3-20 Königin der Nacht

1.5K 131 21
                                    

Königin der Nacht

Langsam gleitet ein erster Sonnenstrahl über die Spitzen des raschelnden Schilfrohrs. Femolai senkt instinktiv die Arme, um ihr Gesicht und die empfindlichen Augen vor dem zunehmenden Licht zu schützen. Reglos zusammengekrümmt liegt Silàn zwischen ihr und A'shei im Sand. Vorsichtig und blinzelnd wirft Femolai unter ihrem Arm hindurch einen Blick auf die junge Frau und auf A'shei, der sehr ruhig seinen Pfeil auf ihre Brust gerichtet hält. Erst nach einer Weile setzt die dunkle Königin an, zu sprechen.
«Leg deinen Bogen weg, Junge. Deine Freunde sind geflüchtet und deine kleine Hexe scheint im Moment nicht in der Lage, ins Geschehen einzugreifen.»
Mit einer spöttischen Geste weist sie auf die bewusstlose Gestalt Silàns. A'shei lässt sich nicht ablenken, seine Augen fixieren unverwandt sein Ziel. Trotzdem macht er sich ununterbrochen Sorgen um seine Freundin und möchte am liebsten an ihrer Seite hinknien, um nachzusehen, wie es ihr geht. Aber er fürchtet, dass Femolai selbst im vollen Licht des Tages noch sehr gefährlich ist.
Die Sonne steigt höher und das Schilfrohr wirft lange Schatten auf den grauen Sand des Flussufers. Während er sich darauf konzentriert, Femolai in Schach zu halten, sammelt A'shei soviel Schattenmagie wie möglich. Er weiß, dass er sich der dunklen Königin gegenüber keinen Fehler erlauben darf. Offensichtlich nützt ihre ganze Magie der Nacht tagsüber nichts, sonst hätte sie ihn längst angegriffen und getötet. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass sie aus Verzweiflung bereit ist, auf ihre Reserven an roher Magie zuzugreifen. Deshalb ist der Schattenwandler jeden Moment auf einen Angriff vorbereitet. Femolai hält immer noch einen Arm als Schutz gegen das Licht über die Augen. Vorsichtig tastet sie nun nach der Kapuze ihres Mantels und will sie über den Kopf ziehen. A'shei hebt fast unmerklich den Bogen und spannt die Sehne etwas stärker, während er entlang des Pfeils sein Ziel visiert. Die Königin läßt die Kapuze wieder fallen. Der gezwungene Spott in ihrer Stimme mischt sich mit Verachtung.
«Warum tötest du mich nicht, wenn du es darauf angelegt hast? Oder fehlen dir dazu Mut und Kraft?»
A'shei antwortet nicht. Die Zeit verstreicht endlos langsam. Er webt unauffällig einen komplexen Schattenbann, um Femolais Handlungsfreiheit einzuschränken. Die dunkle Königin spürt aber seine Absicht und zerschlägt den Bann mit einem kurzen Aufflackern von kräftiger Energie. Der Schattenwandler zuckt zusammen. Zumindest weiß er jetzt, dass seine Vermutung richtig war. Femolai verwendet rohe Magie aus der Reserve ihres Körpers. Das gibt ihm ihr gegenüber einen entscheidenden Vorteil, denn er kann seine Energie erneuern, solange genug Licht und Schatten vorhanden sind.
Die Sonne steht deutlich über dem Horizont, ihre Strahlen beginnen zu wärmen. A'shei kann das wachsende Unbehagen im Ausdruck seiner Gegnerin erkennen. Femolai dreht den Rücken halb zur Sonne und wendet das Gesicht von ihren Strahlen ab. Ihr schwarzes Haar glänzt im Morgenlicht und fällt ihr offen über die Schultern. Die bleichen Hände hält sie vor sich, im Schutz des Schattens ihres Körpers. A'shei spürt, wie sie unruhiger und angespannter wird. Er rechnet jeden Augenblick mit einem Angriff und hält seinen stärksten Abwehrbann aus Schattenmagie bereit. Aber er ist sich bewusst, dass seine Magie jener der dunklen Königin niemals gewachsen ist. Langsam verkrampfen sich die Muskeln in seinen Armen. Bald wird er seinen Bogen absetzen müssen. Er braucht dringend eine gute Idee, denn auf Hilfe wagt er nicht zu hoffen.

Silàn spürt Wärme in ihrem Gesicht. Vorsichtig öffnet sie die Augen und blinzelt direkt in die Sonne. Geblendet kneift sie die Lider wieder zu. Ihr ganzer Körper schmerzt und ihre Muskeln fühlen sich an, als seien sie von innen her zu Asche verbrannt. Sie bleibt regungslos liegen während sie sich zu erinnern versucht, was passiert ist. Die pochenden Kopfschmerzen helfen kaum dabei, die Bilder der vergangenen Nacht wieder zusammenzusetzen. Aber nach und nach fallen ihr die wesentlichen Ereignisse ein, das Warten auf Femolai, der Angriff der Hrankaedí, das Aktivieren des Mondsteins. Erschrocken zuckt ein einziger Gedanke durch ihren vernebelten Kopf: Der Mondstein! Hoffentlich hat sie den Mondstein nicht verloren. Sie hebt ihre linke Hand aus dem feuchten Ufersand, um in ihrer Tasche nach dem Stein zu tasten. Aber ein freudiger Ausruf unterbricht ihre Bewegung.
«Silàn! Du lebst! Ich hatte solche Angst um dich. Wie geht es dir?»
Die Freude und Besorgnis in A'sheis Stimme überschlagen sich. Den Stein im Moment vergessend setzt sie sich auf, um ihren Freund anzusehen. Was macht A'shei mit dem gespannten Bogen? Ein kurzer Blick in Richtung des zitternden Pfeils erklärt alles. Torkelnd steht Silàn auf und stellt sich an A'sheis Seite. Sie muss sich an seiner Schulter festhalten, um nicht wieder in den Sand zu stürzen. Schließlich lässt sie sich neben ihm auf die Knie sinken, um ihn nicht in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken. Femolai beobachtet den Vorgang mit einem spöttischen Zucken der Mundwinkel.
«Sieh an, das Halbblut ist wieder wach. Hast du dich mit deinem Stein übernommen? Vielleicht solltest du ihn mir einfach geben, wenn du ihn nicht beherrschen kannst.»
Silàn angelt nach ihrem Hut, der an seinem Band auf ihren Rücken hängt, und setzt ihn sorgsam auf. Nun, da ihre Augen und ihr Gesicht im Schatten liegen, fühlt sie sich besser gewappnet für eine Konfrontation mit Femolai.
«Nein, Femolai, ich werde dir den Stein nicht geben. Er gehört dir nicht. Und ich bezweifle, dass du damit besser umgehen könntest als ich.»
«Zweifle, soviel du willst. Es ist offensichtlich, dass dein gemischtes Blut nicht stark genug ist für diese Aufgabe. Damit kommst du auch für das Königtum der Nacht nicht in Frage. Ich bin die letzte reinblütige Tochter der Nacht. Die alte Haonàn zerstörte ihre Linie, als sie einen Nsil zum Mann nahm. Und Tanàn führte die Tradition weiter. In deinen Adern fließt nur verwässertes Blut der Nacht. Du wirst niemals herrschen.»
Silàn will nicht zugeben, wie hart sie Femolais Worte in ihrem geschwächten Zustand treffen. Was ist, wenn sie recht hat? Wenn Haonàn tatsächlich einen entscheidenden Fehler machte? A'shei scheint ihre Zweifel und Unsicherheit zu spüren.
«Hör nicht auf sie, Silàn. Du weißt genau, wer du bist. Lass dich von dieser Verräterin nicht beirren.»
Silàn nickt. Trotzdem hat sie das Gefühl, im entscheidenden Moment mit dem Mondstein gescheitert zu sein. Sie greift in ihre Tasche und umschließt den warmen Stein mit der Hand. Sofort beginnt er, Energie an sie abzugeben, als hätte er auf diesen Moment gewartet. Silàns Schmerzen lassen nach, das Pochen in ihrem Kopf hört auf und die verknoteten Muskeln in ihrem Nacken entspannen sich. Aufatmend richtet sie sich auf und legt sich die Worte bereit, die sie an Femolai richten will. Noch ist nicht alles verloren. A'shei spürt die Veränderung und wirft Silàn einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu. Was er dabei sieht, lässt ihn alles andere vergessen und erschrocken nach Luft schnappen. Vor die goldene Scheibe der Morgensonne schiebt sich vom unteren linken Rand her ein scharf umrissener schwarzer Schatten.
Silàn und Femolai folgen instinktiv dem Blick A'sheis geweiteter Augen. Beide spüren, wie Kraft in ihre Körper zurückströmt, je weiter der Schatten über das Gesicht der Sonne wandert. Silàn hält fest den Stein der Macht umklammert. Er vibriert mit konzentrierter Energie. Sie sammelt soviel davon, wie sie aufnehmen kann und richtet sie auf Femolai. Auf deren Lippen liegt ein siegesgewisses Lächeln. Ohne auf das grelle Licht der Sonne zu achten, das fast sofort ihr Gesicht rötet, streckt sie dem vorkriechenden Schatten die Hände entgegen. Silàns Bann trifft sie unerwartet, aber die dunkle Königin reagiert rasch. Mit ihrer neu gewonnenen Kraft zerschlägt sie den Fesselungszauber ihrer Gegnerin. Langsam dreht sie den Rücken zur Sonne und wendet sich Silàn zu. Die beiden Magierinnen sind für ein weiteres Duell bereit.
A'shei senkt den Bogen, um seine schmerzenden Arme auszuruhen. Jetzt, wo Silàn und Femolai wieder ihre magischen Kräfte gegeneinander einsetzen, kann er kaum noch etwas ausrichten. Trotzdem hält er sich bereit, auf alles gefasst. Antim erzählte von solchen Verdunkelungen der Sonne und Silàn erwähnte, dass laut der Hrankaedí-Legende die Xylin bei einem solchen Ereignis erschaffen wurden. Sie nannte das eine Sonnenfinsternis, behauptete, der Mond würde dabei die Sonne verdecken. Antim dagegen meinte, solche Verdunkelungen träten nur an großen magischen Wendepunkten des Schicksals auf. Wenn A'shei heute aus zusammengekniffenen Augen dem Schatten zusieht, der mehr und mehr von der Sonne abdeckt, glaubt er, dass beide recht haben.
Er beobachtet, wie die Magierinnen mit dem zunehmenden Schatten sichtbar an Kraft gewinnen. Beide warten aber ab, denn noch dominiert die Sonne den wolkenlosen Morgenhimmel. Allerdings verliert sie schrittweise, ganz allmählich ihre Kraft. Das Licht bekommt beinahe unmerklich eine düstere Qualität und wirkt bleiern. Die Schatten werden tiefer, ihre Konturen schärfer. A'shei nutzt diesen Effekt, um seine eigene magische Energie aufzustocken. Dabei fällt ihm auf, dass die Vögel ihr Morgenlied unterbrechen, einer nach dem anderen verstummt. Eine unnatürliche Stille senkt sich über das Land. Der Schatten verdeckt nun bereits den größten Teil der Sonne und kriecht unaufhaltsam weiter.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt