Wiedersehen
A'shei setzt seine Tasche im staubtrockenen Schnee ab und wendet sich Silàn zu. Sie sind seit dem Einnachten unterwegs und im Osten wird der Horizont bereits hell. Der Atem gefriert fast augenblicklich vor seinem Gesicht, als er die Kapuze seiner Jacke zurückschiebt.
«Was denkst du, machen wir eine Pause? Die dürre Tanne da drüben gibt genug trockenes Holz, um ein Feuer zu machen.»
Silàn streift die eigene Kapuze zurück, um sich umzusehen. A'shei hat recht, dieser Platz ist gut geeignet für eine Rast. Sie setzt ihr leichtes Gepäck, den Bogen und den Köcher ab und beginnt wortlos mit dem Sammeln von Feuerholz. Rasch tragen sie einen Vorrat zusammen, den Silàn mit etwas Feuermagie auch gleich in Brand steckt. A'shei füllt Schnee in ihren kleinen Topf, um Teewasser zu schmelzen. Sein Vorrat an Kräutern geht zu Ende, es wird Zeit, dass sie ein Dorf besuchen. Er nimmt seine Jagdbeute von letzter Nacht aus und schneidet das Fleisch des Kaninchens in Streifen. Silàn steckt diese auf zugespitzte grüne Zweige und ordnet sie rings ums Feuer an. Als sie zu A'shei hinüberblickt, lächeln seine silbernen Augen sie kurz an.
Sie haben sich seit vielen Tagen wieder an den Rhythmus der Reise gewöhnt. Die kältesten Nachtstunden verbringen sie unterwegs und im Morgengrauen machen sie eine längere Rast. Meistens gehen sie dann bis um die Mittagszeit weiter und versuchen, nachmittags, wenn es am wärmsten ist, zu schlafen. Ihr Gepäck ist leicht, sie ziehen sich zum Schutz vor der Kälte alle Kleider über, die sie besitzen. Silàn trägt längst ihren Rock über den Hosen, um mehr Wärme zu speichern. A'shei fütterte mit Kaninchenfell die Kapuzen ihrer Jacken. Die Schuhe isolieren sie mit trockenem Gras besser gegen die Kälte. Silàn ist dankbar für Antims Voraussicht, ihnen gute Schuhe zu schenken.
Nach ihrem Aufbruch von Silita-Suan stellten sie fest, dass der zugeschneite Mirapass nicht mehr zu überqueren war. Stattdessen folgten sie dem schwarzen Hranòar flussabwärts, um auf direktem Weg nach Nirah zu ziehen. In der letzten Vollmondnacht ließen sie den Zusammenfluss des weißen und schwarzen Hranòar hinter sich. Damit befinden sie sich bereits in Nirah. Silàn erinnert sich mit einem Schaudern an die lange Hängebrücke, die den weißen Hranòar überspannt. Obwohl stabil gebaut und zusätzlich mit Schattenmagie verstärkt, kostete es sie enorme Überwindung, der hoch über dem tosenden Fluss schwankenden Konstruktion aus Seilen und Rundhölzern zu vertrauen und Schritt für Schritt die eindrückliche Schlucht des Hranòar zu überqueren.
Im Flusstal gibt es genügend Dörfer und Weiler, dass auch mitten im Winter der Weg befahrbar ist und dass die zahllosen Brücken unterhalten sind. Ab und zu erhielten sie von freundlichen Menschen eine warme Mahlzeit oder die Gelegenheit, einige Stunden in einem warmen Stall auszuruhen. Sie ließen sich aber nicht viel Zeit. Ihr Weg ist lang und im Schnee anstrengend. Sie wollen unbedingt rechtzeitig Ramenar erreichen.Der Ort, den Silmira als Treffpunkt wählte, liegt am Zusammenfluss des vereinigten Hranòar mit dem oberen Haon. Es gibt dort eine Schlucht, die gleich heißt, wie das Dorf an ihrem Ausgang. Der Name bedeutet ‹das Tor› und A'shei kennt viele Legenden, welche sich um diesen Ort ranken. Er erzählte Silàn unterwegs alles, an das er sich erinnert. Manches mag erfunden sein. Aber es heißt, dass es im Herzen der Schlucht eine unzugängliche Stelle gibt, wo sich bei Vollmond die Nsilí treffen. Manche behaupten, hier lebe der König der Mondlichter mit seinem Hof. Andere meinen, die Nsilí würden keinen Monarchen anerkennen sondern einen Rat, der in der besagten Schlucht tage. Nach allem, was A'shei und Silàn bei den Hrankaedí erlebten, neigen sie dazu, dieser letzten Auffassung recht zu geben. Vermutlich bot Silmira sie zum Rat der Mondlichter auf.
Zwei Tage später erreichen sie das Dorf Ramenar. Sie kommen über eine bewaldete Höhe auf freies Gelände, als sie in der Ferne dunkle Häuser erkennen, hingekauert unter der Schneelast auf den Dächern. Es geht gegen Mittag, Rauch von Herdfeuern kringelt sich über den Häusern. Leise fällt feiner Schnee, als sie zum Dorf hinuntersteigen. Alle Geräusche sind gedämpft an diesem Wintervormittag. Wenn Silàn richtig rechnet, ist dies der kürzeste Tag des Jahres, die Mitte des Winters. In wenigen Tagen ist Neumond. Zum ersten Vollmond im neuen Zyklus, also im neuen Jahr, werden sie von Silmira erwartet.
Sie erreichen das Dorf um die Mittagszeit. Auf dem Dorfplatz herrscht emsiges Treiben. A'shei meint, hier im Süden würde in dieser Jahreszeit das Lichterfest gefeiert, zur Begrüßung des neuen Jahreszyklus. Offensichtlich gehört dazu ein winterlicher Markt. Auf dem Dorfplatz stehen tatsächlich eine ganze Reihe von Wagen. Langsam nähern sie sich durch den zertrampelten und schmutzigen Schnee der Hauptstraße. Einige Kinder starren sie mit offenem Mund an, aber das ist normal, wenn Fremde einen abgelegenen Ort besuchen. Da beide die Kapuzen übergezogen haben, sind ihre schwarzen Haare für einmal nicht das auffälligste Merkmal.
Silàn sieht sich neugierig um. Falls das ein richtiger Markt ist, können sie vielleicht ihre schwindenden Vorräte ergänzen. A'shei besitzt noch mehrere Münzen, die er damals von Tòmani erhielt. Beim Gedanken an den fröhlichen Händler aus dem Norden und seine Truppe kneift Silàn die Augen zusammen. Ist das möglich oder lässt sie sich von ihren Wünschen täuschen? Sie glaubt, einen der Wagen zu erkennen. Schnell wirft sie A'shei einen fragenden Blick zu, den der Tanna mit hochgezogenen Brauen erwidert. Sie nähern sich dem Wagen von der Rückseite her und wollen gerade darum herum gehen, als eine bekannte Stimme sie innehalten lässt.
«Mila, komm sofort her. Ich habe dir gesagt, du sollst Handschuhe anziehen. Wo steckst du nun schon wieder?»
Wie ein kleiner Wirbelwind kommt ein blonder Junge um die Ecke des Wagens gerannt. Blitzschnell packt A'shei den Flüchtigen am Arm. Dieser versucht sich zappelnd loszureißen.
«Lass los!»
A'shei grinst übers ganze Gesicht, als er Mila an beiden Oberarmen packt und ihn mit ausgestreckten Armen vor sich hinhält. Die Augen des Kleinen weiten sich überrascht und suchen die Umgebung ab. Ein Strahlen breitet sich auf Milas Gesicht aus, als er Silàn erkennt.
«A'shei, Silàn, was macht ihr hier? Mama! Mama, wir haben Besuch!»
A'shei setzt den Jungen ab. Dieser packt mit einer Hand seinen Ärmel, mit der anderen Silàns Rock, um sie zurück in die Richtung zu ziehen, aus der er vorher angerannt kam. Lachend folgen sie dem aufgeregten Kind, erstaunt, wie groß Mila in der Zwischenzeit geworden ist.
Sari ist damit beschäftigt, Glaswaren auszupacken. Überrascht hält sie inne und stellt vorsichtig den zerbrechlichen Becher ab, den sie in der Hand hält.
«Silàn und A'shei! Wie kommt ihr hierher? Das ist ein glückliches Zusammentreffen!»
Herzlich schließt sie Silàn und anschließend A'shei in die Arme. Dann fragt sie sofort, wann sie das letze Mal etwas gegessen hätten und lässt sich nicht davon abbringen, ihnen eine Schale Suppe vorzusetzen. Inzwischen sind die andern Marktfahrer aufmerksam geworden und die Begrüßungen nehmen kein Ende. Nanish besteht darauf, gleich hier und jetzt sein Lied über die Durchquerung der Sümpfe des Haon vorzutragen. Silàn findet, dass es die Spannung gut einfängt, fragt ihn aber, ob er nicht auch ein fröhlicheres Stück komponiert habe. Nanish lässt sich nicht lange bitten und gibt ein Lied zum Besten, das die Gesellschaft herzlich zum Lachen bringt. Bald werden die Kinder des Dorfes auf die fröhliche Gruppe aufmerksam und auf dem Marktplatz entsteht spontan ein kleines Fest.
A'shei sieht dem Treiben lächelnd zu. Es ist gut, unter Freunden zu sein. Er wendet sich an Sari.
«Wo sind Tòmani und Fenesh?»
«Drüben beim Dorfrat. Sie verhandeln darüber, wie lange wir bleiben können. Ramenar ist ein guter Platz, um die kälteste Jahreszeit zu verbringen.»
Silàn stellt ihren geleerten Teller zur Seite und nimmt Mila auf den Schoß. Der Junge strahlt sie an, glücklich, seine liebste Geschichtenerzählerin wieder zu haben. Fragend wendet sich die junge Frau an seine Mutter.
«Ist Dánan noch bei euch? Vielleicht kann sie mir mit einem Rätsel helfen.»
«Ja, dieses Jahr sind wir zusammengeblieben. Ich glaube, die Erlebnisse beim großen Fluss hatten damit zu tun. Dánan kümmert sich in dem Haus da drüben um eine schwangere Frau. Sie ist eine gute Heilerin.»
Silàn zaust Mila das Haar, ihr Gesicht ist aber nachdenklich. Sie lernte die Macht der Schattenwandlerin persönlich kennen und schätzen. Das ist der Grund, weshalb sie die Schrift aus der Höhle mit ihr besprechen möchte. Unwillkürlich tastet sie nach dem Stein, den sie in der Innentasche ihrer Jacke trägt. Sie zeigte ihn bisher einzig A'shei, der wie sie der Meinung ist, darin sei mächtige Magie gespeichert.
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Silàn
FantasyBettina öffnet unwissentlich das Tor zur Welt ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat. Noch ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Während der nette Junge A'shei ihr den Weg in eine Welt voller Magie und Geheimnisse weist, hat die Magierin Femolai sic...