Lager heranzuschleichen. Vielleicht finden wir heraus, zu wem dieses Heer gehört.»
«Wenn es überhaupt ein Heer ist. Ich sah ungewöhnlich viele Frauen und Kinder.»
Silàn weiß, dass der Drachenschatten die bessere Fernsicht besitzt - aber Frauen und Kinder? Nun, falls sie bald ein Versteck finden, kann sie mit A'shei noch heute Nacht mehr herausbekommen.
Bald zeigt sich, dass Ranoz das Land sehr gut kennt. Der Bach fließt oberhalb des Lagers durch ein schmales, tief eingeschnittenes Tal. An einer Steilwand auf halber Höhe entdeckt Noak einen Höhleneingang.
«Wie hast du das gemacht?»
A'shei klingt ziemlich verwundert, als sie auf einem schmalen Felsband vor der Höhle landen.
«Fledermäuse wohnen hier. Hörst du sie nicht?»
Silàn und A'shei lauschen gespannt. Tatsächlich sind die hohen, spitzen Jagdschreie der Fledermäuse deutlich zu hören.
«Es ist eine große Kolonie, also muss es auch eine große Höhle geben. Wir haben Glück, der Eingang ist für uns weit genug.»
Ranoz bläst zufrieden etwas Rauch aus. Silàn beobachtet die Fledermäuse, die ihre Kreise um den Höhleneingang ziehen.
«Und die Fledermäuse, stören wir sie nicht?»
Langsam streckt sie eine Hand aus. Fast sofort nähert sich eines der Tierchen und hängt sich kopfüber mit seinen Krallen an Silàns Zeigefinger. Dann dreht es den Kopf und betrachtet die Magierin neugierig mit seinen schwarzen Augen. Silàn lächelt und streicht der Fledermaus sanft mit der freien Hand über das weiche Bauchfell, bevor diese sich fallen lässt und in einer erratisch wirkenden Flugbahn davonzieht.
«Offensichtlich sind wir hier willkommen. Ranoz, Noak, ist es für euch in Ordnung, wenn A'shei und ich hinunter ins Tal gehen? Ich möchte zu gern wissen, wer dort lagert.»
«Seid vorsichtig. Und ruft, wenn ihr uns braucht. Aber lieber nicht am Tag.»
Trotz seines mürrischen Tonfalls spürt Silàn deutlich Ranoz' Sorge. Als A'shei die Sehne seines Bogens aufspannt, tut sie es ihm nach. Vorsicht kann nicht schaden.
Vom Felsband aus führt ein schmaler Pfad hinunter an den Bach. Es ist ein Wildwechsel, Menschen scheinen nicht oft hierher zu kommen. Anschließend folgen sie dem Bachbett. Auch hier gibt es keinen Weg, sie klettern über Felsen und waten stellenweise durchs Wasser. Es ist fast wie früher, als sie zusammen in Atara auf Entdeckungstour gingen. A'shei grinst Silàn übermütig an und sie weiß, dass er das Gleiche denkt. Sie nähern sich bereits der Stelle, wo das Tal breiter wird und vermuten, dass sie nun nicht mehr weit vom Lager entfernt sind.
Silàn geht einige Schritte voran, als sie plötzlich ein ungutes Gefühl verspürt. Erschrocken bleibt sie stehen und bedeutet A'shei, das Gleiche zu tun. Der Junge legt einen Pfeil auf die Bogensehne und blickt sich mit halb geschlossenen Silberaugen um. Aber die Gefahr ist nicht von der sichtbaren Art.
«Kaedin!»
Silàn haucht den Namen der gefürchteten Wesen der Nacht beinahe unhörbar. A'shei steht dicht an ihrer Seite. Er scheint die Präsenz der Schattenwesen weniger deutlich wahrzunehmen. Seine Stimme ist heiser und ebenfalls leise.
«Wo? Und wieviele sind es?»
«Dort drüben unter dem Baum, ich weiß nicht wieviele. Mehrere. Aber sie projizieren keine Angst, sie beobachten nur. Lass mich etwas versuchen.»
Sehr langsam füllt Silàn ihren Körper mit Energie der Nacht, bis sie ihre Schattenform annehmen kann. A'shei spannt nervös seinen Bogen, als die Konturen seiner Freundin nach und nach verschwimmen. Schließlich ist Silàn nicht mehr sichtbar. An ihrer Stelle schiebt sich ein konzentrierter dunkler Schatten langsam in Richtung der Kaedin. Die Flecken tieferer Dunkelheit unter einer großen Eiche, wo es eigentlich keine solchen Schatten geben sollte, bewegen sich nicht.
In ihrer Schattenform nähert sich Silàn den Kaedin. Sie erkennt, dass es fünf kleine Dunkelheiten sind, die regungslos verharren und sie beobachten. Sie versucht, sie wie die Xylin anzurufen. Die Reaktion ist unerwartet. Zuerst schlägt ihr eine intensive Welle projizierter Angst entgegen. Aber sie kennt diese Taktik inzwischen und lässt sich davon nicht beeindrucken. Noch einmal sendet sie einen Gruß, diesmal in Form eines Gedankenbildes, wie es die Ijenkaedí verwenden. Diesmal löst der Kontaktversuch ein leises Surren bei einem der Wesen aus. Vorsichtig nähert es sich ein Stück. Die vier anderen verharren und beobachten. Das mutige Kae gibt noch einmal ein surrendes Geräusch von sich. Für Silàn klingt es wie eine Frage.
‹Wer bist du?›
Sie versucht, verständlich zu antworten. Ihre Erfahrung aus den Gesprächen mit dem Ijenkae und den Xylin helfen dabei. Kombiniert mit einem Gedankenbild von Freundschaft schickt sie dem Wesen ihren Namen.
‹Ich bin Silàn-àna-Tanàn, Tochter der Dunkelheit.›
‹Silàn. Wir haben von dir gehört. Du bist anders, als wir dachten.›
Diesmal versteht sie das Kae ganz deutlich. Begeistert versucht sie, die Unterhaltung fortzusetzen.
‹Ihr seid auch anders, als ich dachte. Darf ich euch sehen?›
Diese Frage löst ein eifriges Surren unter den Kaedin aus. Sie rücken etwas näher. Silàn streckt einen Schattenarm aus und das mutigste der Kae kommt etwas näher, damit sie es berühren kann. Als die beiden Schatten ineinanderfließen, kann Silàn erkennen, dass das Kae eine feste Gestalt besitzt. Dadurch unterscheidet es sich grundsätzlich von dem Ijenkae. Es ähnelt einer schwarzen, pelzigen Kugel, die mit einem Durchmesser von rund eineinhalb Handspannen etwas größer als eine Xyl ist. Langsam und ohne den Kontakt zu unterbrechen wechselt Silàn zu ihrer menschlichen Gestalt. Die Kaedin tun es ihr gleich.
A'shei zieht hörbar die Luft ein und senkt seinen Pfeil. Silàn lächelt, als sie das Wort an die Dunkelheiten richtet.
‹Vielen Dank. Ich freue mich, die Kaedin kennenzulernen. Dürfen wir dem Bach folgen?›
Das Kae lässt wieder das Surren hören. Für A'shei klingt es wie das freundliche Schnurren einer Katze. Für Silàn enthält es aber verständliche Worte.
‹Silàn-àna-Tanàn ist eine Tochter der Dunkelheit, ihr gehört die Freiheit der Nacht. Die Kaedin werden ihr nicht im Weg stehen. Freiheit ist kostbar, auch für die Kaedin.›
Damit hüllen sich die pelzigen Wesen wieder in Schatten und ziehen sich langsam wie kleine schwarze Nebelschwaden unter die Büsche am Ufer zurück. Silàn blickt ihnen nachdenklich hinterher und übersetzt die Unterhaltung für A'shei. Dieser reibt sich gedankenverloren das Kinn.
«Ist es möglich, dass ihre Loyalität zu Femolai nicht ganz so stark ist, wie wir immer annehmen?»
Silàn zuckt die Schultern. Sie verspürt für die kleinen Dunkelheiten Mitleid.
«Ich weiß nicht, weshalb sie sich für Femolais Seite entschieden. Zumindest diese Gruppe hier scheint mit dieser Wahl nicht glücklich zu sein. Sie ähneln im Grunde genommen den Xylin, findest du nicht? Vielleicht sollte Femolai vor allem auf die Unterstützung ihrer menschlichen Krieger zählen. Mir scheint, die meisten Wesen der Nacht ziehen die Freiheit ihrer Gefolgschaft vor.»

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt