1-19 Abschied

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Abschied

Silàn nähert sich mit vorsichtigen Schritten dem Spiegel. Nach wenigen Metern fällt ihr das Versprechen ein, das sie Angie und Andres gab. Unvermittelt bleibt sie stehen und runzelt die Stirn.
«Ich kann noch nicht durch das Tor kommen. Ich muss mich zuerst bei jenen verabschieden, die mir geholfen haben, überhaupt so weit zu kommen. Ich habe es versprochen.»
Rasch dreht sie sich um und stolpert auf unsicheren Beinen zurück Richtung Waldrand. Die Xylin wirbeln kurz durcheinander, bleiben dann aber ruhig und abwartend stehen. A'shei dagegen ist entsetzt.
«Silàn, komm zurück, du weißt nicht, wie lange der Spiegel geöffnet bleibt!»
In der Stimme des Jungen schwingt Panik mit. Silmira fasst ihn beruhigend am Arm.
«Gib ihr etwas Zeit. Sie hat das Tor geöffnet, sie kann es schlimmstenfalls noch einmal tun. Die Xylin scheinen nichts dabei zu finden, dass sie zurückgeht.»
Immer noch beunruhigt setzt sich A'shei auf eine Wurzel und legt den Kopf in seine Hände. Seit Tagen lebt er in der Angst, Silàn nie wieder zu sehen. Er schlief in dieser Zeit kaum und ist inzwischen selber der Erschöpfung nahe. Silmira stellt sich neben ihn, mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn. Trotz ihrer Worte ist sie skeptisch allem gegenüber, was aus dieser fremden Welt kommt. Immerhin verlor sie hier ihre Freundin Tanàn. Die Xylin ziehen ruhig Kreise und lassen ab und zu einen leisen Glockenton hören.

Silàn läuft so schnell sie kann zurück zum Waldrand. Lange bevor sie die Bank erreicht, beginnt sie atemlos und heiser zu rufen.
«Angie, Andres, kommt her, ich muss euch etwas zeigen.»
In ihrerAufregung und Erschöpfung vergisst sie, dass der Spiegel bisher immer nur ihr allein den Zutritt erlaubte. Sie bleibt stehen, um Atem zu schöpfen. Bald nähern sich die beiden, Angie ein paar Schritte voraus. Als sie vor Silàn innehält, zieht sie erschrocken die Luft ein.
«Was ist mit deinen Augen und Haaren passiert?»
Das Mädchen versteht nicht. Aber Andres lacht leise.
«Sie leuchten silbern im Vollmondlicht. So war es auch bei deiner Mutter. Du besitzt wahrhaftig ihre Magie.»
Silàn fährt sich mit der Hand durch ihr langes Haar. Tatsächlich, es leuchtet fast genauso silbern wie jenes von Silmira. Aber im Moment hat sie dafür keine Zeit, sie will so schnell wie möglich zum Tor zurückkehren. Deshalb ist sie schon wieder unterwegs und wiederholt über die Schulter ihre Bitte.
«Kommt, ich möchte euch etwas zeigen.»
«He, warte auf uns.»
Angie blickt ihr überrascht nach und folgt ihr eilig. Silàn ist zu aufgeregt, um stehenzubleiben. Sie eilt einige Schritte voraus zu den großen Eichen. Der Spiegel ist noch offen. Silàn erkennt im Mondlicht Silmiras Silbergestalt bereits von Weitem, neben ihr A'shei, der aufspringt, sobald er sie kommen sieht. Silàn hält ganz knapp vor dem Spiegel an und reicht ihm durch das Tor hindurch die Hand. So kann sich nichts verändern, sie steht in dieser Welt, der Junge drüben. Ihre Hände berühren sich am Übergang.
Silàn lächelt A'shei kurz zu und dreht sich dann mit strahlenden Silberaugen zu Andres und Angie um, die einige Schritte entfernt stehen bleiben, um die Szene ungläubig betrachten.
«Ich möchte euch A'shei, Silmira und die Xylin vorstellen. Der Spiegel ist zerbrochen, es gibt wieder ein Tor zwischen unseren Welten.»
Andres tritt zögernd einen Schritt näher und verbeugt sich dann etwas steif vor Silmira.
«Silmira. Ich habe viel von dir gehört, Seherin der Nsilí. Es freut mich, dich kennenzulernen.»
Die Augen des Mondlichts weiten sich. Silàns Magie übersetzt die Worte unbemerkt von allen Beteiligten, mit Ausnahme von Silmira. Aber sie verzichtet im Moment darauf, dieses Phänomen zu ergründen. Sie blickt Andres ernst an.
«Du bist derjenige, den Tanàn liebte. Deinetwegen verließ sie unsere Welt!»
Andres senkt kurz den Kopf. Aber dann blickt er wieder auf und schaut Silmira direkt in die Augen.
«Ich verstehe, dass du mir Vorwürfe machst, Silmira. Aber du musst wissen, dass ich Tanàn wirklich liebte. Ich verstand damals nicht, was es für sie bedeutete, ihre Welt zu verlassen. Und nach allem, was ich inzwischen weiß, glaube ich nicht, dass ich ihr beim Öffnen des Tors hätte helfen können.»
Silmira schüttelt nachdenklich den Kopf.
«Ich mache dir keine Vorwürfe. Niemand konnte ihr mit dem Tor helfen. Ich bin froh, dass ich Tanàns Auserwählten kennenlernen darf. Sie flüsterte mit ihrem letzten Atemzug deinen Namen, Andres.»
Diesmal senkt Andres den Kopf, um seine Tränen zu verbergen. Angie umarmt ihren Vater und Silàn fasst ihn mit ihrer freien Hand tröstend am Arm. Ihre Stimme versagt beinahe, als sie den Namen ihres Vaters flüstert.
«Andres...»
Silmira hebt gebieterisch eine Hand und unterbricht sie. Um ihre Lippen spielt ein trauriges Lächeln.
«Tanàn wusste, dass in deiner Welt sowohl Liebe wie auch Tod auf sie warteten. Sie wusste ebenso, dass ihre ungeborene Tochter die Hoffnung von Silita tragen würde. Sie hat dich geliebt, Andres, mehr darfst du nicht verlangen.»
«Ich verlange nichts, Silmira. Aber ich weine um Tanàn und wegen all meiner Fehler. Und um eine Tochter, die ich kaum kennenlernen konnte.»
Silàn schluckt leer, bevor es ihr gelingt, mit leiser Stimme Worte zu formulieren.
«Andres, ich weiß, dass wir zuwenig Zeit miteinander hatten. Aber ich werde euch besuchen kommen. Bitte, weine nicht, sonst fällt mir der Abschied noch schwerer.»
Andres schaut seiner älteren Tochter in die Augen.
«Ich danke dir, Silàn. Für die Wahrheiten, die du mir gezeigt hast, für deine Stärke und deinen Mut. Ich werde auf dich warten. Bitte vergiss uns nicht.»
Das Mädchen lächelt schwach.
«Wie könnte ich meine einzige Familie vergessen?»
Angie löst sich von Andres und umarmt Silàn.
«Ich werde dich sehr vermissen. Du musst regelmäßig zu Besuch kommen, sonst halte ich es nicht aus mit Stefan.»
Ihre Schwester lächelt. Angie kommt mit Stefan bestimmt klar. Aber das braucht sie ihr nicht zu sagen. Statt dessen fällt ihr etwas anderes ein.
«Grüß Thomas von mir, und sag ihm, dass ich erwarte, dass er sein Versprechen hält.»
«Was für ein Versprechen?»
Angie macht großen Augen. Ihre Neugier ist geweckt.
«Das ist ein Geheimnis... Nun, Peter könnt ihr wohl nicht von mir grüßen lassen. Ich nehme an, die Polizei wird mich suchen?»
Silàns Stimme klingt plötzlich schwermütig. Angie schaut Andres an. Dieser überlegt sich seine Antwort.
«Ja, wir werden dich als vermisst melden müssen. Wir werden ihnen sagen, dass du vermutlich abgehauen bist, nicht mit dem Leben hier klargekommen bist. Alle werden glauben, du seist in die Stadt zurückgekehrt. Sie werden dich auf eine Vermisstenliste setzen aber nie wieder finden.»
«Peter wird sich Vorwürfe machen.»
Alle drei schweigen. Andres seufzt.
«Das wird er. Wir werden für ihn da sein. Dass er wieder Arbeit und eine Freundin hat, wird ihm früher oder später darüber hinweg helfen. Mach dir deswegen nicht zu viele Sorgen. Es ist nun einmal nicht zu ändern.»
Silàn nickt betreten. Angie umarmt sie herzlich und schaut A'shei in die Augen.
«A'shei, versprichst du mir, dass du immer auf meine Schwester aufpasst?»
Sie legt eine Hand an den Spiegel, der sich für sie anfühlt wie eine kühle Glaswand. A'shei tut von der anderen Seite her das gleiche.
«Versprochen, Angelika. Ich werde für Silàn da sein. Ewig und einen Tag.»
Angie lächelt über das alte Tannaríversprechen. Die Xylin wirbeln durcheinander und lassen ihren Glockenton erklingen. Es ist alles gesagt, Zeit sich zu verabschieden.

Ein dunkler Wolkenfetzen zieht vor den Mond und taucht den Wald in Finsternis. Silàns Haar und Silmiras Gestalt verlieren ihre Leuchtkraft, die Umrisse der Xylin verblassen.
Als die Wolke weiterzieht und wieder silbernes Mondlicht auf den Weg fällt, hat sich alles verändert. Zwischen den beiden Eichen führt der Weg nach links, wie er es seit Menschengedenken tut. Am Fuß der großen Eiche am rechten Wegrand bewegt sich ein kleiner Schatten. Ist das ein Eichhörnchen? Angie fragt überrascht, was das Tierchen hier wohl so spät mache. Sind Eichhörnchen nicht tagaktiv? Andres weiß darauf keine Antwort. Die beiden stehen allein im Wald, nur das Rauschen der Blätter und der einsame Ruf eines Käuzchens sind zu hören. Sie folgen Hand in Hand dem Weg, der sie wie erwartet im Bogen zurück an den Waldrand führt. Der Vollmond scheint silbern auf die Felder. In seinem Licht machen sich Vater und Tochter schweigend auf den Heimweg.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt