2-12 Durch Kelèn

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Durch Kelèn

Am Morgen scheint die Sonne strahlend durch das kleine Fenster. Silàn streift die Decke zurück und steht geräuschlos auf. Es ist inzwischen ungewohnt, unter einem Dach zu schlafen. Um sie herum erwachen die Mitglieder von Tòmanis Familie. Im Gasthaus waren gestern nur drei Zimmer frei, in die sich die ganze Gruppe teilt. Eigentlich wollten Silàn und A'shei bereits letzte Nacht weiterziehen, aber Sari und Dánan ließen das nicht gelten. Da sich bei ihrem Eintreffen bereits einige zum Schlafen zurückgezogen hatten, bot sich nicht einmal Gelegenheit, sich richtig zu verabschieden. Schließlich überzeugten sie die beiden davon, mindestens bis zum Morgen zu bleiben. A'shei war dankbar für eine weitere ruhige Nacht und Silàn kletterte durch das kleine Fenster auf das Dach, um Mondlicht zu sammeln, gedankenverloren mit ihrem Armring und dem Mondbaumblatt zu spielen und an Andres und Angie zu denken. Erst kurz vor Sonnenaufgang legte sie sich etwas hin.

Die Händler wollen heute auf dem Marktplatz ihre Waren anpreisen. Sie werden einige Tage bleiben, denn immer zum Neumond am Ende des Sommers treffen sich in Zalkenar Menschen aus allen Teilen des Reiches, um Handel zu treiben. Bis dahin dauert es noch einige Tage, aber bestimmt lässt sich bereits jetzt das eine oder andere gute Geschäft abwickeln.
Obwohl sie eine Weile mit der Gruppe unterwegs waren, hatten Silàn und A'shei noch nie Gelegenheit, die Waren ihrer Freunde zu sehen. Es braucht deshalb nicht viel Überredungskunst, den Abschied noch etwas hinauszuschieben. Sie helfen mit, Stände aufzubauen und Waren auszubreiten. Die Schattenwandlerin Dánan verkauft Heilmittel und Tee, wie es in ihrer Gilde üblich ist. Ein älteres Paar handelt mit Tuch, Nanishs Eltern sind spezialisiert auf kleine Glocken und Musikinstrumente. Es gibt einen Stand mit farbenfroh dekoriertem Geschirr, einen mit kunstvoll verzierten Lederwaren, einen Messerhändler und -schleifer, eine Frau bietet Pflanzenöl und Kerzen an. Tòmani und Sari betreiben Geschäfte mit Gläsern und Muscheln aus dem fernen Norden. In kurzer Zeit entsteht aus den unförmigen Bündeln auf den Wagen ein vollständiger kleiner Markt. Alle sind fröhlich und in ihrem Element, vergessen die Ängste der Nächte im Sumpfland. Tòmani beobachtet seine beiden Gäste mit einem Schmunzeln.
«Wir möchten, dass ihr euch etwas aus unserem Angebot auswählt, als Dank für die Hilfe, welche ihr uns auf der Reise gewesen seid.»
A'shei und Silàn schauen sich nur kurz an. Sie kennen ihre gegenseitigen Gedanken.
«Vielen Dank, Tòmani. Aber ihr wart uns genauso Hilfe wie wir euch. Wir würden gerne weiter mit euch ziehen, aber euer Weg führt von hier nach Süden und unserer nach Westen. Es ist Zeit, dass wir uns trennen.»
Mit diesen Worten reicht A'shei dem Anführer der Händler die Hand. Tòmani schaut ihm fest in die Augen und drückt ihm einen Beutel mit Münzen in Hand.
«In diesem Fall nimm das hier. Ich möchte nicht, dass ihr in den Sümpfen von Dunkelheiten überrascht werdet. Nehmt ein Zimmer, statt euch in Gefahr zu begeben.»
A'shei runzelt die Stirn. Aber dann bedankt er sich herzlich und steckt den Beutel ein. Mila, der dem Austausch zuhört, reißt sich von Sari los rennt zu Silàn.
«Du darfst nicht gehen, Silàn, du musst mir noch viele Geschichten erzählen.»
Silàn umarmt ihn.
«Ich werde dich auch vermissen, Mila. Aber ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen.»
«Wann?»
Wie immer fordert der Junge zielstrebig eine Antwort. Silàn zerzaust ihm das blonde Haar.
«Wenn die Zeit dafür reif ist. Ich kann nicht in die Zukunft sehen, Mila. Dazu braucht es mehr als silberne Augen.»
Sari nimmt ihren Sohn in einen Arm und drückt mit dem anderen zuerst Silàn und dann A'shei wortlos an sich. Nach ihr kommen Fenesh, Nanish und alle anderen. Zuletzt umarmt Dánan das Mädchen und wendet sich dann an A'shei.
«Eine Frage musst du mir erlauben, junger Schattenwandler. Kennst du die Namen deiner Eltern?»
«Antim sagt, He'sha und Orinai. Für mich sind das nur Namen.»
Dánan legt eine Hand vor den Mund.
«Du bist A'shei-te-naorim, Stern-der-in-den-Himmel-fällt. Silàn Silberhaar und A'shei Sternenwanderer. Hoffnung lebt zwischen Mond und Erde.»
A'shei blickt die Tanna nachdenklich an und nickt schließlich.
«Auf ein glückliches Wiedersehen, Dánan, gib gut auf unsere Freunde acht.»
Damit schultern sie ihre Tragetaschen und nehmen mit langen Schritten ihre Reise wieder auf.
Tòmani schaut ihnen gedankenverloren nach. Dann stellt er leise eine Frage, die nur die Tanna und Sari hören können.
«Was war das, Dánan?»
«A'shei ist der Sohn von He'sha, dem ungekrönten König der Tannarí. Und Silàn - du kennst die Geschichte des Hauses Silita.»
«Der Prinz der Dämmerung und die Prinzessin der Nacht?»
«Nein, die Hoffnung eines Landes.»

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt